Blindgänger
Trailer • Queerfilmnacht
In Hamburg führt der Fund eines Blindgängers aus dem Zweiten Weltkrieg auch zum zwischenmenschlichen Ausnahmezustand. Während Anwohner:innen und das Team des Räumkommandos mit Ängsten und Traumata hadern, entwickeln sich im Chaos zarte Momente der Nähe. „Blindgänger“ von Kerstin Polte ist eine gesellschaftliche Momentaufnahme, die sanft von der Sehnsucht nach Zugehörigkeit erzählt. Ein Film über Menschen, die straucheln und stürzen; die sich verletzen und sich dennoch gegenseitig helfen. Unsere Autorin Barbara Schweizerhof ist beeindruckt: Polte gelinge es, „ihren Plot wunderbar organisch erscheinen zu lassen.“ Im Mai ist der Film in der Queerfilmnacht zu sehen.

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Gefühle ausgraben
Eigentlich ist es ein gutes Zeichen, dass man heute, 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, dem Publikum tatsächlich erst erklären muss, was ein „Blindgänger“ ist: eine Bombe, die ohne Explosion niederging, weil ihre Sprengladung nicht detonierte. Besser gesagt: noch nicht detonierte, denn je nachdem, wie es um den Zünder steht, kann ein solcher Blindgänger auch Jahrzehnte später noch hochgehen. Weshalb noch heute höchste Alarmstufe herrscht und weite Gebiete evakuiert werden, wenn ein solches Überbleibsel gefunden wird. Meist passiert das auf Baustellen, wo bislang brach liegende Grundstücke aufgegraben werden. Wie zu Beginn von Kerstin Poltes Film „Blindgänger“. Man schätze, dass auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland noch gut eine Viertelmillion davon in der Erde lägen, hört man jemanden in den ersten Szenen des Films im Radio sagen – denn in Hamburg wurde gerade mal wieder eine entdeckt. Otto (Bernhard Schütz) und Lane (Anne Ratte-Polle) sollen sie entschärfen, aber erst mal muss das ganze Quartier evakuiert werden.
Polte entwickelt aus diesem Schlagzeilen-Ereignis zwei interessante Handlungsstränge als dramaturgische Leitfäden ihres Films: Da gibt es zum einen den Sprengsatz und die Bedrohung, die von ihm ausgeht. Wird er sich leicht entschärfen lassen oder handelt es sich um einen jener tückischen Zünder, bei denen das Entschärfungsteam sein Leben riskiert, weil sie genau dann hochgehen, wenn man sie bloßlegt? Und zum anderen gibt es die Entwicklungen, die der Akt der Evakuierung auslöst. Denn die betrifft die verschiedensten Bewohner:innen des Viertels, zeigt zuerst deren Beziehungen untereinander auf, rüttelt sie dann kräftig durcheinander und führt sie schließlich neu zusammen.
Einen Vorfall wie den Blindgänger-Fund als Ausgangspunkt zu nehmen, könnte auch arbiträr und gezwungen wirken, aber Polte gelingt es, ihren Plot wunderbar organisch und selbstverständlich erscheinen zu lassen. Sämtliche Figuren werden gleichsam inmitten eines Handelns vorgestellt und müssen nicht erst „eingeführt“ werden. Man erfasst augenblicklich, welchem Stress sowohl Otto als auch Lane als die „Frontmenschen“ dieser Situation ausgesetzt sind. Wobei sie sehr unterschiedlich darauf reagieren: Die sich nach außen abgebrüht gebende Lane verdrängt ihre Gefühle und will sich der Gefahr stellen, als Otto ausgerechnet jetzt unerreichbar bleibt. Er hat beim Arzt eine niederschmetternde Nachricht erhalten, Verdacht auf Prostata-Krebs – und als er am selben Abend seine Frau Hanne (Claudia Michelsen) begrüßt, eröffnet die ihm, dass sie reden müssten. Die Wissenschaftlerin hat ein Verhältnis mit ihrem Kollegen Philipp (Enrique Fiß) und keine Lust, es länger geheim zu halten.
Die drängende Situation der Evakuierung und Bombenentschärfung erfordert von sämtlichen Figuren, dass sie sich bewegen, selbst wenn sie selbst dazu nicht bereit sind. So weigert sich Lane – von Anne Ratte-Polle mit fiebriger und zugleich fragiler Energie gespielt –, bei der obligatorischen Evaluation durch Psychologin Ava (Haley Louise Jones) irgendetwas über ihre eigenen Ängste preis zu geben, geschweige denn von ihren Panikattacken zu erzählen. Und das, obwohl die beiden Frauen ganz offensichtlich einen gewissen Gefallen aneinander finden und ein tieferes Interesse füreinander entwickeln. Doch das hält jede für sich – und aus verschiedenen Gründen – noch verborgen. Avas Vater Nika (Ramin Yazdani) jedenfalls begreift schon bald, dass seine Tochter eine „Lieblingspatientin“ hat. Seine Bedenken gelten dabei den Bedürfnissen seiner Tochter, die er vielleicht für verletzlicher hält, als diese sich selbst sieht.

