Micha Riegel: Rauchzeichen für Rio
Buch
Am 9. Januar 2025 wäre Rio Reiser 75 Jahre alt geworden. An den 1996 im Alter von nur 46 Jahren verstorbenen schwulen Sänger und ehemaligen Ton-Steine-Scherben-Frontmann erinnern dieser Tage nicht nur TV-Specials und Erinnerungskonzerte, sondern auch eine Reihe literarische Neuveröffentlichungen. Eine besonders liebevolle Hommage ist Micha Riegels Debütroman „Rauchzeichen für Rio“. Darin brechen die Straßenmusiker Samu und Lenni Mitte der Neunzigerjahre zu einem halsbrecherischen Roadtrip zur Landkommune nach Fresenhagen auf, wo Rio Reiser damals lebte, um „mal Hallo“ zu sagen. Auf dem Weg passieren ihnen lauter Dinge, von denen auch Rios Songs erzählen: emotionale Höhenflüge, menschliche Abgründe, das Scheitern, die Politik und – natürlich – die Liebe. Holger Brüns, der mit „Felix“ selbst einen teils von Scherben-Songs inspirierten Roman geschrieben hat, hat sich von „Rauchzeichen für Rio“ auf die Reise mitnehmen lassen.
Wir müssen hier raus!
von Holger Brüns
Über viele Jahrtausende hinweg haben die Menschen Rauchzeichen in den Himmel geschickt. Das Verbrennen wohlriechender Stoffe, besonders von Weihrauch, als Beigabe zu blutigen und unblutigen Opfern, sollte in Verbindung mit Gebet und Gesang Kontakt zu den Ahnen und den Göttern herstellen, ihnen schmeicheln und sie wohlgesonnen stimmen. Rauchzeichen sind auch eine einfache Form der Fernkommunikation. Eine Zeichenfolge aus Rauch und Nichtrauch transportiert Nachrichten über viele Kilometer. Neben den gewollten Rauchzeichen kann man auch jegliche Rauchbildung als Zeichen lesen, die unser Handeln beeinflusst. So kann eine starke Rauchentwicklung bei Waldbränden Veranlassung sein, seinen Aufenthaltsort zu ändern. Aha, so ist das also. Das Internet, immer wieder eine Quelle der Erkenntnis.
In Micha Riegels Roman „Rauchzeichen für Rio“ ist es der durchdringende Geruch von Weihrauch, der das Leben für den vierzehnjährigen Samu so schwer erträglich macht. Es ist der Rauch der vielen selbstgedrehten Zigaretten, der Botschaften in den Himmel schickt, und es ist die Musik von Rio Reiser und Ton Steine Scherben, die der Fernkommunikation unter Gleichgesinnten quer durch das seit wenigen Jahren wiedervereinte Deutschland dient.
Samu wohnt mit seiner Oma und Mutter in einem kleinen unterfränkischen Dorf in der Nähe von Würzburg. Als Zugezogene aus der Stadt haben sie es nicht einfach dort. Und dann knutscht Samu am Faschingsdienstag mit dem Sohn vom reaktionären Bürgermeister auf der Straße rum. „Die Geschichte schlug natürlich ordentlich Wellen, und aus der Sicht der Dorfjustiz war alles meine Schuld.“ So wird Samu zur „Scheißschwuchtel“ gestempelt, die sich „verstecken, schämen, wegducken und alle ihre Tritte schuldbewusst“ hinzunehmen hat. Aber dann bekommt er eine Platte geschenkt. Auf dem Cover steht „Keine Macht für Niemand“, und auf einmal ist klar: „Es gab noch etwas anderes auf der Welt als unterfränkische Dörfer, als Feuerwehrfeste, katholische Pfarrer, die ABC-Jugend vom Fußballverein und alljährliche Faschingsumzüge. Das zu wissen hat mir den Arsch gerettet, ich schwör’s.“
