Boys Don’t Cry (1999)

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Die brutale Ermordung des jungen trans Mannes Brandon Teena erschütterte 1993 Amerika. Über fünf Jahre recherchierte die junge Regisseurin Kimberly Peirce die Hintergründe und schrieb ein Drehbuch. Mit ihrem Debüt „Boys Don’t Cry“ setzte sie nicht nur Brandon Teena ein Denkmal, sondern auch allen anderen Opfern von transfeindlichen Hassverbrechen. Das Drama, das Hilary Swank zum Star machte und ihr einen Oscar bescherte, erzählt aber viel mehr als eine Tragödie. Es geht auch um die berührende Liebesgeschichte zwischen Brandon und seiner ersten Freundin Lana, empathisch dargestellt von Chloë Sevigny. Annabelle Georgen über ein Schlüsselwerk des Trans* Kinos und seine wechselvolle Rezeptionsgeschichte.

Foto: Twentieth Century Fox

Ans Ende der Nacht

von Annabelle Georgen

Heute Abend geht er aus. Mit großer Sorgfalt arrangiert Brandon seine Frisur vorm Spiegel. Als sein Cousin die pralle Beule in seinen Jeans im Spiegelbild erblickt, bricht er in komplizenhaftes, schallendes Gelächter aus. „Ich habe sowas noch nie gesehen!“ Brandon zieht seinen Packer aus Socken raus, halbiert ihn und steckt ihn wieder rein. Noch ein Cowboyhut dazu und er ist bereit.

Was macht man nachts als junger Mensch im ländlichen, konservativen Nebraska, um Spaß zu haben? Man geht in triste, düstere Eckkneipen, die nach toxischer Männlichkeit und Blut stinken, mit ihren betrunkenen, rechtswählenden und der weißen Unterschicht entstammenden Typen, die nur auf den geringsten Funke warten, um ihrer Gewalt freien Lauf zu lassen. Oder man betrinkt sich mit einer Clique Kumpel auf der Rückbank eines Autos. Vielleich rast man auch ziellos in die Nacht auf leeren Landstraßen.

Brandon ist 21 und in gewisser Hinsicht nicht anders als die dortigen Gleichaltrigen: Er will feiern gehen, seine Grenzen testen, Sex haben. Aber Brandon ist trans. Trans in den 90er-Jahren, trans im Midwest – in dieser konkreten Raumzeit scheint es fast unmöglich, der zu sein, der er ist. Er muss das Wohnmobil verlassen, in dem er mit seinem Cousin lebt. Er bekommt Todesdrohungen und Stress mit der Polizei wegen seiner Jugendstreiche. Nach der Begegnung mit einer Gruppe junger Loser landet er in Falls City, einer Kleinstad im Niemandsland. Auf seinem Pass heißt er Teena Brandon, aber hier weiß das niemand.

Bald verliebt er sich in die hübsche Lana, die ihren Lebensunterhalt als Fabrikarbeiterin verdient, aber von einem Leben als Karaoke-Moderatorin oder Sängerin in Memphis träumt. Zwischen den beiden funkt es. Sie haben zum ersten Mal Sex im Gras, hinter der Fabrik, unter einem Sternenhimmel, der die Fabrik und die Aussichtslosigkeit ihrer beiden jungen Leben vergessen lässt. Diese betörende Sexszene endet mit einer Einstellung auf Lanas Gesicht im Moment des sexuellen Höhepunkts. Direkt danach folgen Bilder einer schreienden, lachenden Lana im Auto. Die Montage steigert die Intensität des Moments – es ist wie ein Trip. Die Nacht und ihr kobaltblauer Himmel sind die ständige Kulisse des Films. Die Leben von Brandon, von Lana und dem Rest der Clique spielen sich nachts ab. Im Dunkeln, am Rande der restlichen Welt.

Foto: Twentieth Century Fox

In „Boys Dont Cry“ erzählt die queere Filmregisseurin Kimberly Peirce die wahre Geschichte des jungen trans Mannes Brandon Teena, wie er sich selbst nannte, der brutal ermordert wurde, weil er trans war. Für Kimberly Peirce ist es mehr als ein Film. Fünf Jahre lang hat sie an „Boys Dont Cry“ gearbeitet, der ursprünglich lediglich ein Abschluss-Kurzfilm an der Columbia University sein sollte. Sie machte sich auf die Spuren von Brandon durch Nebraska und führte mehrere Gespräche mit den Wegbleiter:innen während seines kurzen Lebens – darunter seine Ex-Freundin und deren Mutter. Peirce schrieb das Drehbuch, setzte den Soundtrack zusammen, kümmerte sich um das Szenenbild und die Kostüme. Finanzielle Unterstützung bekam sie von der lesbischen Filmproduzentin und New-Queer-Cinema-Schlüsselfigur Christine Vachon (u.a. „Poison“, 1991; „Swoon“, 1992; „Go Fish“, 1994). Peirces erster Langfilm ist auch ihr größter. Ihre Filmografie danach ist erstaunlicherweise kurz. Nach „Boys Dont Cry“ hat sie nur zwei Filme gedreht: „Stop-Loss“ (2008) und das Horrorfilm-Remake „Carrie“ (2013). Aktuell arbeitet sie an ihrem vierten Film „This Is Jane“.

