Joris Bas Backer: Küsse für Jet

Buch

Joris Bas Backer erzählt in seiner Graphic Novel „Küsse für Jet“ eine besondere Coming-of-Gender-Geschichte, angesiedelt zwischen dem Tod von Kurt Cobain im Jahr 1994 und der Jahrtausendwende. Jet ist 14 und lebt in einem Kaff in den Niederlanden. Auf dem Internat begreift sie ganz langsam, dass sie vielleicht mehr ein Junge als ein Mädchen ist. Backer erzählt die von eigenen Erfahrungen inspirierte Geschichte einfühlsam und zugleich mit viel Humor. Am meisten hat unsere Autorin Anja Kümmel aber die ungeheure visuelle Kraft des Buchs beeindruckt.

Die Welt durchs Fernglas

von Anja Kümmel

Zwei Seiten vollkommene Dunkelheit. Darin ein verlorenes Augenpaar, das erst traurig dreinblickt, dann wütend. Auf der nächsten Seite explodiert die Action in bester Comic-Manier: Wie ein Superheld fliegt Jet in die Lüfte, ballt die Fäuste und schlägt mit viel „BUF“, „BAM“ und „NNNNNG“ um sich. Das Dumme daran: Jet befindet sich in einem Kleiderschrank. Nicht lange, und der kippt um und begräbt Jet unter sich.

Diese Seiten ziemlich genau in der Mitte von Joris Bas Backers Graphic Novel „Küsse für Jet“ fallen wortwörtlich aus dem Rahmen. Nicht nur sticht ihre wilde Expressivität aus dem sonst eher unaufgeregten Erzähl- und Zeichenstil heraus – ganz nebenbei gewinnt die Redewendung, „in the closet“ zu sein, visuell eindrücklich neue Facetten.

Jet, die 16-jährige Hauptfigur des Comics, lebt in dieser Szene noch als Mädchen, fühlt sich aber zunehmend unwohl mit der weiblichen Geschlechterrolle. Es sind die 1990er Jahre – „Küsse für Jet“ beginnt mit dem Tod von Kurt Cobain und endet an Neujahr 2000, kurz vor der Explosion des Digitalen. Informationen zu nicht-heteronormativen Geschlechtsidentitäten sind dementsprechend rar; für queere Jugendliche gibt es nur wenige Möglichkeiten, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen – vor allem, wenn sie, wie Jet, in einem kleinen Vorort in den Niederlanden leben. So wird das Thema „Transgender“ erst gegen Ende explizit bearbeitet; in der ersten Hälfte des Buches begleitet Jet lediglich das vage Gefühl, irgendwie anders zu sein.

Ohnehin ist es für Jet eine Zeit großer Umbrüche: Die erste Regelblutung setzt ein, Kurt Cobain stirbt – für die Nirvana-Fans Jet und die beste Freundin Sasha ein großer Schock –, dann folgt der Umzug ins Internat. In ständig neue Situationen geworfen zu werden, kennt Backer aus seiner eigenen Jugend nur zu gut: Geboren in Den Haag, wuchs er in verschiedenen Ländern und Sprachen auf, u.a. in Bukarest und New York. Wie einfühlsam er sich seiner Hauptfigur nähert, wie gut man sich als Leser_in in Jet hineinversetzen kann, ist sicher nicht zuletzt diesen autobiographischen Elementen zu verdanken.

Joris Bas Backer – Foto: Marga van den Meydenburg 2020

In Schwarz-Weiß und gedecktem Türkis gehalten, spiegeln die tiefhängenden Wolken über der meist verregneten niederländischen Stadt die drückende Atmosphäre wider, in der Jet aufwächst, aber auch eine Art introvertierte Gemütlichkeit. Aus dem geschützten Raum seines Dachzimmers heraus beobachtet Jet mit dem Fernglas coole Jungs auf der Straße, wenn er nicht gerade in stundenlanger vertiefter Bastelarbeit Collagen aus Kurt-Cobain-Starschnitten und eigenen Fotos erstellt. Im Internat sieht man Jet in eine Decke eingewickelt unter dem Schreibtisch sitzen, wo er heimlich im Kegel einer kleinen Lampe schwule Erotikmagazine anschaut. Dann und wann bricht das Höhlenartige der Szenerie auf, wenn z.B. ein Vogel auffliegt, jäh die Sicht in den Himmel freigibt und so mit einfachen Mitteln der Blickführung neue Möglichkeitsräume eröffnet.

