On the Go
Trailer • Queerfilmnacht
Zum Beginn des Jahres geht es in der Queerfilmnacht mit dem queerfeministischen Roadmovie „On the Go“ durch halb Spanien: Milagros möchte schwanger werden, schreckt aber vor der Anonymität der künstlichen Befruchtung zurück. Mit einem alten Chevrolet macht sie sich auf nach Sevilla und gabelt ihren besten Freund Jonathan auf, dessen Grindr-Sucht sie für ihre Zwecke nutzen möchte. Die benutzten Kondome seiner Sexdates können ja schließlich auch noch zu etwas gut sein! Zu den beiden Freibeuter:innen gesellt sich eine dritte Person dazu: das internationale Sexsymbol La Reina de Triana. Und dann gibt es da auch noch einen mysteriösen Verfolger aus Jonathans Vergangenheit. Christian Lütjens über einen wilden filmischen Ritt voller unerwarteter Abzweigungen, sexueller Anspielungen und surrealer Dialoge.
Like a Shot
Der Trip beginnt mit dem Trailer. Nach ein paar hübsch unpoliert vor sich hin psychedelisierenden Bildern von schwappendem Wasser, Palmen, Wüste, Himmel, Autofahrten und einer stümperhaften Geiselnahme poltert „Gitana“ los, ein Song von Derby Motoreta’s Burrito Kachimba. Wer die Band aus Sevilla kennt, weiß, was nun kommt: galoppierendes Schlagzeug, heulende Gitarren und die hymnischen Gesänge von Stimmkraftwerk Dandy Piranha. Das Tempo des Songs bringt die folgenden Bilder unweigerlich ins Rennen, egal, ob sie flüchtende, schreiende, lachende, schlafende oder Lasso schwingende Menschen zeigen. Als die Musik unvermittelt abbricht, folgen wieder ein paar psychedelische Motive. Und eine Strandszene mit Wellenrauschen. In der eine Diskussion über Windeln geführt wird. Worum’s im Film geht, bleibt vage. Nur so viel ist klar: Er könnte lustig werden.
Warum die Rezension eines Films mit der Besprechung seines Trailers beginnen? Weil es in diesem Fall als schrittweise Annäherung auf wunderbarste Weise funktioniert. In meinem Fall führte der „On the Go“-Trailer dazu, dass ich mir danach erst mal ein paar Derby-Motoreta’s-Burrito-Kachimba-Videos ansah, jedes davon ein akustischer wie optischer Energieschub – vom Neonrausch „The New Gizz“, über das Live-Feuerwerk „La Fuente“ bis hin zur irrisierenden García-Lorca-Hommage „Nana Del Caballo Grande“. Es folgte die Entdeckung, dass auch „On the Go“-Co-Regisseurin und -Hauptdarstellerin Julia de Castro 2020 schon ein Crossover-Album namens „La Historiada“ herausgebracht hat und ihre Regie-Kollegin María G. Royo die schwindelig machenden Projektionen der Video-Oper „La Isla“ verantwortete. Die Verbindung von Bild und Ton, Film und Musik zog sich wie ein roter Faden durch die Impuls-Recherche.
In „On the Go“ spinnt sich dieser Faden direkt weiter. Nicht nur ist dem Film ein Zitat von Sonia Fernández Pan vorangestellt (bekannt durch Texte und Podcasts, die sich assoziativ mit Körper, Gender und Tanz beschäftigen), auch spielt der Soundtrack hier seine ganz eigene Rolle. Dass Dandy Piranha samt Bandkollegen in „On the Go“ einen denkwürdigen Cameo-Auftritt haben, ist ein Twist, der sich mir ohne die vorherige Video-Recherche erst im Nachhinein oder gar nicht erschlossen hätte. So aber hatte er einen der lakonischen Aha-Momente zur Folge, von denen die kompakten 72 Minuten des Films eine ganze Menge zu bieten haben – nicht nur beim ersten Anschauen, sondern auch bei der Reflektion danach und dem durchaus empfehlenswerten zweiten Anschauen.
Anderthalb Minuten braucht der Film, um seine beiden Hauptfiguren zu etablieren. In einer zackig geschnittenen Montagesequenz flanieren und fahren wir einerseits mit Cabrio-Queen Milagros durch Sevilla und dringen andererseits mit Adidas-Chico Jonathan in eine verwaiste Schwulenbar ein, wo er einen Kanister Benzin verschüttet, um den Laden anschließend seelenruhig anzuzünden. Während das Feuer sich ausbreitet und buchstäblich die Credits aufflammen, rumpelt „Like a Shot“ los, ein Seventies -Klassiker der spanischen Glamrock-Band Burning. Wieder so ein Soundtrack-Geniestreich.
Danach rauscht die Handlung rasant und unaufhaltsam, wenn auch nicht immer auf den ersten Blick kohärent vorwärts: Milagros fährt mit dem Cabrio bei der Bar vor, Jonathan springt zu ihr ins Auto, sie wundert sich über den aufsteigenden Rauch, er treibt sie ungeduldig zum Weiterfahren an. Dass die beiden eine langjährige Freundschaft verbindet, ist ebenso auf Anhieb klar wie die Tatsache, dass Jonathan schwul ist.
