Christine Wunnicke: Die Kunst der Bestimmung

Buch

Während Christine Wunnicke in ihrem aktuellen Buch „Die Dame mit der bemalten Hand“ von der Begegnung zweier schräger Wissenschaftler im Jahre 1764 erzählt, geht es in „Die Kunst der Bestimmung“ (2003) um das Aufeinandertreffen eines kauzigen skandinavischen Akademikers und eines unberechenbaren Adeligen. Der schwedische Professor Simon Chrysander ist berühmt für seine Fähigkeit, Dinge zu ordnen und zu bestimmen. Im Jahr 1678 bestellt ihn die englische Royal Society nach London, um ihre naturkundliche Sammlung zu sortieren. Doch je mehr Struktur er in das obskure Durcheinander aus konservierten Kuriositäten bringt, desto mehr stürzt sein eigenes Dasein ins Chaos. Verantwortlich hierfür ist der junge Lord Fearnall, der sich allen Ordnungsrastern entzieht. Ein Kräftemessen zwischen Abwehr und Zuneigung, Ratio und Ungewissheit, Leben und Tod. Matthias Frings über einen beinah makellosen Roman, der jetzt als Neuausgabe vorliegt.

Die Welt ist grün und durcheinander

von Matthias Frings

In erster Linie sind es wohl nicht die philosophischen Köpfe oder begnadeten Stilisten, sondern die geborenen Erzähler, die die Initialzündung dafür liefern, warum wir lesen, warum wir es manchmal nicht abwarten können, endlich nach Hause zu kommen und den Fortgang einer Geschichte zu erfahren. Christine Wunnicke – weit davon entfernt, kein philosophischer Kopf oder keine begnadete Stilistin zu sein – ist eine solche Erzählerin, was sie gleich in der ersten Szene ihres Romans beweist: In einem Marktflecken in Lappland erscheint im Jahr 1679 ein Reisender mit einem Schlitten. Darauf befindet sich ein Eisblock, „darin eingeschlossen, gleichsam schwebend, den Kopf geneigt, das linke Bein leicht angewinkelt wie in einem zaghaften Sprung, war ein Mensch.“

Und sofort spielt das wichtigste Schriftzeichen aller guten Erzähler eine Hauptrolle: das Fragezeichen. Wie kommt der hübsche junge Mann mit den langen roten Haaren ins Eis? Warum transportiert der so ernst wirkende Mann ihn durch Lappland? Was ist hier geschehen?

„Die Kunst der Bestimmung“ erzählt eine dramatische Liebesgeschichte zwischen zwei Männern, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Simon Chrysander heißt der eine, ein ehrenwerter Gelehrter Anfang Dreißig aus Uppsala, und Lucius Lawes der andere, der blutjunge Earl of Fearnall, den wir zuerst nicht nur unter anderem Namen, sondern auch mit einem (scheinbar?) anderen Geschlecht antreffen.

Christine Wunnicke – Foto: privat

Dr. Chrysander ist nach London eingeladen worden, um die wild wuchernde naturkundliche Sammlung der Royal Society als Kurator zu bestimmen und nach Kategorien zu ordnen, von Aalschleim über Blasensteine und Schwertfischschwerter bis zu eingelegten Hoden. Eine gute Wahl, denn die Dinge der Welt in eine beruhigend übersichtliche Reihenfolge zu bringen, bis alles seine Ordnung hat, ist Dr. Chrysanders Forte und Passion.

Das betrifft auch sein Sexualleben, dem er in einem Londoner Bordell zwecks Triebabfuhr frönen will. Flugs begibt er sich zur Hure Lucy, die in die Knie geht und ihn bittet, ihr Haar zu halten, „bis die Pumpe Wasser gibt“. Dr. Chrysanders Pumpe will aber nicht recht, weil irgendetwas an Lucy ihn ablenkt und besorgniserregend fasziniert. Der lange Körper, so zart, aber auch stark und mit großen Händen und Füßen, der weiße Hals, das schöne lange Haar. Außerdem spricht sie. Viel und klug. Nachdem sie seine Profession erfahren hat, will auch sie geordnet und bestimmt werden: „Es ist schwer, nicht wahr?“ Oh ja, es ist schwer, besonders bei ihr, denn Lucy ist nicht Lucy, sonder Lucius, der junge Earl of Fearnall aus dem Königsgefolge, ein rechter „Sprudelkopf“, der nicht die geringste Ahnung hat, wer oder was er eigentlich ist und will. „Für Lucius ist die Welt grün und durcheinander. Und voller Affen.“