„Als ich von der Geschichte von Brandon Teena las, verliebte ich mich in ihn. Es war, als wenn ich ein Kind adoptieren würde. Ich musste Brandon beschützen. Und um Brandon zu beschützen, musste ich mir Dinge anschauen, die mich fürchterlich erschrocken haben“, erinnerte sich 2013 die Regisseurin bei einem Talk beim Chicago Humanities Festival. Der Mord von Brandon Teena erschütterte Amerika, über seinen Leidensweg wurde in Zeitungen in der Rubrik „Vermischtes“ berichtet: Als zwei seiner „Kumpels“ von seinem Trans-Sein erfuhren, entführten sie ihn am Heiligen Abend und vergewaltigten ihn die ganze Nacht lang. Ein paar Tage später, in der Nacht vom 30. auf den 31. Dezember 1993, töteten sie ihn mit einer Schusswaffe und einem Messer. Ein Hassverbrechen von beispielloser Barbarei. Die beiden Mörder sind heute immer noch im Gefängnis, einer der beiden sitzt im Todestrakt. Im Film zeigt Kimberly Peirce die raue Gewalt des Verbrechens ausführlich. Manche Szenen sind beinah nicht auszuhalten.

Foto: Twentieth Century Fox

„Boys Dont Cry“ erzählt aber viel mehr als diese Tragödie. Es geht auch um die berührende Liebesgeschichte zwischen Brandon und Lana. Das Wunder des Films ist Hilary Swank in der Hauptrolle. Sie sprengt förmlich die Leinwand. Bei den Dreharbeiten war sie fast so jung wie Brandon Teena und damals ein weitgehend unbekanntes Gesicht in Hollywood. Im Film sieht sie wie eine verwirrende Genderbending-Version von 80er-Jahre-Star Matt Dillon aus, ihre androgyne Schönheit ist magnetisch. Für die Rolle hatte sie vor Beginn der Dreharbeiten einen Monat lang als Mann gelebt und Männerkleidung getragen. Swank bekam für den Film ihren ersten Oscar – und wurde als Brandon zur Projektionsfläche für unzählige queere Teenager in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren. Umwerfend ist aber auch Lana-Darstellerin Chloë Sevigny, die später selbst zur Lesben-Ikone wurde.

Mit „Boys Dont Cry“ hat Kimberly Peirce nicht nur ein Denkmal für Brandon Teena geschaffen, sondern auch für alle Opfer von transfeindlichen Hassverbrechen. Für viele queere Forscher:innen und Aktivist:innen ist es der erste, für ein breites Publikum gemachte Film, der eine glaubwürdige Darstellung einer trans* Person bot. Mit seinem tragischen Handlungsstrang bedient er allerdings auch das Klischee, dass Filme über trans* Menschen zwangsläufig schlecht enden müssen. Manche finden ihn aus heutigen Sicht sogar trans*-feindlich, da Brandons Rolle von einer cis Frau verkörpert wurde.

Foto: Twentieth Century Fox

Für einen Film, der 1999 in die Kinos kam, war er aber ein großes Wagnis. Liest man die Filmkritiken und Artikel über „Boys Dont Cry“, die nach dem Kinostart in den USA und in Europa veröffentlicht wurden, kann man das gut nachvollziehen: Obwohl über Brandon sowohl im Film als auch bei bei den Interviews mit Kimberly Peirce und Hilary Swank stets mit den Pronomen er/ihn gesprochen wurde, war in der Presse fast systematisch die Rede von „einer jungen Frau, die ein Mann sein wollte“. Viele Medien haben damals Brandon Teena als Lesbe bzw. Butch-Lesbe gelesen – und damit das nicht-eingeweihte Publikum bedauerlicherweise in die falsche Richtung geleitet. In den USA haben das trans* Aktivist:innen damals scharf kritisiert.

Apropos Misgendern: Selbst die Gedenktafel für Brandon Teena im Lincoln Memorial Park setzt diese Art der Verletzung fort: „Tina R Brandon — Daughter, Sister & Friend“ kann man darauf lesen. Es ist wie ein zweiter Mord.




Boys Don’t Cry
von Kimberly Peirce
US 1999, 114 Minuten, FSK 16,
deutsche SF & englische OF mit deutschen UT

Als VoD