Chanson der Liebe

TrailerDVD/VoD

Paris, 10. Arrondissement. Ismaël und Julie sind seit Jahren ein Paar, doch in der Beziehung kriselt es. Um neuen Schwung zu bekommen, holen sie sich Alice dazu – aber auch das Modell Ménage-à-trois will nicht so richtig funktionieren. Als Julie unerwartet an Herzversagen stirbt, weiß Ismaël nicht wohin mit seiner Trauer. Erst die Begegnung mit dem jungen, hübschen Bretonen Erwann bringt ihn auf andere Gedanken. Christophe Honorés hochromantisches Musical „Chanson der Liebe“ mit Louis Garrel, Ludivine Sagnier und Chiara Mastroianni ist eine wunderbare Hommage an Paris, die Filme der Nouvelle Vague und vor allem Jacques Demys Meisterwerk „Die Regenschirme von Cherbourg“. Esther Buss über einen Klassiker des jungen französischen Kinos mit herzzereißend trauerenden, singenden und tanzenden Liebenden, den es jetzt neu als DVD und VoD gibt.

Foto: Salzgeber

Cry Me a River

von Esther Buss

Im Kino läuft ein Film von Vincent Dieutre, aber Julie geht in einen von Maïwenn. Mit ihrer Wahl kann sie ihren Freund Ismaël allerdings nicht dazu bewegen, alles stehen und liegen zu lassen und doch noch zu kommen.„Mit diesem Film tust du mir echt etwas an“, klagt er vom Redaktionsbüro aus am Telefon, während er seine Kollegin Alice anflirtet. Hinter dem Titel des Films, den sich Julie nun also notgedrungen allein ansehen muss, verbirgt sich wie so oft bei Christophe Honoré eine versteckte Botschaft: „Pardonnez-moi“.

„Chanson der Liebe“ (2007) beginnt mit Szenen aus dem Pariser Alltag: das 10. Arrondissement, die Stadt erwacht, der Blick fällt auf Straßen, Autos, Lieferwägen, die Waren ausladen, Menschen, die unterwegs sind, ein paar Wohnungslose und ihre improvisierten Schlafstätten, ein Friseursalon. Es dauert jedoch nicht lange, bis das Kino in den Film tritt: nicht als konkreter Ort, sondern als kulturelles Reservoir und Vergangenheitsspeicher, ein Raum von Gefühlen, die mit anderen Filmen wie mit der Gegenwart kommunizieren, ein Raum, der überfilmische Wirkung entfaltet. Als Julie auftritt, ist sie unmittelbar als eine Wiedergängerin von Geneviève erkennbar, jene von Catherine Deneuve gespielte unglückliche Verkäuferin aus Jacques Demys „Die Regenschirme von Cherbourg“ (1964). Es braucht dafür nur wenige Zeichen: ein weißer, zweireihig geknöpfter Kurzmantel mit großen Knöpfen und das aus dem Gesicht gekämmte lange blonde Haar von Ludivine Sagnier. Und kaum ist sie vom Kino auf die Straße getreten, überrascht Ismaël (Louis Garrel) sie auch schon singend.

„Chanson der Liebe“ ist wie Demys Film ein Musical. Aus „Die Regenschirme von Cherbourg“ übernommen wurde auch die Dreiaktstruktur, einschließlich der Kapitelüberschriften: „Die Abfahrt“, „Die Abwesenheit“ und „Die Rückkehr“. Die Geschichte, die erzählt wird, ist jedoch anders als die lose Vorlage kein Klassendrama, gearbeitet wird nicht in Geschäften und Werkstätten, sondern in den eigenen komplizierten Gefühlswelten. Es geht um Beziehungsarbeit, mehr noch um Trauerarbeit.

Julie und Ismaël leben seit ein paar Monaten in einer Ménage-à-Trois mit Alice (Clotilde Hesme). Sie lieben sich noch immer innig, aber wirklich glücklich sind sie weder zu zweit noch zu dritt. Dabei sind Julie und Ismaël kein tragisches Liebespaar – die Tragödie tritt später ein. Aber in ihre Beziehung hat sich ein gewisser Überdruss eingeschlichen, auch ein Gefühl von Genervtheit und Langeweile. In ihrem ersten Duett ringt sich Ismaël ein etwas verstelltes Liebesbekenntnis ab: „Ich wüsste nicht, warum ich dich nicht lieben sollte“, singt er. In der Wohnung angekommen beschwert sie sich über Haare in der Dusche und träumt sich zurück in die Anfangszeit: „Nichts ist geheim, alles verhallt.“ Als Julie vorbeikommt (mit Pyjama!), setzen sich die Unzufriedenheiten im Bett fort. Positionen werden gewechselt. Nicht beim Sex, dazu kommt es erst gar nicht, dafür bei der Bettlektüre, wie in François Truffauts Filmklassiker „Tisch und Bett“ (1970). Jede:r vertieft sich isoliert in seine/ihre vielsagende Lektüre: Ismaël liest James Salters „Un bonheur parfait“ („Ein perfektes Glück“, dt. Titel „Lichtjahre“), Julie A.L. Kennedys „Volupté Singulière“ („Singuläre Lust“, dt. Titel „Gleißendes Glück“), Alice ein Buch von Adam Thirwell: „Politique“.

