Shortbus (2006)
DVD
In seinem sexpositiven Klassiker „Shortbus“ (2006) schickt Regisseur John Cameron Mitchell eine Gruppe von New Yorker:innen auf die Suche nach Sinn, Intimität und sich selbst – und verfrachtet sie dafür in einen queeren Hipster-Club in Brooklyn. Hier soll Sexualität nicht Selbstzweck sein, sondern ein Medium für Sehnsüchte, Unsicherheiten und emotionale Bedürfnisse. Und vor allem: authentisch. Viel wurde zum Filmstart über die sehr expliziten Sexszenen geredet. Für unseren Autor Peter Rehberg aus heutiger Sicht „vielleicht der letzte queere Film, der das Thema Subkultur in einem sexuellen und politischen Sinne verhandelt.“ Und eine Erinnerung an eine pre-digitale queere Sexkultur.

Bild: Wild Bunch
Sex in Lieb und Bunt und Lustig
von Peter Rehberg
Jede Generation hat ihre eigene Form der queeren Subkultur. Für ein paar Jahre ist sie das Zentrum kultureller Erneuerung. Ein anderer Lebensstil, individuell und sozial, ein neuer Umgang mit Sex und Beziehungsformen kristalliert sich heraus, bis er benennbar und seine Bedeutung verstanden wird. Subkulturen kommen mit einem Verfallsdatum. Ein paar Jahre später ist es vorbei, diese Zeit wird zur Geschichte, manchmal zum Mythos. Stonewall. Die schwulenbewegten 1970er. Die Aids-Krise und Act-up in den 1980ern. Die Rave-Partys der 1990er.
Einerseits sind Subkulturen einfach eine Art und Weise jung zu sein. Das Älterwerden der Teilnehmenden bringt auch das Ende dieser Ära mit sich. Aber neben dem Feiern von Jugendlichkeit beinhalteten Subkulturen auch immer das Versprechen, dass hier etwas ausprobiert wird, was grundsätzlich anders ist, was im Mainstream nicht möglich war. Eine neue Art zu leben, ein neues Freiheitsversprechen. Die Strahlkraft von Subkulturen hat soziale und politische Konsequenzen.
Gibt es Subkulturen in diesem Sinne überhaupt noch? Oder waren sie ein Phänomen westlicher Wohlstandsgesellschaften, das mit dem 21. Jahrundert zum Erliegen gekommen ist? Hat die Liberalisierung der letzten Jahrzehnte nicht dazu geführt, dass sexuelle und geschlechtliche Minderheiten längst Teil der Mainstreamgesellschaft geworden sind? (So jedenfalls bis vor Kurzem).
John Cameron Mitchells Film „Shortbus“ von 2006 ist vielleicht der letzte queere Film, der das Thema Subkultur in einem sexuellen und politischen Sinne verhandelt. Mitchell, der zuvor mit „Hedwig and The Angy Inch“ (2001) berühmt geworden war, porträtiert in „Shortbus“ eine neue Subkultur und wirft dabei auch einen Blick zurück auf die queere Geschichte.

