Coming Out (1989)
Trailer • DVD/VoD
„Coming Out“ von Heiner Carow war der erste Film der DDR, der Homosexualität prominent thematisierte. Es sollte auch der letzte sein: Ihre Premiere hatte die DEFA-Produktion am 9. November 1989, dem Tag des Mauerfalls, im Berliner Kino International. Der Film erzählt die Geschichte des jungen Lehrers Matthias, der eigentlich mit seiner Kollegin Tanja zusammen ist, aber doch ein anderes Begehren spürt. Eines Abends landet er in einer Schwulenkneipe und lernt Matthias kennen, mit dem er eine zaghafte Beziehung beginnt. Allmählich versteht Matthias, wer er ist und wen er liebt. Mit zwölf Schlaglichtern auf die Entstehung und den besonderen Zauber von „Coming Out“ erinnert Carolin Weidner an einen im wahrsten Sinne bahnbrechenden Klassiker des queeren Kinos.
Eine Mauer fällt
von Carolin Weidner
1
Seine Gefühle kann man sich nicht aussuchen. So sehr hatte sich Philipp gewünscht, dass es mit Tanja etwas wird. Die junge Lehrerin, die an derselben Oberschule unterrichtet wie er. Die er schon aus dem Studium kennt. Und die ihm gesteht, nachdem sich beide über einen kleinen Unfall auf dem Schulflur nähergekommen sind, dass sie ihn schon damals mochte. Aber es will nicht, kann nicht passen. Philipp liebt Männer. Sich dies einzugestehen, und auch nach außen zu vertreten, das ist der Weg, den Regisseur Heiner Carow für ihn vorgesehen hat. „Coming Out“, erster und einziger Film der DDR, der Homosexualität prominent thematisiert, hat seine Premiere am 9. November 1989 im Berliner Kino International, am Tag des Mauerfalls. Die anschließende Feier in der Szenekneipe „Zum Burgfrieden“, die auch als Drehort diente, wird für das Team in dieser Nacht zur surrealen Zuflucht.
2
Lange hat die Produktion für die Realisierung kämpfen müssen. Hans Dieter Mäde, Generalsekretär der DEFA, erklärt unter vorgehaltener Hand, dass er keinesfalls der erste Studiodirektor eines sozialistischen Landes sein werde, der einen Film über Homosexualität freigibt. Erst nach Mädes überraschendem Ausscheiden bekommt „Coming Out“ grünes Licht. Zuvor hat bereits Dramaturgin Erika Richter verschiedene Dokumente verfasst, die den Film aus pädagogischer Sicht rechtfertigen. Gutachten werden eingeholt. Sieben Jahre dauert es, bis im Herbst 1988 endlich die Dreharbeiten beginnen können. Es ist auch die Geschichte von Drehbuchautor Wolfram Witt, der in „Coming Out“ eigene Erlebnisse verarbeitet.
3
Silvester. Berlin im Ausnahmezustand. Es knallt und raucht, ein Krankenwagen schießt mit heulender Sirene durchs Bild. In ihm: Matthias. Die Fahrt geht ins Krankenhaus, wo dem jungen, halb bewusstlosen Mann der Magen ausgepumpt wird. Es gilt, einen langen, roten Gummischlauch zu schlucken, freundliche, aber bestimmte Frauen geben Instruktionen. Tränen. Als alles überstanden ist, wird Matthias allein auf den Flur geschoben. Warum er das gemacht habe, will eine Ärztin wissen. „Ich bin schwul, ich bin homosexuell“, weint Matthias. Die Szene ist interessant, weil sie in „Coming Out“ nicht mehr aufgegriffen wird. Vielmehr lernt man Matthias später als in sich ruhend kennen, als einen, der seinen neuen Freund ganz selbstverständlich zur Geburtstagsfeier einlädt. Damit, dass er niemals Kinder haben wird, hat er sich abgefunden. Matthias wirkt im Reinen mit sich. Lediglich die ersten fünf Minuten des Films verraten etwas anderes, zeigen, dass auch Matthias einen Weg gehen musste.