Foto: Salzgeber

Dass Honorés Film trotz seiner zahlreichen Anspielungen auf die französische Filmgeschichte – Louis Garrel wirkt vor allem in seinen abrupten Wechseln von Kasperei zu Ernsthaftigkeit mitunter wie ein Doppelgänger des jungen Jean-Pierre Léaud – mehr als eine Feier der Nouvelle Vague und im Besonderen der Singspiele Jacques Demys ist, zeigt sich spätestens am Ende des ersten Teils. Während eines Konzerts, das die „Dreierbande“ in einem Club besucht, versagt ganz plötzlich Julies Herz. Schwarz-Weiß-Fotos von der auf einer Rettungsbahre liegenden Toten durchbrechen den Handlungsfluss. Das Leben bleibt stehen – nicht nur für Julie, sondern auch für Ismaël, für Alice, für Julies Familie, besonders auch für ihre Schwester Jeanne (Chiara Mastroianni), deren Einsamkeit und Verlorenheit Honoré viel Raum gibt.

Das überfordernde Durcheinander von Schmerz, Betäubung und Verwirrung, das der Tod im Leben der Zurückgelassenen anrichtet, ist im Werk von Christophe Honoré ein zentrales Motiv. In seinem jüngsten Film „Der Gymnasiast“ (2022) erzählt der Regisseur ausgehend vom eigenen Vater, dessen früher Tod wie eine Naturkatastrophe über den Teenager Christophe hereinbrach,  von einem Siebzehnjährigen, der im Gefühlsstrudel unterzugehen droht. „Sorry Angel“ (2018) ist eine Rekapitulation der 1990er-Jahre und ihrer schmerzhaften Verluste, die die Krankheit Aids im Leben schwuler Männer hinterließ. Die Liebe und das gelebte, leidenschaftliche oder auch nicht ausgelebte Begehren sind in den Erzählungen Wege, die in der Trauer unbedingt begangen werden wollen – nicht aus der Trauer heraus, eher „mit“, an ihrer Seite. Dabei behandelt Honoré den Tod ohne Sentimentalität und Schwere, der Ton ist eher unbekümmert, mitunter romantisch.

Spielerisch und fast schon fluffig wirkt der Umgang mit dem Abschied in „Chanson der Liebe“, der anders als der Film von Demy, auch musikalisch federleicht daherkommt. Die eher dünnen, hübschen Melodien der insgesamt 13 Lieder (die Kompositionen stammen von Alex Beaupain) werden mit ungeschulten, gelegentlich auch ein wenig windschiefen Stimmen gesungen. Anfangs nah am Schlager, wird die Musik gegen Ende voller, rockistischer, auch ein wenig dunkler. Wie so oft bei Honoré ist der erste Eindruck, sind die Oberfläche, der Look, aber auch ein wenig tückisch. Denn tatsächlich ist nicht nur hinter den ein wenig schrägen, mit hintergründiger Ironie geschriebenen Texten eine tiefe Traurigkeit verborgen.

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Der zweite und dritte Teil, „Die Abwesenheit“ und „Die Rückkehr“, erzählen von dem unterschiedlichen Umgang mit dem Verlust. Ismaël zieht sich in sich zurück, verpuppt sich; Alice lässt sich, zumindest vorübergehend, auf eine neue Liebe ein; Julies Eltern und ihre Schwester suchen Ismaëls Nähe, wollen ihn in die Familie eingemeinden, was der mit leicht theatraler Arroganz abwehrt – eine Mischung, wie sie so vielleicht nur der Schauspieler Louis Garrel zu spielen vermag. Erst als sich der angehende bretonische Abiturient Erwann (Grégoire Leprince-Ringuet) Zutritt in Ismaëls Leben verschafft – hartnäckig läuft er ihm hinterher, lässt sich durch nichts abschrecken, kaum weggeschickt steht er schon wieder da –, beginnt sich Ismaëls Verhärtung zu lösen. Honoré inszeniert die Begegnung der beiden Männer mit großer Zärtlichkeit und der für seine Filme charakteristischen Verbindung von Melancholie und Sturm und Drang. Es sei ein „zweiter Tod“, singt Ismaël, bevor sie das erste Mal miteinander schlafen. Und er zögert, bevor er sich nach einem „Wozu das Heulen und Schluchzen in Kissen?“ von dem Geliebten forttragen lässt – „Nichts ist mehr traurig, nichts ist mehr schwer“.

Aber natürlich ist es nicht einfach, sich durch die Trauer zu winden, nicht für ihn und auch nicht für Jeanne. Auch sie versucht Ismaël näher zu kommen, taucht immer wieder in seiner Wohnung auf, besetzt den Platz, der nun schmerzhaft leer ist – und wird in ihrer Suche nach Trost schroff abgewiesen. Für Erwann und seine jugendliche Unerschrockenheit zeigt sich Ismaël dagegen empfänglich. Als er auf dem Friedhof ein letztes Mal Julie begegnet, kann er endlich ins Leben zurückkehren.

Honoré verbindet Leben und Kino, Realismus und Überhöhung. Die Grenzen aber bleiben immer durchlässig, auch in den größten Gesten, dem emphatischsten Gesang wird die alltägliche Außenwelt nie zur Kulisse. Einmal irrt Ismaël, im Cherbourg-gelben Pullover, ziellos durch die nächtlich beleuchteten Straßen, als ihm gleich mehrere Neonschriftzüge ins Auge springen: „Yes! It’s here“.  Auf einem anderen, in Regenbogenfarben: „Cry Me a River“. Und schließlich: „Petit“. Man muss nur empfänglich sein für die Anrufungen, die auf den Wegen liegen. Und die Zeichen richtig lesen.




Chanson der Liebe
von Christophe Honoré
FR 2007, 92 Minuten, FSK 6,
deutsche SF und französische OF mit deutschen UT

 

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