Berlin Alexanderplatz

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Burhan Qurbani verlegt Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ aus dem Jahr 1929 in die Jetztzeit. Aus dem Protagonisten Franz Biberkopf wird Francis, der nach einer illegalen Überfahrt von Afrika nach Europa in der deutschen Hauptstadt landet. Wie schon in der 14-teiligen Miniserien-Adaption von Rainer Werner Fassbinder aus den Achtzigern entsteht zwischen der gebrochenen, naiven Hauptfigur und dem mephistophelischen Reinhold eine enge Bande mit fatalen Folgen. Unser Autor Dennis Vetter hat drei Stunden voller Spannung und Spektakel, Konflikten und Körpern erlebt – und das Resultat als extrem aktuell und erschreckend traditionell zugleich empfunden.

Foto: Entertainment One

Francis liebt Reinhold und Reinhold liebt Francis

von Dennis Vetter

Ein junger Mann namens Francis erreicht nach einer harten Reise übers Meer die deutsche Küste und richtet sich auf, um in ein neues Leben zu gehen. Er will ein guter, ehrlicher Mensch werden und sich inneren und äußeren Abgründen zukünftig entgegenstellen – immer in der Hoffnung, mit sich selbst ins Reine zu kommen und letztlich seinem Herz zu folgen.

So funktionieren Mythen: Burhan Qurbanis Neuverfilmung des Döblin-Romans „Berlin Alexanderplatz“ fügt Versatzstücke des Originaltextes im heutigen Berlin wieder zusammen, als wäre die Zeit an dem Text spurlos vorübergegangen. Aus dem nur scheinbar einfältigen Arbeiter Franz Biberkopf aus der Weimarer Republik ist ein nun offensichtlich intelligenter geflüchteter Kerl geworden. Die Prämisse der Erzählung bleibt jedoch ähnlich in ihrer Tendenz und in ihren Konflikten: Qurbani fragt mit seinem Film, wie sich Gegenwart und Menschsein in der Stadt Berlin erzählen lassen und wie sich das politische Klima des Landes in die Lebensformen dieses Orts einschreibt. Berlin wird zum Kosmos, in dem Gewalten des Lebens aufeinandertreffen und in dem sich Schicksale entscheiden.

Drei Stunden lang Spannung und Spektakel, drei Stunden Konflikt, drei Stunden Körper, die aufeinanderprallen, sich wegstoßen und umarmen, sich gegenseitig zerstören und wieder aufbauen. Qurbani inszeniert den Film dicht und pulsierend. Das Kino ist eine Mythen-Maschine, es hat die Kraft, das scheinbar Vertraute zu ungeahnter Größe anwachsen zu lassen. Und so gibt sich der Stoff als einer der meistdiskutierten der jüngeren deutschen Kinogeschichte erneut dankbar der Kamera hin. Als Echo schwingt Fassbinders TV-Adaption aus den Achtzigern mit, die in ihrer extremen Länge von 15 Stunden dennoch den Erfindungsreichtum und die Radikalität eines Experimentalfilms mit sich brachte, aber immer auch mit einem schauderhaften Pessimismus und misogynen Spitzen liebäugelte.

Qurbani entscheidet sich überraschend für die Fortführung dieser Ebenen: Er umarmt die Vorlagen in all ihren Extremen und beschwört diese Extreme neu herauf. Wie Dämonen, die noch nach vier Jahrzehnten weder den Menschen noch der Gesellschaft ausgetrieben sind. Die Frauen gehen zugrunde an den Männern, die Männer an sich selbst. Wieder steht der Femizid am Höhepunkt des Films, als Opferritual unter zwei Kerlen, die über eine tote Frau ihren persönlichen Liebeskrieg austragen. Das ist nicht weniger frustrierend als in den Achtzigern. Nicht weniger pessimistisch. Nicht weniger uninteressant als Erzählung der Wiederkehr des immer Gleichen, dessen Tragik sich in der Wiederholung nur scheinbar politisiert. Was sich am Ende kommuniziert, damals wie heute, sind Männer als Handelnde und als definierende Gewalt in der Welt. Was den Frauen zugestanden wird, ist Beratung und Appell, Rettung und Schwangerschaft. Und ein paar seichte Lacher.

