Anders als die Andern (1919)
DVD
Im Jahr 2019 tat sich der Sexualforscher Magnus Hirschfeld mit dem Regisseur und Produzenten Richard Oswald zusammen, um einen Stummfilm zu konzipieren, der sich mit dem Homosexuellenparagrafen §175 beschäftigen sollte. Heraus kam mit „Anders als die Andern“ der erste offen-schwule Kinofilm überhaupt, er wurde zu einem riesigen Erfolg. Doch schon bald fiel die tragische Liebes- und Erpressungsgeschichte um zwei Geigenspieler der Zensur zum Opfer, die meisten Filmkopien wurden vernichtet. Mittlerweile existiert wieder eine mühsam rekonstruierte Fassung. Matthias Frings über die „Mutter aller schwulen Filme“.

Bild: Fotoarchiv Deutsche Kinemathek
Haltung und Noblesse
von Matthias Frings
Wenn es um queere Klassiker geht, darf dieser Film nicht fehlen, die Mutter aller schwulen Filme. Seine Uraufführung fand am 28. Mai 1919 im Berliner Apollo-Theater statt. Er gilt als weltweit erster Film mit explizit schwuler Thematik. Dass ein so skandalträchtiges, kontroverses Thema überhaupt in die Kinos kommen konnte, war dem Zusammenbruch der alten Ordnung nach der Abdankung des Kaisers und dem Ende des zweiten Weltkriegs zu verdanken. Radikal veränderte gesellschaftliche Umstände hatten im November 1918 zu Abschaffung jeder Zensur für Film und Theater geführt.
Der schon damals prominente Dr. Magnus Hirschfeld hatte im Berliner Tiergarten mit dem Institut für Sexualwissenschaft weltweit die erste Einrichtung gegründet, die sich wissenschaftlich mit Sexualität und Geschlecht beschäftigte. Ein Meilenstein. Der schwule Arzt und Sexologe, im Freundeskreis liebevoll „Tante Magnesia“ genannt, gehörte nicht zu den Wissenschaftler:innen, die sich im Elfenbeinturm wohlfühlen. Angesteckt von der frisch erwachten Quirligkeit der Metropole Berlin lebte er ganz im Hier und Jetzt. Sein vielbeachteter Kampf für die Anerkennung sexueller Minderheiten, von Schwulen, Lesben, Transvestiten (wie man sie damals nannte), umfasste nicht nur Publikationen wie das „Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen“, sondern bediente sich auch populärer Medien.
Magnus Hirschfeld tat sich mit dem Regisseur und Produzenten Richard Oswald zusammen, um einen Film zu konzipieren, der sich mit den Auswirkungen des Homosexuellenparagrafen §175 beschäftigen sollte. Den Konventionen des Spielfilms entsprechend, sollte zwar eine dramatische Geschichte erzählt werden, doch die Handlung wurden hin und wieder von erläuternden Statements des bekannten Arztes unterbrochen und unterfüttert.
„Anders als die Andern“ wurde mit großem Erfolg in Berlin uraufgeführt und war dort monatelang in ungewöhnlich hoher Kopienzahl zu sehen. Auch im restlichen Land kam der Film in die Kinos. Große Aufmerksamkeit erregte nicht nur das Thema, das mit Sex und Crime lockte, sondern auch die ans Herz gehende Geschichte eines Einzelschicksals, die zur Identifikation einlud. Im Mittelpunkt des „sozialhygienischen Filmwerks“, wie es im Vorspann heißt, steht eine schlichte Liebesgeschichte.

Bild: Edition filmmuseum
Der berühmte Geigenvirtuose Paul Körner wird nach einem Konzert von dem jungen Kurt Sivers angehimmelt, der bald darauf sein Schüler wird. Zwischen den beiden funkt es, sie werden ein Paar. Probleme machen nur Pauls Eltern, aber nicht wegen der Beziehung, sondern weil sie möchten, dass Paul einen „ordentlichen“ Beruf ergreift. Vermittelnd greift Pauls Schwester ein, die sich ebenfalls in den gutaussehenden Körner verliebt.
Eine Rückblende macht klar, dass Homosexuelle schon von Jugend an Schwierigkeiten haben, ihre Sexualität zu leben. Im Internat unterhält der junge Paul eine innige Beziehung zu einem Mitschüler, die jedoch von einem Lehrer brutal und unter Androhung von Strafe beendet wird.
Die Familie des erwachsenen Paul Körner versucht ihren unverheirateten Sohn mit einer reichen Witwe zu verkuppeln, was er entsetzt zurückweist. Es kommt zu einer Konsultation der Familie bei Dr. Hirschfeld persönlich. Dieser hält nun einen seiner Filmmonologe, bittet die Eltern, ihrem Sohn Paul keine Vorwürfe zu machen. Homosexualität sei kein Laster, kein Verbrechen, keine Krankheit, nur eine Variante menschlicher Sexualität. Ihr Sohn leide nicht unter seiner Sexualität, sondern unter der gesellschaftlichen Verdammung und Verfolgung Homosexueller.
Dies wird sogleich eindringlich in Person von Franz Bollek illustriert, mit dem der Violinist eine kurze Affäre hatte, und der zuerst ihn, dann auch das Pärchen erpresst. Es kommt zu Handgreiflichkeiten. Der junge Musikschüler flieht verängstigt in die Anonymität und muss sich fortan als Stehgeiger in Kneipen verdingen.