Zwei Jahre später, gerade sechzehn geworden, ist Samu in die Gartenlaube seines Onkels in Frankfurt gezogen. Im Herbst wird er eine Lehre anfangen. Davor liegt ein langer Sommer. Und weil von zu Hause kein Geld kommt und der Mensch nicht von Luft leben kann, beschließt Samu, es als Straßenmusiker zu versuchen. Versteckt hinter Mülltonnen und mit einer verstimmten Gitarre ist dieser Versuch zum Scheitern verurteilt. Wieder ist es Rio, der ihm den Arsch rettet. Also genau genommen ist es ein Junge mit „Augen, grün wie Seegras in der Brandung, mit einem Funkeln darin, türkis wie Lagunenwasser, blau wie der Nachthimmel kurz vor der Dämmerung“, der ihm die Gitarre aus der Hand nimmt und ihn hinter den Mülltonnen hervorzieht. „Zielsicher huschen seine Finger über die Saiten, eine schnelle Folge von Tönen, die sich dehnen und winden und verbinden zu einer Melodie. Nicht irgendeiner Melodie. Das ist der Anfang von ‚Wir müssen hier raus‘. Das ist Ton Steine Scherben.“
So beginnt er, dieser Sommer der Anarchie, der Freiheit und der Liebe, der Samu und Lenni, den Jungen mit den grünen Augen, auf einen wilden Roadtrip quer durch Deutschland führt. „Hoch zum Bauernhof, wo die Scherben wohnen, Anhalter machen, bissl hier, bissl da und quer durchs Land und alle Städte und am Ende beim Rio Reiser stehn und irgendwie mal Hallo sagen.“
Aber wie das so ist bei einem Roadtrip: noch wichtiger als anzukommen, ist es unterwegs zu sein. Um so mehr, wenn man gerade 16 ist und zum ersten Mal verliebt. Weimar, Berlin, das Anti-AKW Hüttendorf im Wendland, Lüneburg, Lübeck, Stationen auf einer nicht ungefährlichen Reise. Abgründe, Unfälle und Drogen eingeschlossen. Und als sie schon fast beim Rio sind … Nee, das soll hier nicht verraten werden.
Schließlich stehen Samu und Lenni zum ersten Mal in ihrem Leben am Meer: „Meer kann keiner erklären. Vielleicht weil’s so unendlich ist, unendlich weit, unendlich tief. Vielleicht weil du aufs Meer hinaus verschwinden kannst und keiner je wissen wird, ob’s dich für immer verschluckt und vergisst, oder ob du’s rüber schaffst ins ungewisse, in die neue Welt, ins gelobte Land, in die Zukunft. Alle Hoffnung, alle Sehnsucht, alle Träume stehen bangend am Ufer, aber alles, was danach kommt, wissen allein die Wellen.“
Micha Riegel gelingt es in schnörkelloser Sprache Menschen und Orte zu beschreiben, die nachklingen und hängen bleiben. Er erzählt von einem Leben ohne die Kommunikationsmittel, an die wir uns inzwischen so gewöhnt haben. Wo man ohne Straßenkarte schon mal die Richtung verlieren kann und Musik noch aus Kassettenrekordern kommt, wo Social Media noch nicht den Alltag von Jugendlichen bestimmte. Vieles hat sich in den vergangenen dreißig Jahren verändert, aber einiges ist geblieben, wie es damals war. Das ist kein Anlass sentimental zu werden – im Gegenteil. Jugendliche, die sich als queer outen, müssen immer noch mit Ausgrenzung und Mobbing bis hin zu körperlichen Angriffen rechnen. Warum hört das in einem Land, in dem es seit dreißig Jahren schwule Bürgermeister oder Außenminister, lesbische Talkmasterinnen oder Fernsehkommissarinnen gibt, nicht auf?
Rio Reiser und die Scherben haben in ihren Liedern ihre Wut auf die „herrschenden Verhältnisse“ mit der Hoffnung auf eine andere, bessere Welt verbunden. Auch Micha Riegel schickt Samu und Lenni und damit uns Lesende auf einen Roadtrip durch ein Land, dass Älteren so fremd vertraut sein dürfte, wie es Jüngeren vertraut fremd ist – weil sich unter der Oberfläche so wenig geändert hat. Wir folgen den Protagonisten auf eine Tour de Force, in der sich Zorn und Liebe, Komik und Tragik abwechseln. Wo Zigaretten und Joints Rauchzeichen sind, die hoffen lassen, der lange Weg der vor uns liegt, möge uns, wie versprochen, irgendwann ins Paradies führen. Auch wenn wir es natürlich längst wissen: der Traum ist aus.
Rauchzeichen für Rio
von Micha Riegel
304 Seiten, € 24
Albino Verlag