Cunningham

Trailer Kino

Der US-amerikanische Tänzer und Choreograf Merce Cunningham (1919-2009) gilt dank seiner wagemutigen Tanz-Experimente als einer der visionärsten und einflussreichsten Bewegungskünstler der Welt. Im 3D-Dokumentarfilm „Cunningham“ verbindet die Regisseurin Alla Kovgan die Biografie des Künstlers, der eine enge Arbeits- und Liebesbeziehung mit dem Komponisten John Cage führte, mit Darbietungen seiner Choreografien. Andreas Köhnemann hat sich von der kreativen Bilderfülle und der inszenatorischen Dynamik mitreißen lassen.

Foto: Camino Filmverleih / Mko Malkhasyan

„Ich bin Tänzer!“

von Andreas Köhnemann

Ein langer, hell ausgeleuchteter Tunnel mit weiß schimmernden Keramikfliesen. Die Kamera fährt langsam auf einen Solotänzer zu, der sich den Raum über dynamische Bewegungen, mit schwingenden Armen und Beinen erschließt. Wir hören, wie dessen Füße rasch über den Boden schleifen. Als sich der Tänzer in seine Abschlussposition begibt, werden Kamerafahrt und Zoom kombiniert, sodass es zum sogenannten „Vertigo-Effekt“ kommt: Die gegenläufigen Bewegungen der Kamera erzeugen ein sogartiges Schwindelgefühl.

Dann ein harter Schnitt: Luftaufnahmen von New York City, eine Gruppe von Tänzer*innen in bunten Catsuits auf der Dachterrasse eines Hochhauses. Sie wirken wie Spielzeugfiguren, die allmählich zum Leben erwachen, während die Kamera das Gebäude umkreist. Und noch einmal ein Schauplatzwechsel: Ein Duo tanzt in farblich passenden Kostümen durch einen Raum in impressionistisch-warm anmutendem Camouflage-Muster. Abermals sind die Berührungen der Füße mit dem Boden und sogar der Hände mit dem Körper deutlich zu vernehmen. Die Kamera ist mittendrin; sie tanzt energisch mit dem Paar mit, statt die tänzerische Darbietung der beiden lediglich ungerührt abzufilmen.

Unterdessen ist via Voice-over bereits der Protagonist des Films zu hören. Er sei nie an einer Form des Tanzes interessiert gewesen, die auf eine Stimmung oder auf ein Gefühl verweise oder die nur der dazu gespielten Musik Ausdruck verleihe, erklärt der Tänzer und Choreograf Merce Cunningham (1919-2009). Der Tanz sei einfach, was er ist – eine visuelle Erfahrung. Die Filmemacherin Alla Kovgan trägt diesem Gedanken in „Cunningham“ Rechnung. Wie schon Wim Wenders in „Pina“ (2011) nutzt sie die 3D-Technik, um den verschiedenartigen Bühnen Tiefe zu geben und den Tänzer*innen so nah wie möglich zu kommen. Insgesamt 14 Tänze, die Cunningham zwischen 1942 und 1972 entwickelt hat, setzt Kovgan mit ihrem Kameramann Mko Malkhasyan in Szene – mit zwölf Tänzer*innen aus der letzten Generation der zwei Jahre nach Cunninghams Tod aufgelösten Company des Meisters.

Foto: Camino Filmverleih / Mko Malkhasyan

Zu den weiteren Orten, an denen sie tanzen, zählt ein Flughafen-Terminal (samt Fluglärm), ein städtischer Platz (samt Passant*innen) und ein dichtes Waldstück (samt Naturgeräuschen). Bei einem der Tänze werden Außen- und Innenraum audiovisuell miteinander verbunden – durch Hin- und Herblenden zwischen einem grünen, von Vogelgezwitscher durchdrungenen Park und einem lichtdurchfluteten Tanzstudio, durch dessen Fenster der Park im Hintergrund sichtbar bleibt. An anderer Stelle schwebt die Kamera zwischen den sich roboterhaft bewegenden Tänzer*innen und den einst von Andy Warhol entworfenen Silver Clouds durch einen schwarzen Raum.