Bild: Edition filmmuseum
Wegen mehrerer anderer Erpressungsversuche landet Bollek schlussendlich vor Gericht. Unterstützt von einem weiteren Vortrag Hirschfelds, der sich nachdrücklich für die Streichung des §175 ausspricht, wird er wegen Erpressung zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Was den ebenfalls angeklagten Paul Körner betrifft, bedauert der Richter zwar, seinen Schuldspruch, er macht aber klar, dass ihm bei der Gesetzeslage nichts anderes übrig bleibt, als Körner nach §175 zu verurteilen. Die Strafe fällt jedoch mild aus. Eine Woche Gefängnis.
Die demonstrativ geringe Strafe reicht dennoch aus, um die Karriere des Solointerpreten zu zerstören. Seine Agentur feuert ihn. In einer dramatischen Szene nimmt der verzweifelte Musiker Gift und setzt seinem Leben ein Ende.
Bemerkenswert übrigens, wie das private Drama des Geigers und seines Geliebten in einen historischen Kontext gestellt wird. Der Film lässt zu Anfang und Ende eine Parade bekannter Homosexueller aufziehen, darunter Peter Tschaikowsky, Friedrich II., Oscar Wilde und König Ludwig von Bayern. Über ihnen hängt ein übergroßes Schwert mit der Aufschrift §175.
Zentral für die emotionale Wirkung des Films ist die Leistung des Hauptdarstellers Conrad Veidt, der seiner Figur Haltung und Noblesse verleiht, wenn auch (was für sämtliche Darsteller gilt) mit den damals üblichen übersteigerten Mitteln. Beim heutigen Betrachten muss man sich stets vor Augen halten, dass unser Empfinden für Pathos und Sentiment ein ganz anderes ist. Wie Veidt die Todesszene zelebriert, hat jedenfalls laut Zeitungsberichten zahlreiche Zuschauer:innen erschüttert und ihnen die Tränen in die Augen getrieben.

Bild: Edition fimmuseum
Conrad Veidt, der ein Jahr später mit „Das Cabinet des Dr. Caligari“ zu Weltruhm gelangte, war eine hervorragende Wahl, wie auch Fritz Schulz als schleimig-listiger Erpresser. Erwähnenswert ist auch der Auftritt von Anita Berber als Schwester des Musikschülers. Die Schauspielerin und Sängerin wurde in späteren Jahren mit ihren Nackttänzen berühmt und zu einer mythenumrankten Berliner Attraktion.
Erwartungsgemäß sorgte der Film für großes Aufsehen und gemischte Reaktionen, von strikter Ablehnung bis hin zur Begeisterung. Die Resonanz in der Presse war enorm. Einerseits wurde sein Anliegen von der Qualitätspresse wortreich gelobt, andererseits scheute man nicht vor antisemitischen Anwürfen gegen die beiden Juden Hirschfeld und Oswald zurück, um den Film schlechtzumachen.
Die komplette Handlung des Films und der Wortlaut von Hirschfelds Vorträgen kann man dem Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen entnehmen. Vom Film selbst existieren leider nur noch knappe fünfzig Minuten. Schon ein Jahr nach der Uraufführung wurde die Zensur wiedereingeführt und man hat dafür gesorgt, die meisten Kopien zu vernichten. Hirschfeld schnitt einige Szenen des Films neu zusammen und rettete sie, indem er sie mit anderen Aufklärungsfilmen in geschlossenen Veranstaltungen zeigte. Inzwischen gibt es eine vom Münchner Filmmuseum restaurierte Fassung auf DVD, die als stumme Version mit deutschen und englischen Zwischentiteln veröffentlicht wurde. Enthalten sind dort auch der Nachfolgefilm „Gesetze der Liebe“ (1927), in den Hirschfeld Teile des ersten Films einarbeitete; und Wilhelm Dieterles Spielfilm „Geschlecht in Fesseln“ (1928), der auf Forschungen aus dem Umfeld des Institut für Sexualkunde basierte.
Anders als die Andern
von Richard Oswald
DE 1919, 52 Minuten, FSK 0,
stumme OF mit deutschen und englischen Zwischentiteln
Als DVD