Gunther Geltinger: Benzin

Buch

Im Dunkeln Fußgänger anzufahren, kann das Leben verändern: In ihrem Bestseller „Löwen wecken“ (2015) erzählt die israelische Autorin Ayelet Gundar-Goshen, wie ein Chirurg einen illegalen Einwanderer überfährt und dadurch für kurze Zeit Anteil am Schicksal der Migranten nimmt. Gunther Geltinger („Mensch Engel“, 2008; „Moor“, 2013) stellt das Szenario auf den Kopf: Zwei schwule Touristen fahren in Südafrika einen jungen Schwarzen an, der überlebt und sich zu einer Art Katalysator entwickelt – für das Verhältnis der Deutschen zu dessen Heimat und für die Beziehung der Reisenden zueinander. Detlef Grumbach hat den Roman „Benzin“ gelesen.

Mit Anhalter durch Südafrika

von Detlef Grumbach

Alexander und Vinz sind nach Südafrika aufgebrochen. Die Route ihrer Urlaubsreise ist festgelegt, der Mietwagen gebucht, die Unterkünfte sind reserviert. Das fremde Land, eine mal faszinierend, mal bedrohlich wirkende Natur und miese Straßenverhältnisse abseits der Hauptstraßen, Linksverkehr und die abrupt einsetzende Dunkelheit: Anders als erwartet fahren sie „auf den Abgrund zu“.

Von A wie Alexander bis Z wie Vinz (am Ende), in 25 Kapiteln entlang des Alphabets erzählt Gunther Geltinger von seinen beiden Hauptfiguren, die in der (Midlife-)Krise stecken, und besonders von Vinz, dem Schriftsteller, dem die Idee und der Stoff für seinen dritten Roman fehlen. Beides hängt miteinander zusammen, denn Vinz, das Alter ego des Autors, gehört zu den „autofiktionalen Bekennern“ in der Literatur, gewährt in seinen Romanen „bis zum Ehevollzug Einblick ins Innere seiner Beziehungen“. Alex und Vinz wurden während der Aids-Krise als Schwule sozialisiert, haben die Kämpfe gegen § 175 und für die Homo-Ehe begleitet und sind nun in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Sie tragen aber noch die Erinnerung in sich, dass sie der Heteronormativität eines Ehelebens einmal etwas Eigenes hatten entgegensetzen wollen. Deshalb schauen sie ein bisschen überheblich auf das befreundete Paar Alf und Bernd hinab, das sich allzu bieder und vernünftig in seiner Kleinbürgerlichkeit eingerichtet hat. Sie leben in einer offenen Beziehung, haben sich klare Regeln für ihre Sexkontakte gegeben, doch Vinz hat eine Grenze überschritten und sich in Manuel verliebt. Werden die beiden die Krise überstehen? Von A bis Z? Das Ende bleibt offen, das Kapitel „Z“ fehlt.

Gunther Geltinger – Foto: Jürgen Bauer

Vinz hat schon zwei Romane über seine Beziehung zu Alexander veröffentlicht, der Verlag sitzt ihm im Nacken und fordert den dritten, die Fortsetzung. Inzwischen ist jedoch die Distanz zwischen ihm und Alex gewachsen, und bedroht beides, ihre Beziehung und seine Existenz als Autor. Der Urlaub in Südafrika soll neue Impulse bringen. Doch kaum unterwegs, fahren sie in der Dunkelheit einen Schwarzen an. Sollen sie ihn liegenlassen und weiterfahren? Sich um ihn kümmern, ihn mitnehmen bis zum nächsten Dorf, in ein Krankenhaus bringen? Der Fremde erscheint ihnen unheimlich. Ist er wirklich so stark verletzt, dass er Hilfe benötigt? Übertreibt er, um aus der Situation einen Vorteil herauszuschlagen? Ist seine Freundlichkeit nur gespielt? Sie lassen ihn einsteigen. Sie beobachten ihn. Er beobachtet sie. Wird er sie bestehlen, erpressen, sogar töten? Sollten sie sich seiner besser entledigen? Wer trägt hier welche Schuld und Verantwortung? Was tun wir jetzt? Alexander und Vinz sind so vertraut miteinander, dass jeder weiß, was der andere denkt. Doch sie reden nicht. Sie fahren weiter und weiter. Vinz will die Victoria-Wasserfälle sehen – warum, erzählt Geltinger in anrührenden Rückblicken in die Kindheit. Unami, so der Name des Schwarzen, wird ihr Führer und Begleiter. Werden sie das Ziel erreichen? Bleiben sie zusammen? Stoff genug für einen Roman. Ob Vinz ihn schreiben wird?