In all diesen Passagen werden Cunninghams künstlerische Überzeugungen klar erkennbar. Etwa dass es nicht darum geht, etwas zu interpretieren, sondern etwas zu präsentieren. Dass eine Kombination von alltäglichen und virtuosen, von fließenden und abrupten Bewegungen fruchtbar ist. Und dass Musik und Tanz trotz gleichzeitiger Darbietung unabhängig voneinander existieren können. „Cunningham“ ist damit zum einen eine Hommage an den titelgebenden Künstler, die dessen Lust, Dinge auszuprobieren und mit den unterschiedlichsten Methoden zu experimentieren, kinematografisch aufgreift und fortführt.

Foto: Camino Filmverleih / Martin Miseré

Zum anderen ist der Film ein dokumentarisches Porträt. Kovgan setzt Archivaufnahmen ein, um Cunninghams Werdegang von den beschwerlichen Anfängen im New York der 1940er Jahre bis hin zur aufsehenerregenden Arbeit mit der Cunningham-Company in den 1970er Jahren nachzuzeichnen. Dessen Kunst- und Selbstverständnis wird dabei auch direkt formuliert: Er sehe sich weder als Avantgarde- noch als Modern-Dance-Choreograf, meint Cunningham – er sei ganz einfach ein Tänzer.

Neben Cunningham, der in Interviews zu hören ist, kommen diverse Vertraute zu Wort, die mit ihm in besagter Zeit zusammengearbeitet haben. Die Liebes- und Arbeitsbeziehung zum Komponisten John Cage (1912-1992) wird nicht nur über Fotografien, die das Paar zeigen, sondern auch über den Briefwechsel zwischen den beiden geschildert. „August 17, 1944 – When are we going to be together?“ wird da etwa auf einen Abschnitt der Leinwand getippt. In ihrer Anmutung moderner Kurznachrichten haben diese Auszüge etwas äußerst Gegenwärtiges. Sie kommen nicht als angestaubte Zeitdokumente daher, sondern als sehr persönliche Einblicke.

Foto: Camino Filmverleih / Robert Rutledge

Kovgans Art der Aufbereitung ihres Materials ist in vieler Hinsicht bemerkenswert. Fotografien überlagern sich und werden zu Collagen. Sie werden beschrieben – sowohl horizontal als auch vertikal. Eingegebene Worte werden durchgestrichen und „handschriftlich“ korrigiert, alte 16mm-Aufnahmen innerhalb des Bildes noch einmal auf eine Leinwand projiziert. Es gibt Split-Screen-Momente, animierte Zeichnungen, verlesene Zitate aus Cunninghams Buch „Changes: Notes on Choreography“ sowie Kritzeleien, die den Entstehungsprozess von Choreografien und das Reflektieren Cunninghams visualisieren. Das wirkt manchmal etwas überladen, macht den porträtierenden Teil des Films aber auch zu weitaus mehr als einem abgefilmten Wikipedia-Artikel, der die eindrücklichen Tanzszenen um die wichtigsten biografischen Informationen ergänzt. Vielmehr lässt uns Kovgan durch ihre Inszenierungsweise die Fülle von kreativer Energie spüren – und verdeutlicht, ganz in Cunninghams Sinne, die Gleichzeitigkeit und Unordnung der Dinge im Leben (und in der Kunst), der eine allzu brave, stets völlig überschaubare und erwartbare Anordnung niemals gerecht werden könnte.




Cunningham
von Alla Kovgan
DE/FR/US 2019, 87 Minuten, FSK 0,
deutsche SF & englische OF mit deutschen UT,

Camino Filmverleih

Ab 19. Dezember hier im Kino.

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