4
Dirk Kummer ist zunächst nicht für die Rolle des Matthias vorgesehen. Er fungiert als Regieassistent von Heiner Carow, lebt, im Gegensatz zu Philipp-Darsteller Matthias Freihof, seine Homosexualität nicht so offen. Aber er kennt sich aus in der Ost-Berliner Subkultur. Und irgendwann stellt sich heraus, dass er die perfekte Besetzung für jenen Matthias ist, in den sich Philipp eines Nachts, am Tresen des „Burgfriedens“ sitzend, verliebt, auf den ersten Blick. Das Lokal ist ein zentraler Ort in „Coming Out“, das dortige Treiben wird liebevoll inszeniert und festgehalten. Viele der Aufnahmen von Kameramann Martin Schlesinger haben die Qualität dokumentarischer Porträts. Es heißt, dass sich in den ersten Vorführungen des Films immer wieder Stammgäste eingefunden hätten, auf der Suche nach ihrem Sekundenauftritt. Darunter Charlotte von Mahlsdorf, bekannt vor allem durch Rosa von Praunheims „Ich bin meine eigene Frau“. Sie erzählt Philipp eine Anekdote aus ihrer Kindheit. Als Philipps Selbstfindung weiter fortschreitet, nimmt „Coming Out“ auch die Cruising-Szene im Volkspark Friedrichshain in den Fokus. Flüchtige Begegnungen im Dunkeln und Halbschatten, auf Bänken, in Toilettenhäusern, im fahlen Licht einer Laterne.
5
Philipp auf dem Fahrrad. Berlin ist grau, aber dieser Mensch, der sich gerade auf dem Weg zu seinem ersten Arbeitstag befindet, strahlt Virilität und Zuversicht aus. Drehort ist das Carl-von-Ossietzky-Gymnasium in Pankow. Keine andere Schule hatte Heiner Carow im Sinn. Denn nur wenige Monate vor Drehbeginn gab es hier einen Skandal: Mehrere Schüler wurden der Schule verwiesen, weil sie sich öffentlich gegen den in der DDR grassierenden Militarismus und Rechtsextremismus ausgesprochen hatten. In einer Unterhaltung mit einer älteren Kollegin wird Philipp zugetragen, man müsse im Lehrerberuf „Rückgrat beweisen“. Die Schule in Pankow symbolisiert für Heiner Carow genau das. Und möglicherweise auch die damit einhergehenden Repressalien.
6
Sichtbar machen, was nicht gesehen werden darf. Denn was man nicht sieht, das gibt es auch nicht. „Coming Out“ kommentiert die gesellschaftliche Realität der DDR, indem er sie zeigt. Ein rechtsextremistischer Zwischenfall in einer S-Bahn, deren Zeugen Philipp und seine Klasse nach dem Besuch der „Zauberflöte“ werden: Drei Skinheads attackieren einen jungen Mann, alle Passagiere bemühen sich um Ignoranz, bis Philipp einschreitet und mit ihm einige Schüler. Es kommt zu einer Rangelei, am Marx-Engels-Platz schieben sie die drei Angreifer aus dem Zug. Sozialistische Ideale und eine verleugnete Wirklichkeit kollidieren.
7
Sein Name ist Redford. Tanja und Philipp leben scheinbar zusammen, für später kündigt sie den Besuch eines vormaligen Nachbarn an. Philipp gibt sich eifersüchtig, Tanja kokett, die beiden landen im Bett. Viel zu spät wacht Philipp auf, der doch eigentlich seine Mutter besuchen wollte. Er stürmt davon, ein paar klägliche Gerbera in der Hand. Die Mutter liegt kraftlos und vorwurfsvoll mit dem Kopf auf einem Tisch. Der Sohn kann sie erst mit einer überraschenden Neuigkeit vitalisieren: Er hat eine Freundin. Es ist ein unangenehmer Besuch, man spürt, dass es eine Verstrickung gibt, die Mutter etwas von ihrem erwachsenen Kind erwartet. Als Philipp zurück in die Wohnung zu Tanja kommt, trifft er dort auf Redford, den er als Jakob kennt, seine Jugendliebe. Später erfährt er, dass Jakob/Redford von ihm ganz bewusst ferngehalten wurde.