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An den Grundpfeilern, an einer Welt, die sich aus einer phallischen Perspektive zusammensetzt, rüttelt Qurbani nicht und taucht ein weiteres Mal ganz tief ein: Francis liebt Reinhold und Reinhold liebt Francis, wie einst Franz bei Fassbinder den Reinhold liebte und Reinhold den Franz. Der eine ist gebrochen und naiv, der andere frei in seinem Wahn, manipulativ und zwielichtig. Ihre Liebe ist eine „reine“ Liebe, die sich der Körperlichkeit nicht hingibt, sondern sich in den Frauen Platzhalterinnen sucht, Stellvertreterinnen, die im Bestfall zu Konkurrentinnen, im schlimmsten Fall zu Werkzeugen, dann sogar zu Objekt-Kulissen werden. Das alles in einer Stadt, deren Utopien, deren flüssige Sexualitäten und Körperlichkeiten als Spielereien abgetan werden. Queerness ist hier Freakshow, viel mehr fällt Qurbani nicht ein.

Was das Heute vom Gestern unterscheidet, verhandelt der neue „Berlin Alexanderplatz“ also nur in Auszügen. Während geschlechterpolitisch große Stagnation herrscht in diesem Film, ist die Welt dann doch auch komplizierter geworden. Besonders die Reinhold-Figur fällt auf, die bei Qurbani zu einem Teufel angewachsen ist, der dem Goethe-Mephisto und Konsorten durch Albrecht Schuchs giftige Spielfreude alle Ehre macht. Ein Teufel der Gegenwart: schön und hip, spielerisch und liebestrunken, aber auch verbogen, bucklig und gehässig, von Drogen gleichermaßen zum Übermenschen und Schatten transformiert. Ein Mann ohne Bodenhaftung, ein Anarchist wie der Joker bei Nolans „The Dark Knight“ und ein Trickser, der Hierarchien und Ruhe torpediert, die permanente Eskalation heraufbeschwört. Er predigt die Desorientierung, Gut und Böse sind für ihn keine intakten Koordinaten – oder in Reinholds Worten: „You want to be good in a world that is evil.“

Foto: Entertainment One

Qurbani ist die Verstärkung und Verästelung des Klassikers wichtiger als die Möglichkeit des Bruchs, er feiert die mythischen Motive und Konflikte, die die Passionsgeschichte eines einfachen Menschen und seines Zusammenbruchs in sich trägt. Sein Film fühlt sich somit wechselhaft an: extrem aktuell und erschreckend traditionell. Was Fassbinder damals reizte, war die Unausweichlichkeit von Empathie im Buch, der Zwang zur Auseinandersetzung mit einem weichen Mann, dessen moralische Koordinaten ungreifbar bis zweifelhaft blieben – auch in seiner Verfilmung war das über 15 Stunden hinweg so konsequent spürbar. Eine Festlegung, eine einfache Positionierung zur Figur, blieb dem Publikum neben allen Provokationen verweigert.

Qurbani hingegen erklärt und lässt erklären: Die Figuren sich selbst und die Frauen die Männer, wenn sie ihnen als Stimme der Vernunft ins Gewissen reden oder als Care-Arbeiterinnen und Sexarbeiterinnen die Abgründe aus den Typen herausarbeiten. Mietze (Francis’ große Liebe) spricht als spirituelle Stimme über den Film – nicht wie einst Fassbinder selbst zur poetischen Desorientierung, sondern zur Sicherstellung eines ethischen Rahmens. Qurbanis Film ist mitreißend, aber einfach, schließend mehr als öffnend, ausschöpfend mehr als zum Aufbruch anstiftend, versöhnlich mehr als polemisch. Desorientierend ist im Film letztlich nur das fehlende Bewusstsein für das Intersektionale: Eine scharfe Politisierung von Nationalität und Klasse bei nahezu völliger Ignoranz von Geschlechterfragen.

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Im Mythischen vergeht die Zeit anders, Mythen kehren zurück, setzen sich fest. Das macht sie schwierig und gleichermaßen mächtig. Doch Mythen sind auch Untote und deshalb besonders belastbar. Wie der Männerkörper im Film, der nicht sterben will, trotz aller Attacken und Amputationen. Es hätte mehr Entschlossenheit gebraucht, den Stoff einer wirklichen Belastungsprobe zu unterziehen.




Berlin Alexanderplatz
von Burhan Qurbani
DE/NL/FR/CA 2020, 183 Minuten, FSK 12,
deutsch-englische OF, teilw. mit deutschen UT,

Entertainment One

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