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Ähnlich wie Ava und ihr Vater ihre Verwandtschaft darin zeigen, dass beide sehr fürsorgliche Personen sind, erweist Lane sich wiederum als würdige Tochter ihrer nicht weniger sturen Mutter Margit (Barbara Nüsse). Denn die wohnt in einem der Altbau-Häuser, die wegen des Blindgängers dringend evakuiert werden müssen – weigert sich aber, den Aufrufen Folge zu leisten und verbarrikadiert sich in ihrer Wohnung. Zu ihrer eigenen Überraschung findet sie in Junis (Ivar Wafaei) einen Menschen, der ihre Gefühle nachvollziehen kann: Dem aus Afghanistan geflohenen jungen Mann macht nicht nur die mögliche Detonation einer Bombe Angst, die ihn zudem an die Bürgerkriegszustände in seiner Heimat erinnert. Noch mehr fürchtet er die Entdeckung durch die Polizei, denn er lebt ohne Anerkennung seines Geflüchteten-Status in Deutschland. Aufgenommen hat ihn der gutmütige Rentner Viktor (Karl Markovics), ein Nachbar von Margit. Als die Polizei schließlich Wohnung für Wohnung abgeht, um den Fortschritt der Evakuierung zu kontrollieren, verlässt zwar Viktor das Haus, in der Hektik des Aufbruchs aber gelingt es Junis zurückzubleiben.
So findet ihn Margit später – und im erzwungenen Müßiggang, den die Situation des Versteckens für die beiden bedeutet, entsteht zwischen ihnen eine besondere Verbindung. War Margit zuvor eine zur Bitterkeit neigende, abweisende und sture alte Frau, die böse Bemerkungen über die „jungen Türken“ machte, die Viktor angeblich bei sich wohnen lasse, legt sie in der Ausnahmesituation ihre Strenge ab und beginnt, mit Junis zu spielen, als wäre sie ein junges Mädchen. Und Junis seinerseits lässt seine Ängste für einen Moment fallen und fasst Vertrauen in jemanden, dem er sonst nur mit Misstrauen begegnete. Glaubhaft wird diese besondere Begegnung auch deshalb, weil sowohl Barbara Nüsse als auch Ivar Wafaei ihren Figuren etwas verleihen, das über die Klischees von „alte Frau“ und „Asylbewerber“ hinausgeht. Nüsse als Margit erfasst die Situationen um sich herum blitzartig und ist schlagfertig; Wafaeis Junis ist ein gebildeter Leser und Romantiker, der von deutscher Kultur oft mehr versteht als seine einheimischen Gegenüber.

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Einen ähnlichen Verzauberungsmoment durch Umstände, die den üblichen Alltag außer Kraft setzen, lässt die Regisseurin und Drehbuchautorin Polte auch noch eine andere Figur erleben. Den vor Trauer und Angst um die eigene Gesundheit und die Zukunft seiner Ehe gelähmten Otto nämlich bringt der Zufall mit dem entspannten Viktor zusammen. Unter dessen sanfter Anleitung kann auch Otto einen Teil der Fesseln ablegen, die ihm das Ideal der Heteronormativität sein Leben lang aufzwang. Er findet Lust an der Verkleidung, spielt mit den Geschlechterstereotypen, gibt sich dem Tanzen und körperlichen Erleben hin. Er erfährt auf diese Weise eine überraschende Befreiung. Parallel dazu macht seine Frau Hanne etwas Gegenteiliges durch: Sie will sich ernsthaft auf Liebhaber Philipp einlassen – muss dann aber erfahren, dass dieser die Dinge eigentlich vorher, als es noch keine ernsthaften Beziehungsabsichten zwischen ihnen gab, ziemlich ideal fand. Und überhaupt: Wäre dieser etwas orientierungslos wirkende Mann eigentlich der Richtige für die gestandene und doch auch ehrgeizige Frau?
Die Bombe sorgt nicht nur für äußere Spannung, indem sie die Handlung des Films auf eine bestimmte Zeit beschränkt. Ganz konkret löst sie bei Lane Angstzustände aus, die sie schließlich zu größerer Ehrlichkeit mit sich selbst zwingen. Für fast jede ihrer Figuren findet Polte eigene Momente der Katharsis, auch wenn die Vielzahl der Charaktere es mit sich bringt, dass nicht alles auserzählt werden kann. Was bleibt, als die Ausnahmesituation zu Ende ist, die Evakuierungsmaßnahmen aufgehoben sind und die Figuren wieder zurück an ihren Ausgangspunkt geführt werden? Polte zeigt es mit einem melancholischen Reigen der verschiedenen Gesichter, die das Panorama der Gefühle widerspiegeln, die im Film durchlebt wurden. Freude, Erleichterung, neue Hoffnungen sieht man keimen, genauso wie leise Enttäuschungen und Resignationen. Der Moment des Chaos ist vorbei, aber es war auch eine schöne Zeit.
Blindgänger
von Kerstin Polte
DE 2024, 95 Minuten, FSK 12,
deutsche OF
Im Mai in der Queerfilmnacht