Akrobaten

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Zwei Fremde begegnen sich in einer unfertigen Wohnung. Christophe ist offensichtlich reich, attraktiv und erfolgreich, zumindest auf den ersten Blick, Micha ein in Russland geborener Hochseilartist, dessen Karriere durch ein gebrochenes Bein gefährdet ist. Aus dem ersten anonymen Treffen entwickelt sich ein körperlich und seelisch extremes Verhältnis, in dem die Abhängigkeiten ständig zu changieren scheinen: Wer dominiert, wer manipuliert wen? „Akrobaten“ ist bereits der sechste Spielfilm des kanadischen Regisseurs Rodrigue Jean („Alex – Süchtig nach Liebe“). In der expliziten, eiskalten Darstellung einer ambivalenten Sexbeziehung erkennt unser Autor Philipp Stadelmaier die zeitgenössische und porno-queere Variante eines Skandalfilms aus dem Jahr 1972. Nur mit anderen Gespenstern.

Foto: GMfilms

Der letzte Drahtseilakt in Montréal

von Philipp Stadelmaier

Der geheime Protagonist von Rodrigue Jeans neuem Film „Akrobaten“ ist vielleicht Montreal. Die großformatigen Bilder einer Großbaustelle, auf der Hochhäuser, Büros und Wohnungen entstehen, eröffnen den Film und schieben sich immer wieder zwischen die beiden Männer, die sich hier treffen, in einer halbbezugsfertigen, halbnichtbezugsfertigen Wohnung hoch oben über der kanadischen Metropole. Kräne, Hausstrukturen, Fundamente im winterlichen Dauerschneegestöber unter grauem Himmel erzeugen eine reglose, kühle, stumme Präsenz, einen unfertigen und unwohnlichen Raum, in dem zwei Körper zusammenkommen, aber nicht zusammenbleiben können. Die Wohnung ist „schlecht gebaut“, sagt einer von ihnen. Ein Ort in fortlaufender Entstehung, aus dem keine Heimat werden kann. Indem die Stadt-Bilder die Szenen in der Wohnung unterbrechen und skandieren, öffnen sie das Innen der Behausung auf ein Außen, weisen sie den Verkrochenen wieder den Weg in die Kälte hinaus.

Der geheime Protagonist mag Montreal auch deshalb sein, weil die Stadt, im Gegensatz zu den beiden Männern, einen Namen hat. Das heißt nicht, dass Christophe und Micha namenlos wären, doch füreinander sind und bleiben sie es doch: „Keine Namen“, fordert Micha am Anfang ihrer Affäre.

Christophe ist Kanadier, bürgerlich-elegant gekleidet, in Mantel und Wollschal, der Mann hat Geld, wobei das so klar nicht ist: Wir wissen nicht, was und ob er arbeitet. Anfangs zeigt eine Maklerin Christophe die Wohnung. Auf dem Balkon trifft er Micha, einen maskulinen, kräftigen, ruppigen russischen Hochseilakrobaten, auf Krücken. Er hatte einen Unfall, der keiner war: „Jemand wollte meinen Job.“ Als die Maklerin weg ist, haben sie aus dem Nichts eine heftig sexuelle Begegnung: Micha reißt Christophe zu Boden, zieht ihm die Hose runter und nimmt seinen Schwanz in den Mund.

Daraufhin treffen sie sich immer wieder in diesem Apartment, das Christophe gekauft und doch nie richtig einrichtet hat, außer mit einer Matratze auf dem Boden, Alkohol und Zigaretten. Beim zweiten Mal gibt Christophe dem anfangs noch dominanten Micha einen Handjob. Beim dritten Mal rasiert er dem Akrobaten die Beine, der daraufhin eine Golden Shower auf ihn herabregnen lässt: zuerst vorne, dann über die Haare, dann auf den gebeugten Rücken, das weiße Anzugshemd färbt sich uringelb. Dann wechseln die Rollen. Micha hat Hunger, und Christophe bestellt ihm nach langem Warten eine Pizza, die er ihn erst essen lässt, nachdem er ihm mit einer brennenden Zigarette den Rücken verbrennt – den Pizzaboten bezahlt er fürs Zusehen. In einer weiteren Nummer peitscht er dem fröstelnden Micha unter der Dusche mit einem Computerkabel den Rücken aus. Eine klassische Sexszene gibt es natürlich auch.