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New York in der ersten Hälfte der 2000er. Auch wenn es noch ein paar Jahre dauern wird, bis „Treatment as Prevention“ als Safer-Sex-Strategie bekannt wird – also die Tatsache, dass HIV-Positive unter der Nachweigrenze nicht ansteckend sind – und bis die PrEP auf dem Markt ist: Es hat sich schon herumgesprochen, dass die Kombi-Therapie so wirksam ist, dass HIV nicht länger eine tödliche, sondern eine chronische Infektion ist. Die Dramatik der Aids-Jahre ist verblasst, eine neue sexuelle Gelassenheit zieht ein.
Das macht Platz für die Beziehungs- und Sexexperimente in „Shortbus“ – einem Salon „for the gifted and challenged“, wie transgender Gastgeber:in Justin Bond sagt. Als Teil des Duos Kike and Herb wurde Sänger:in und Schauspieler:in Bond im realen New York der 1990er und 2000er zur Kultfigur. In „Shortbus“ spielt Justin Bond sich selbst. Die beiden Paare Sofia und Rob und Jamie und Jamie sind Gäste im Club. Sofia ist die Sextherapeutin der beiden Jamies, sie bevorzugt den Titel „couple counselour“. Beide Paare stecken in der Krise, das schwule wie das heterosexuelle. Depression bei den Jamies und Sofia hatte noch nie einen Orgasmus. Alle hoffen auf den therapeutischen Wert von offenen Beziehungen und Polyamory. „Monogamy is for straight people“, versuchen die Jamies sich selbst Mut zu machen, als sie ihren ersten Dreier auf der Shortbus-Party haben. „Shortbus“ ist wie das Update einer Hippie-Kommune, es geht hier liebevoller und diverser zu als man es von Berliner Partys kennt. Bis Sexpartys hauptsächlich online organisert werden, vor allem in den USA, ist es es noch ein paar Jahre hin. Von heute aus betrachtet ist Shortbus somit auch eine Erinnerung an eine pre-digitale queere Sexkultur.

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Das Besondere ist, dass hier das Alltags-Ich nicht für den Rausch der Nacht außen vor bleibt. Die queeren Menschen in Shortbus bringen ihre Verletzlichkeiten und Ängste mit. Nicht nur sexueller Kink steht im Vordergrund, sondern eine besondere Art von Bonding. „Finding the right connection“, darum geht es, so Justin Bond. Sex wird lieb und bunt und lustig. „Shortbus“ zeigt eine sexuelle Idylle, fast eine Utopie. Doch kann der Film die Melancholie nicht ganz abstreifen, was schon der Soundtrack zum Film mit Liedern von Scott Matthew, der durch seine Auftritte im Film berühmt geworden ist, verrät. Oder wie Justin Bond sagt: „Its just like the 60s only with less hope“.
Die Gäste sind Überlebende. Aids taucht nur noch historisch auf. Der ehemalige Bürgermeister von New York, Ed Koch (nicht vom wirklichen Ed Koch gespielt), ist auch zu Gast im Club und sucht bei dem jungen Ceth, der in einer Dreierbeziehung mit den Jamies landet, nicht nur Nähe, sondern auch Vergebung für die Fehler seiner Aids-Politik in den 1980er Jahren. Die Probleme in New York sind inzwischen andere. Nach dem 11. September 2001 herrscht ein Klima der Islamophobie und Paranoia. Gentrifizierung macht es für Künstler:innen und Student:nnen unmöglich, in Manhattan zu leben. Die legendären queeren Stadtteile West Village, East Village und Chelsea sind Teil der Outdoor-Mall Manhatten geworden. BDSM-Dominatrix und Künstlerin Severine ist verzweifelt: „When I cannot afford to live here anymore, where can I go?“ Für den Moment kann queere Kultur in Brooklyn überleben – hier finden auch die Shortbus-Parties statt.

Bild: Wild Bunch
Die Räume von Shortbus sind also weniger ein Refugium vor einer homo- und transphoben Welt. Sie sind ein Schutzraum für queere Menschen, denen es droht, aus der Stadt verjagt zu werden, weil ihr künstlerischer oder experimenteller Lebensstil im durchkapitalisierten New York unmöglich geworden ist. Wenn „Shortbus“ ein Film über das Ende queerer Subkulturen ist, dann nicht nur, weil eine sexuelle Befreiung diese etwa überflüssig gemacht hätte. Subkulturen gibt es auch deswegen nicht mehr, weil der kapitalistische Zugriff total geworden ist. In US-amerikanischen Großstädten ist dafür kein Platz mehr.
Ein Blackout bringt die Partygäste am Ende des Films noch einmal zusammen. Als Sofia ihren ersten Orgasmus hat, gehen die Lichter in der Stadt wieder an. Aber auch der weibliche Orgasmus kann die queere Kultur in New York nicht retten.
Shortbus
von John Cameron Mitchell
US 2006, 101 Minuten, FSK 18,
englische OF mit deutschen UT
Auf DVD