Chrysanders gesittetes Leben gerät schlagartig in die Schräge. Diese Lucy will ihm nicht aus dem Sinn – der Hals, das Haar –, und als Lord Fearnall ihm in tausend Verkleidungen nachstellt, ein Mensch im Plural, als Landgeistlicher, als Bauer, als Adeliger im blauen Rock oder ganz in Weiß als Winterwolke, und ihn bedrängt, auch ihn „zu bestimmen“, weiß Chrysander schließlich, was der Grund für seine tiefe Gefühlserschütterung ist, aber bestimmen kann er dieses Wesen dennoch nicht. Und sich selbst erst recht nicht.

Da haben sich die Richtigen gefunden: Lucius/Lucy, der „verwilderte Lord“, will gebändigt und erkannt werden, und Chrysander muss lernen, seinen Ordnungswahn, der vor allem Angst vor dem Chaos ist, zu überkommen. Allerdings müsste er dazu stehen, dass er sich in einen jungen Mann verliebt hat, und dieser junge Mann muss herausfinden, wer genau er ist und was er begehrt. Immerhin ist „ein Faden gerissen im farbenreichen Gewebe des Earl of Fearnall“, und er ist jung, tatkräftig und hormongetrieben genug, um Chrysander auf die groteskesten, lustigsten Weisen nachzustellen, was nach einigen Schwierigkeiten inklusive Duell schlussendlich im Bett zu zahlreichen „Erfreuungen“ führt und einem „Objekt namens Liebe“ – die dann aber wiederum nur Ausgangspunkt für eine weit tiefergehende Liebeserfahrung der beiden ist.

Es ist bedauerlich, liegt aber am aufregenden Changieren des Romans, dass selbst eine umfassende Inhaltsangabe dem Esprit und der Intelligenz, der Fabulierfreude wie der Menschen- und Leibesfreundlichkeit des Romans nicht ansatzweise gerecht würde. Ein zusätzliches Plus: Trotz seiner Erstveröffentlichung im Jahr 2003 ist das Buch von frappierender Aktualität, weil es den stilistisch so abschreckenden akademischen Diskussionen um Sex und Gender eine atmosphärisch dichte, wundervoll irisierende und ganz frische Sprache verleiht – Literatur eben.

Ein ganzes Geflecht von Beziehungen tut sich auf im Lauf der Handlung, man denkt an Wittgensteins Sprachspiele, an Faust und das Leiden an der Unmöglichkeit der Erkenntnis. Es geht um das Feste und das Flüssige, die Angst vor Veränderung und die Sehnsucht nach Gewissheiten, alles große Themen unserer Zeit. Und doch wird hier nie doziert, es ist im Gegenteil erlaubt, sich mit heißem Herzen in die zauberhafte Liebe der beiden Protagonisten zu stürzen und jeden Über- wie Unterbau in den Wind zu pfeifen. Geerdet wird die turbulente Dramaturgie nämlich durch eine betörende Sprache, originell, voller Esprit, Witz und Ironie, ungeheuer kenntnisreich im historisch präzisen Jargon und dennoch ganz klar. Gleiches gilt für das Personal, eine Revue köstlicher Charakterköpfe, trefflich ausgemalt. Wenn Christine Wunnicke etwa die skurrilen Wissenschaftler der würdigen Royal Society verspottet, bleibt kein Auge trocken. Das hat Dickens-Format. Und erst die Annäherung der beiden Liebenden, dieser Frühling auf vereistem Grund, so berührend zart und doch ohne jedes Pastell. Wem die stürmische Liebesgeschichte dieser beiden Protagonisten nichts an Herz geht, der hat keins.

Gegen Buchende geht es auf eine mythisch angehauchte Reise in den Norden, existentielle Räume öffnen sich, es ist mehr ein Raunen als ein Schreiben. Vielleicht sind diese Passagen ein wenig ausgewalzt, doch man ist fast froh, festzustellen, dass die Autorin vielleicht nicht frühzeitig genug den Ausgang aus ihrer Geschichte gefunden hat, denn ansonsten wäre die Makellosigkeit dieses kleinen großen Romans kaum auszuhalten.




Die Kunst der Bestimmung
von Christine Wunnicke
Gebunden mit Schutzumschlag, 282 Seiten, 22,00 €
Albino Verlag

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