„Engel schreibt:“ – mit diesem programmatischen Satz begann das Debüt des 1974 geborenen Gunther Geltinger, der Coming-of-Age-Roman „Mensch Engel“ (2008). Und er endet mit demselben Satz, wieder mit einem Doppelpunkt versehen. Schreiben ist leben und leben ist schreiben, das gilt für den Autor wie für seine Figur. In seinem zweiten Roman, „Moor“ (2013), kehrt er in die Kindheit seines Protagonisten zurück; „Benzin“ nennt Geltinger seinen dritten Roman. Die Geschichte eines Schriftstellers in einer Schreib- und eines Paares in der Beziehungskrise, ein geplanter Roman des Protagonisten innerhalb des Romans – das klingt nach Innerlichkeit und Selbstbespiegelung. Um Innerlichkeit geht es bei Geltinger, doch gelingt es ihm auf beeindruckende Weise, diese Innerlichkeit im Spiegel des Äußeren zu zeigen, in diesem Road-Movie durch ein Land, das auf Europäer fremd, undurchschaubar, gefährlich und faszinierend wirkt. Geltinger findet seine Bilder in einer fantastischen Natur, im spannungsgeladenen Verhältnis der beiden Touristen zu einer tief gespaltenen Bevölkerung, in ihrem schwarzen Begleiter, der sich wie eine Klette an sie hängt – den sie brauchen, um zu überleben, und der sie zugleich mit der Bedrohung durch Aids in Verbindung bringt. „Benzin“: der Titel des Romans steht für den Treibstoff ihres Vorwärtskommens, zugleich aber auch für die tödliche Bedrohung, wenn ein Mensch, ganze Dörfer oder die Ernte niedergebrannt werden.

Mal sieht Vinz das äußere Erleben als Stoffsammlung für seinen geplanten Roman, mal dienen die bereits geschriebenen Romane als eine Art Beglaubigung dafür, wie Alex und Vinz denken, fühlen und handeln. Geltingers Erzählweise oszilliert zwischen realistischem Erzählen und der Meta-Ebene einer streng komponierten literarischen Konstruktion. „Das Erzählen beginnt“, so heißt es über Vinz ziemlich am Ende des Romans, „sobald er die Wirklichkeit, die ihn umgibt, rückwärts liest, nicht vom Glauben an ihre unabänderliche Gültigkeit, sondern vom Verdacht her, dass sie ihn zu täuschen versucht.“ Alles bleibt in der Schwebe. Wahrheit gibt es nicht.

Geltinger erzählt detailreich, gut recherchiert und spannend wie ein Krimi, hält seine Konstruktion durch und leistet sich ironische Einsprengsel über die Situation eines Schriftstellers im deutschen Literaturbetrieb. Die Geschichte übt einen Sog aus, dem man sich nur schwer entziehen kann. Und doch gibt es Wermutstropfen. Geltinger übertreibt es mit der expliziten Rückkopplung der Ereignisse an die Meta-Ebene seiner literarischen Konstruktion. So hatte Vinz sich zuhause in Manuel verliebt. Wann immer er sein Smartphone auf Nachrichten des Geliebten checkt, lesen wir dessen Alias I_manu. Sein Freund Alex dagegen ist auf besondere Weise von Unami, ihrem schwarzen Begleiter, fasziniert, fühlt sich verantwortlich für ihn. Beide, I_manu und Unami, verkörpern das Bedrohliche, das in die Beziehung von Vinz und Alex einbricht, ihnen den Boden unter den Füßen wegzieht. Das würde man auch begreifen, wenn der Name des einen rückwärts gelesen nicht der des anderen wäre. Aber gut. Nur das man fast am Ende des Romans auch noch demonstrativ auf den Zusammenhang hingewiesen wird, wenn Vinz die Mailadresse Unamis notiert, ist wirklich nicht nötig. Ist es die Lust an seinem literarischen Spiel, die Geltinger zu solchen Manierismen verleiten? Traut er seinen LeserInnen nicht zu, die Konstruktion des Romans zu durchschauen und genießen zu können, ohne immer wieder mit der Nase darauf gestoßen zu werden? Hin und wieder wünscht man dem Autor ein durchsetzungsfähiges Lektorat, das ihn bremst.

Doch trotz dieses Einwands ist Gunther Geltinger einer der wichtigsten schwulen Autoren der Gegenwart. Er rührt ans „Eingemachte“ einer schwulen Existenz, die geprägt von den Verletzungen in ihrer Kindheit und Jugend ihren Weg sucht zwischen den Erwartungen und Freiheitsversprechungen der sexuellen Emanzipation und den Einschränkungen, die die Aids-Krise und der Normalisierungsdruck durch Homo-Ehe und bürgerliche Anerkennung ausüben. Vinz und Alex wollten vorbauen, ihre Beziehung, ihr Glück absichern. Sie hatten ihre Vereinbarungen: nie ohne Kondom und nie bei einem Sexpartner über Nacht bleiben. Es hat nicht geholfen. Vinz ist in Manuel verliebt. Und auch Alexander stellt sich irgendwann die Frage, ob er „es noch kann. Dich verlieben?, will Vinz erwidern, doch Alexander sagt im selben Moment: Unvernünftig sein.“




Benzin

von Gunther Geltinger
Gebunden mit Schutzumschlag, 377 Seiten, 24 €,
Suhrkamp

Am Freitag, 10. Mai, liest Gunther Geltinger um 20:30 Uhr in der Berliner Buchhandlung Prinz Eisenherz aus „Benzin“. Weitere Infos zum Termin gibt es hier.

Gunther Geltinger hat auch schon für die sissy geschrieben. Hier geht es zu seinen Texten.

 

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