Wenig später treffen wir die Zwei im Unterwasser-Gang eines Aquariums wieder, wo Milagros herauszufinden versucht, was ihren Freund zur Brandstiftung getrieben hat. Aus der Antwort geht hervor, dass der Besitzer der Bar Minderjährige (und in dessen Jugend auch Jonathan) missbraucht hat und die Tat ein Racheakt ist. Doch bevor sich ein klares Bild ergibt, wird die Diskussion von einer dritten Figur unterbrochen: Majestätisch und bis auf ein Krönchen und einen Muschel-Bikini nackt schreitet mit platschenden Schritten „La Reina“ zwischen Milagros und Jonathan hindurch und verlangt auf Englisch nach einer Zigarette. Verdutzt kommt Jonathan der Bitte nach. Statt eines Dankes folgt die nächste Forderung: „I have a curse. I’m a Mermaid. Take me to the Sea. Or I’ll start to dry out.“
An dieser Stelle wird der Film zum Roadmovie. Es geht ans Meer, quer durchs Land, über Grenzen hinaus. Mal sind Milagros und Jonathan auf der Flucht, mal auf der Jagd, vor allem aber folgen sie teils bewusst, teils zufällig der Spur ihrer inneren Sehnsüchte. Diese nehmen in einer surrealen Metaebene Gestalt an, zu der das Auftreten von La Reina die Tür aufstößt – eine Ebene, die mit fortschreitender Handlung zum stilistischen Markenzeichen des Films wird, das den Hauptplot immer mehr dominiert.
Letzterer thematisiert Milagros’ Mutterwunsch, den sie einigermaßen rigoros in die Tat umzusetzen versucht. Erst soll Jonathan als Vater herhalten. Als er nicht bereit ist, wird ein naiver Künstler zum Beischlaf verführt, der allerdings nach dem Sex offenbart (während Milagros bereits triumphiert und eifrig Hormon-Yoga macht), dass er sich hat sterilisieren lassen. Was nun? Zupackend wie sie ist, bemächtigt sich Milagros des Grindr-Profils ihres besten Freundes und meldet Jonathan für eine Orgie an. Dort soll er das Sperma des hübschesten Teilnehmers in einem Kondom kapern. Was ihm sogar gelingt. Doch darauf kommt’s am Ende gar nicht mehr an …
All das klingt genauso hysterisch und aberwitzig wie es ist und hat wunderbar komische, teils (allein aufgrund des Spanischen) almodóvaresk anmutende Szenen zur Folge. Nebenbei binden die Regisseurinnen (die auch das Drehbuch schrieben) originelle Referenzen ein. So ist die erwähnte Cameo-Szene der Bandmitglieder von Derby Motoreta’s Burrito Kachimba ein direktes Zitat aus Gonzalo García Pelayos Roadmovie-Klassiker „Corridas de Alegría“ von 1982. Während bei García Pelayos eine fünfköpfige Familie und zwei Polizisten von den Hauptfiguren mit einem stümperhaften Pistolero-Coup ausgetrickst werden, sind es in „On the Go“ zwei Polizisten und die Band. Die Szene endet damit, dass Dandy Piranha einen Derby-Motoreta’s-Hit à capella zum Besten gibt: „La Vieja Mundo“ („Die Alte Welt“), ein Abgesang auf Status, Reichtum und Machtfantasien. Hier ist er wohl auch als Abgesang auf eine patriarchalisch-chauvinistische Weltordnung zu verstehen. Aber vielleicht auch ein bisschen als Hommage an die krisselige Filmästhetik der Achtziger, deren Look auch „On the Go“ auszeichnet.
Aber der Humor und die „Action“ sind wie gesagt nicht das Hauptmerkmal dieses Films. Am Ende sind es die nachdenklichen, die poetischen und surrealen Elemente, die den Gesamteindruck prägen: elegante Mikroskop-Aufnahmen, fließende Unterwasserbilder, schwebende Traumsequenzen, spektakulär-sinnliche schwule Sexszenen und raunende Voice-overs, die zunächst wohldosiert der Haupthandlung beigemischt werden, um sie dann immer mehr zu unterwandern. Symbolisches Zentrum dieser Entwicklung ist La Reina, die nach Belieben kommt und geht und sich letztlich als personifizierte Stimme von Milagros Unbewusstem entpuppt. Eine tolle Figur, herrlich entrückt gespielt von Cacha Huang, die zuvor u.a. in der 3. Staffel der Netflix-Serie „Haus des Geldes“ (2017-21) zu sehen war.
Herz- und Identifikationsfiguren bleiben aber dennoch Julia de Castro und Omar Ayuso alias Milagros und Jonathan. Beide zeigen von unfassbar cool bis zu unglaublich verletzlich die ganze Palette ihres darstellerischen Könnens und haben als Freundschaftspaar eine Chemie, deren Witz und Innigkeit anstecken, inspirieren und ähnlich starke Akzente setzen wie der Soundtrack. So steht das Publikum am Ende wie die beiden völlig ungeschützt vor der großen Frage: „Wie sind wir so geworden?“ Im Film folgt dieser Frage eine zunächst etwas rätselhafte, aber im Nachgang enorm anrührende Schlussszene, die die zuvor nie thematisierten Anfänge der Freundschaft andeutet. Ohnehin ist es bemerkenswert, wie das Drehbuch die vielen stilistischen, referenziellen und narrativen Bögen und Kreise der Erzählung am Ende zusammenführt und schließt – von Milagros Mutterwunsch bis zu Jonathans Vorgeschichte, die zur Inbrandsetzung des Clubs führte. Es gibt also einiges zu verdauen, wenn Julia de Castro im Abspann den Titelsong zu „On the Go“ selbst singt. Er ist nach ihrer Figur benannt: Milagros. Das heißt auf Spanisch „Wunder“. Irgendwie ist er selbst ein kleines Wunder, dieser Film!
On the Go
von María G. Royo & Julia de Castro
ES 2023, 72 Minuten, FSK 16,
spanisch-englische OF mit deutschen UT
Im Januar in der Queerfilmnacht