Baby Jane

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Jonna ist gerade zum Studium nach Helsinki gezogen und taucht voller Abenteuerlust in das pulsierende Nachtleben ein. In einer queeren Bar lernt sie Piki kennen – und ist sofort fasziniert von der geheimnisvollen Frau mit der dunklen Stimme, die ihr ein ganzes Universum neuer Erfahrungen eröffnet. Katja Gauriloffs rauer Liebesfilm „Baby Jane“ zeigt Shootingstar Roosa Söderholm und die Sängerin Maria Ylipää als Paar, dessen stürmische Beziehung auch entlang von Abgründen verläuft. Unsere Autorin Anja Kümmel über eine flirrend-spannende Thriller-Romanze, die gängige Seh- und Deutungsgewohnheiten durchkreuzt.

Foto: Salzgeber

Achterbahnfahrt mit Filmrissen

von Anja Kümmel

„Was würdest du gern mit mir machen?“, fragt Piki Jonna nach der ersten gemeinsam verbrachten Nacht. Jonna scheint etwas überrumpelt von dieser Frage, streift sie doch gerade erst schlaftrunken durch Pikis Wohnung, inspiziert mit kaum verhohlener Neugier ihre Regale, ihre Plattensammlung. Piki, auf dem Sofa lümmelnd, macht mit provokantem Lächeln Vorschläge wie „einen Milchshake mit zwei Strohhalmen trinken“ oder „in den Vergnügungspark gehen“. Während sie spricht, fällt Jonnas Blick auf einen Haken an der Decke, in dem Eingeweihte unschwer eine Hängevorrichtung für Bondage-Spiele erkennen dürften. Aha – da erklärt also die toughe, S/M-affine Butch der naiven blonden Babylesbe vom Land, was Sache ist … In diesem Licht lässt sich Pikis ironische Aufzählung typisch romantischer Aktivitäten als kokette Ablehnung all dessen deuten, was ihr sicherlich viel zu „vanilla“ ist.

Erst später verstehen wir, dass das Auslegen falscher Fährten zum zentralen Konstruktionsprinzip von „Baby Jane“ gehört: Katja Gauriloffs Spielfilmdebüt strotzt nur so von starken visuellen Eindrücken, aus denen wir Interpretationen des Geschehens zu ziehen versuchen, um der spröden Handlung, den minimalistischen Dialogen einen Sinn abzuringen. So charismatisch wie enigmatisch verkörpern Roosa Söderholm und die Sängerin Maria Ylipää die Hauptrollen in dieser Romanze, die so rau ist wie das finnische Klima. Ihr Wohin und Woher bleibt weitgehend im Dunkeln: Wir wissen nichts über Jonnas Background, nur dass sie relativ mittellos in Helsinki strandet und ab und an mit ihrer Mutter telefoniert. Frauen zu begehren und sich in Piki zu verlieben, ist für Jonna offensichtlich kein Problem, obwohl später angedeutet wird, dass sie vorher vor allem Hetero-Erfahrungen hatte. Piki hingegen scheint schon immer lesbisch gewesen zu sein. Sie lebt allein, umgeben lediglich von einer lose gestrickten queeren Wahlfamilie, die jedoch, bis auf Pikis undurchschaubare Ex-Freundin Bossa, eher eine eklektische Zusammenstellung verschiedener Prototypen bleibt.

Mit ihrer elliptischen Erzählweise durchkreuzt Gauriloff gängige Seh- und Deutungsgewohnheiten, was zunächst irritiert, zugleich aber auch eine flirrende Spannung erzeugt, die sich manchmal bis ins beinahe Unerträgliche steigert. Denn dass irgendetwas Dunkles in der sich langsam entwickelnden Dynamik zwischen Jonna und Piki lauert, ist schnell klar. Immer wieder gewährt Gauriloff ihren Zuschauer_innen flüchtige Einblicke in mögliche Abgründe, nur um dann die Leinwand in Schwärze versinken zu lassen oder rätselhafte Bilder von Raubtieren oder Achterbahnfahrten zwischenzublenden.

Folgt man den anfangs ausgelegten Fährten, wähnt man sich zunächst vielleicht in einer lesbischen Variante von „Fifty Shades of Grey“. Doch um diesen Hype zu bedienen, werden die sporadisch eingestreuten Fesselszenen, die kleinen Machtspiele zwischen den beiden Frauen viel zu wenig pornographisch ausgeschlachtet. Und allmählich begreift man, dass die vermeintlich „dunkle“ S/M-Sexualität, die Jonna und Piki offensichtlich einvernehmlich und lustvoll ausleben, wenig bis gar nichts zu tun hat mit der Abwärtsspirale ihrer Beziehung.

„Du musst keine Angst haben, ich bin doch da“, sagt Piki an einer Stelle zu Jonna. Unweigerlich fragt man sich, wovor Jonna Angst haben sollte. Vor etwas, das in ihr aufplatzen könnte, in Pikis Gegenwart? Oder sollte sie Angst haben, gerade weil Piki da ist? Etwas später, an einem lauen, ausgelassenen Sommerabend in einem Biergarten, schenkt Piki Jonna ein Messer. „Es ist mir wichtig, dass du geschützt bist“, erklärt sie. „Es ist mir wichtig, dass ich mich um dich kümmere.“ Und wieder bricht die flüchtige Ahnung einer namenlosen Bedrohung in die beschwingte Leichtigkeit ihrer frischen Romanze.