8
Jakob reißt etwas auf, öffnet eine Pforte. Die Begegnung ist Spuk und Magie. Und genauso wird Philipp bald wie von höherer Hand durch die Tür des „Burgfriedens“ geschoben. In sich versunken schreitet er nachts durch die Straßen, als eine Gruppe Verkleideter Knallfrösche vor seine Füße wirft, ihn umschließt und mit hineinnimmt. Sie haben ihn erkannt, sie beschützen und geleiten ihn, sie liefern ihn sich selbst aus. Leder und Strapse, Perlenketten, Zylinder, Bräute. Inmitten ein Pierrot mit bunter Halskrause und weißer Pomade im Gesicht: Matthias.
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Unter der Haut, da stöhnt das Blut so laut
Nackt sein, sich nackt machen. Mit Matthias gelingt es. „Sei bitte nicht traurig. Ich muss für ein paar Tage zu mir kommen. Mach dir keine Sorgen und laß mich allein! Philipp“, schreibt er auf einen Zettel für Tanja.
Du, ich küsse deinen Mund
Du, ich küsse deinen Mund
Du, ich küsse deinen Mund
Du, ich spüre dein Gesicht
Den Dreh der intimen Szenen spart sich Heiner Carow bewusst bis zum Ende auf. Alle sollen sich bestmöglich kennengelernt haben. Der Film begleitet Philipps und Matthias erste gemeinsame Nacht mit einem Instrumentalstück. Es wirkt erstaunlich unheilvoll, mysteriös, zwischendrin schwenkt die Kamera auf ein Stück Raufasertapete. Sinnlichkeit vermittelt sich dennoch, Lust, Neugier, Verlangen. Die Worte zum Gefühl kommen erst viel später, in Form von Citys „Unter der Haut“. Da ist es schon vorbei zwischen den beiden, die Lüge aufgeflogen. Retrospektiv sortiert sich alles. Für den einen so, den anderen so.
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„Hier ist jeder allein. Und jeder hat Angst“, sagt Achim, der Kellner. „Darf ich wiederkommen?“, fragt Matthias nach der Nacht mit Philipp. „Bloß die Schwulen, die haben wir vergessen“, resümiert der alte Walter, als er Philipp von seinem KZ-Aufenthalt in Sachsenhausen erzählt. Rosa Winkel, der letzte Dreck. Erst die Kameraden von der KP hätten Rettung bedeutet, meint Walter. Gänzlich ohne politisches Bekenntnis kommt auch „Coming Out“ nicht aus. Mehr wiegt trotzdem dieser nachgeschobene Satz: „Bloß die Schwulen, die haben wir vergessen.“ Philipp muss sich irgendwann positionieren, „gewisse Vorkommnisse“ zwängen die Schule dazu, seinen Unterricht zu kontrollieren. Gespenstische Stille im Klassenzimmer, alle starren sie nach vorn zu ihm, Schüler, Kollegium. Philipp sagt: „Ja.“
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Ich sage ja
Die Stelle, an der Sillys „Schlohweißer Tag“ abbricht, wo am emotional vielleicht tiefsten Punkt doch eine Wendung eintritt. Wo Philipp beim Blick in den Spiegel, die Hand in der offenen Jeans, versteht, wer er ist. Versteht, wen er liebt. Das Weglaufen hat ein Ende, das Coming-out findet zuerst vor sich selbst statt.
Schiffe aus Zigarettenpapier
Kentern auf deiner Haut
Du öffnest dir
Ne Dose Kompott
Der Saft läuft auf das Laken
Mein Gott
Sieh dich doch vor
Sieh dich doch an
Das schlürft und schleckt
Sich die Pfunde ran
Die Neonröhre röhrt leis dazu
Nur ich nur ich und du
Nur ich nur ich und du
Schlohweißer Tag
Du bist so jung ergraut
Schlohweißer Tag
Ich fühl mich hohl in meiner Haut
Schlohweißer Tag
Du leeres Blatt Papier
Schlohweißer Tag
Was fang ich an mit mir
12
Philipp auf dem Fahrrad. Berlin ist grau, aber dieser Mensch, der sich gerade auf dem Weg von seiner Arbeit befindet, trägt einen strahlend roten Pullover. Die Ampel zeigt grünes Licht. Philipp verschwindet zwischen Trabanten, fährt die Prenzlauer Allee hinauf. Und die Kamera hebt ab, lässt ab.
Coming Out
von Heiner Carow
DD 1989, 113 Minuten, FSK 12,
deutsche OF
Als DVD und VoD