Statt langer Dialoge setzt Backer ganz auf die Kraft des Visuellen; viele Doppelseiten sind komplett wortlos gehalten. Dass Jet ein behutsamer, stiller Zeitgenosse und ein genauer Beobachter ist, braucht nicht erklärt zu werden, die Panels zeigen es. So erleben wir durch seine Augen, wie er vorsichtig neue Umgebungen abscannt und dabei an bestimmten Details hängenbleibt: Zunächst sehen wir das Internatsgebäude von Weitem, dann einen leeren Flur, eine vertrocknete Zimmerpflanze in der Ecke, dann Jets noch seelenloses Zimmer voller Umzugskartons. Dialoge setzt Backer eher sparsam ein, dafür mit größtmöglicher Authentizität, in Form von Halbsätzen, Slangausdrücken, Ausrufen und Füllwörtern, die äußerst lebensnah die Gespräche der Jugendlichen abbilden. Emotionen indes deuten sich oftmals lediglich in errötenden Wangen, Fragezeichen in einer Denkblase, Regen- oder Gewitterwolken über den Köpfen der Figuren an.

Auch die dunklen Zonen der menschlichen Seele streift Backer immer wieder, ohne sie moralisch zu werten oder auch nur zu erklären. Da ist etwa Jets beste Freundin Sasha, die sich zwar als hilfsbereit und zugewandt erweist, aber auch verletzend und übergriffig sein kann. Oder der Angeber Stef mit seinen Macho-Allüren, der Jet auf einer Party küsst, vor anderen aber als „Weirdo“ oder „Lesbo“ beschimpft. Auch schwere Themen wie selbstverletzendes Verhalten und sexuelle Übergriffe werden angeschnitten – die Interpretation der jeweiligen Situation indes bleibt uns überlassen. Da sich „Küsse für Jet“ thematisch an Teenager wendet, mögen diese Ambivalenzen und Ellipsen jugendliche Leser_innen bisweilen überfordern.

Das Thema „Gender“ zeichnet sich zunächst eher zwischen den Zeilen ab, meist in Zuschreibungen und Anforderungen von außen („Warum trägst du keine engere Kleidung? Du bist dünn. Du könntest hübsch sein.“), die bei Jet Unwohlsein auslösen und Fragen zur eigenen Identität aufwerfen.

Schließlich sind es zwei Ereignisse, die Jets „Coming-of-Gender“-Prozess entscheidend beeinflussen: Zum einen die erste Verliebtheit in einen anderen Außenseiter auf dem Internat, zum anderen Sashas neugieriger Übereifer, was das Thema „Transgender“ angeht. Allmählich verdichtet sich Jets vormals vages Gefühl, „eigentlich ein Junge“ zu sein, zur Gewissheit. Alles gerät – buchstäblich – ins Rollen, ins Wanken, was sich gekonnt im veränderten Zeichenstil widerspiegelt: Die Strichführung zittert, Tapeten- und Gardinenmuster werden lebendig, ein Panel steht auf dem Kopf. Wortfetzen, Gefühle und Gedanken drehen sich in einem wilden Strudel, während Jet Fahrrad fährt und sich die Proportionen der Stadt auflösen, alles Bekannte zu entgleiten und sich neu zusammenzusetzen scheint.

Der letzte Teil des Comics schließlich gewährt ironisch-kritische Einblicke in Jets Odyssee durch einen Dschungel mehr oder weniger kruder Theorien („Es heißt, Transsexuelle seien häufiger Linkshänder“), die mehr Verwirrung stiften als weiterzuhelfen. Auch Jets Erstgespräch in einer Klinik verläuft ambivalent: Einerseits fühlt Jet sich endlich ernst genommen und kann seine Gedanken und Gefühle ausdrücken, andererseits drängen ihn Ärzte und Psychologen erneut in eine bestimmte Schiene („Was haben Sie gespielt? Typische Jungenspiele?“) und klassifizieren sein Empfinden als „Störung“, die einen starken „Leidensdruck“ voraussetzt. Doch auch die „Inquisitionen“ durch den medizinisch-rechtlichen Apparat nimmt Backer mit Humor: So bricht etwa der Arzt, während er Jet den „typischen Transitionsablauf“ erklärt, in eine Musical-Persiflage aus, was auf komische Weise den Unsinn einer strikt choreographierten, für alle trans Menschen genormten Routine in Szene setzt.

Es zeugt von Jets neu gewonnenem Selbstbewusstsein, dass er die „Performance“ des Arztes mit den lakonischen Worten beendet: „Ich will mir aber die Haare nicht abschneiden. Kurt Cobain hatte die so.“ Alles ist neu, und knüpft zugleich an den Ausgangspunkt von Jets Identitätsfindung an.




Küsse für Jet
von Joris Bas Backer
Klappenbroschur, 188 Seiten, 20 €,
Jaja Verlag

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