Foto: Salzgeber

Piki, haben wir zu diesem Zeitpunkt bereits verstanden, traut sich nur selten unter Menschen, und wenn, dann nur mit ziemlich viel Promille im Blut. An manchen Tagen schafft sie es kaum auf die Straße, geschweige denn in den Supermarkt. Kurz gesagt: Sie leidet an einer generalisierten Angststörung, die ihr ein „normales“ – oder besser: erfülltes – Leben extrem erschwert.

Statt Dirty Talk flüstert sie Jonna beim Sex Fantasien von Ausflügen, von einem ganz normalen Familienleben, der Verantwortung für ein Kind ins Ohr. In der Realität hingegen kann sie ihr Selbstbild als starke Beschützerin kaum noch aufrechterhalten. Immer häufiger taucht ihre Ex-Partnerin Bossa unangekündigt in der Wohnung auf, und für Jonna setzen sich nach und nach die Bruchstücke eines unfreien, beschämenden Lebens zusammen: Noch immer wäscht Bossa Pikis Wäsche und bringt ihren Müll runter, undurchsichtig changierend zwischen eifersüchtiger Ex-Liebhaberin, mütterlicher Fürsorgerin und Gefängniswärterin. Eine toxische Melange aus symbiotischer Abhängigkeit, Eifersucht, Neid und gegenseitigem Misstrauen nimmt ihren Lauf, verstärkt noch durch die finanziell prekären Verhältnisse, in denen Piki und Jonna leben.

Dabei konfrontiert Gauriloff diese Probleme selten direkt, sondern spielt sie geschickt über Bande, wodurch Sprachlosigkeit, Überforderung und Verstörung ihrer Figuren noch deutlicher zum Tragen kommen. Bewunderung verdient insbesondere die außergewöhnliche Bildsprache des Films: Die Enge von Pikis stets abgedunkeltem Zimmer, kontrastiert mit der beinahe unwirklich steril-weißen Welt gutbürgerlicher Hetero-Paare, in der Frauen lediglich als Deko ihrer erfolgreichen Männer dienen. Expressionistisch verschobene Perspektiven, verwackelte Einstellungen und flüchtige Bildausschnitte, die sich ohne sinngebenden Kontext ins Hirn brennen und dort ein paranoides Eigenleben entwickeln: Ungläubige Blicke, verschmiertes Make-up, unerwartete Anrufe, ein heftiges Keuchen. Stellenweise fühlt sich „Baby Jane“ ein bisschen an wie ein Horror-Film, bei dem man die Augen schließt, wodurch sich das Ausgeblendete jedoch nur umso hartnäckiger in die Imagination frisst.

Foto: Salzgeber

Dramaturgisch gesehen ist der Drift Richtung Psychothriller, den „Baby Jane“ im letzten Drittel einschlägt, sicherlich nicht die schlechteste Wahl, erlaubt er doch der Regisseurin, diese stilistischen Mittel voll auszuschöpfen. Allerdings kann ihre Darstellung von Mental Health Issues, an denen nicht nur die Beziehung, sondern auch eine der Hauptfiguren zerbricht, auf anderen Ebenen als problematisch angesehen werden. „Baby Jane“ basiert auf dem gleichnamigen Roman der finnischen Autorin Sofi Oksanen, der 2005 erschien und in den 1990er Jahren in Helsinki spielt. Zwar hat Gauriloff den Stoff in die Gegenwart verlagert, doch ihre Verhandlung psychischer Krankheiten wirkt aus heutiger Sicht anachronistisch und möglicherweise verstörend für Menschen, die selbst davon betroffen sind. Waren Panikstörungen vor 20 Jahren noch tabuisiert, gibt es heute weitaus mehr Informationen, die öffentlich zugänglich sind – Blogs, Zines, Podcasts, gerade auch von Betroffenen, die viel dazu beigetragen haben, die Stigmatisierung ihrer Krankheit aufzuheben.

Im Film hingegen sieht man Jonna lediglich einmal verstohlen ein Buch zum Thema Panikattacken aus dem Regal ziehen; ob sie es liest oder etwas daraus lernt, bleibt offen. Stattdessen wird Pikis Situation als ausweglos, ein Zerbrechen der Beziehung als unvermeidbar dargestellt. Vielleicht brauchte Gauriloff dieses düstere Szenario, um Spannung aufzubauen – dennoch hätte man sich im Jahr 2020 eine einfühlsamere und optimistischere Verhandlung der Thematik gewünscht. Zugute zu halten ist der Regisseurin, dass sie implizit immer wieder das finnische Gesundheitssystem anklagt, das marginalisierten und ärmeren Menschen die Hilfe versagt, die sie benötigt hätten, um einen Ausweg aus ihrer Misere zu finden. Traurig und eindrücklich etwa ist die Rückblende in eine Zeit, als Piki noch eine Therapie machen konnte, die von der Krankenkasse übernommen wurde. In diesen Erinnerungen sitzt sie auf einer Bank im Park und liest ein Buch – rare Glücksmomente, die ihr Hoffnung gaben und ihre Lebensfreude aufrecht erhielten. Dass einen die Liebe allein nicht retten kann, ist vielleicht die tragischste Message des Films.




Baby Jane
von Katja Gauriloff
FI 2019, 90 Minuten, FSK 16,
finnische OF mit deutschen UT,

Salzgeber

Hier auf DVD.

vimeo on demand

VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)


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