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Was es in diesem Film hingegen nicht gibt – außer einem Miniküsschen auf die Schläfe des schlafenden Akrobaten – ist Zärtlichkeit. Nur roughen, direkten Sex. Die offenbar mit Bodydoubles gedrehten Sexszenen sind explizit pornographisch und implizit verzweifelt, da sie die Tatsache ausstellen, dass Christophe und Micha nur miteinander ficken, aber nicht reden, und schon gar nicht über sich, also darüber, was sie außerhalb der Wohnung machen. In ihren Tagesaktivitäten setzt sich die Aphasie dann ebenfalls fort. Christophe fährt zu seiner kranken Mutter ins Pflegeheim, mit der er auch nicht kommunizieren kann. Micha verbringt die Tage bei seiner Artisten-Truppe und hilft bei den Vorbereitungen ihres nächsten Auftritts. Er scheint sich grummelnd in sein Schicksal zu fügen, ab sofort nicht mehr selbst auf dem Trapez durch den Raum zu schwingen, sondern von unten die Seile zu halten. Tatsächlich hält er den Mund, weil er etwas anderes im Schilde führt.

Die anonyme, körperliche Beziehung zwischen den Männern, die winterlich-unwirtliche Stadt, die leere Wohnung, selbst die Dramaturgie des Films: all das macht aus „Akrobaten“ eine zeitgenössische und porno-queere Variante von Bernardo Bertoluccis „Letzten Tango in Paris“ von 1972, in dem Marlon Brando und Maria Schneider unter ähnlichen Umständen aufeinandertrafen. Bertoluccis Skandalfilm war nicht zuletzt eine Reflexion über die Beziehung zwischen Regisseur und Schauspielerin. Bekanntermaßen haben Brando und Bertolucci Schneider missbraucht und die Vergewaltigungsszene gedreht, ohne sie einzuweihen. Aber während sich Bertolucci (und stellvertretend für ihn Brando) in erster Linie für Schneiders äußeren Reaktionen interessierten, gibt es (was oft vergessen wird) im Film einen weiteren Regisseur, den von Jean-Pierre Léaud gespielten Verlobten Schneiders, der mit seiner Handkamera im Stile des Cinéma Vérité die innere Wahrheit ihres Wesens enthüllen will.

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Im Grunde war Bertoluccis Film – abgesehen vom eigenen moralischen Bankrott im Umgang mit Schneider – via Léaud eine Totenerklärung der 68er-Revolution und der Nouvelle Vague. Es gibt hier keine Wahrheit des spontanen Filmens auf der Straße mehr, keine „vérité“, nur noch Fremdheit. Bertolucci denunzierte das Cinéma Vérité als egoistische Selbstbefriedigung und Nullpunkt der Kommunikation, in einem kalten, leeren, entpolitisierten Paris, das den Glanz der Jugendbewegung verloren hatte, sich in privater Selbstgenusswut vernichtete. Schneider hat keine Identität, ist eine reine Projektionsfläche für zwei Männer, Brando und Léaud, deren Projektionen ihrerseits an ihr zerbrechen. Somit ist der Film ein Abgesang aufs moderne Kino, auf die dekadent und narzisstisch gewordene französische Avant-Garde (Léaud) wie auch aufs amerikanische Method-Acting (Brando). Daher die Spiegel, die Zerstückelung und Brechung der Bildausschnitte, die Einstellungen durch farbgetönte und geriffelte Scheiben, bei Dunkelheit und gedämpften Licht. Das Bild ist ein Sarg, aber auch ein Kaleidoskop, es betreibt die Einsargung einer Epoche und ihres Kinos und es eröffnet eine facettenreiches Parade ihrer Gespenster.

Foto: GMfilms

In Jeans Film erkennt man eine ähnliche Ästhetik: Der Breitwandbildausschnitt wird durchschossen von Linien und Rahmen: der Türen, Fenster und Balkone, der Kräne und Hochhäuser. Jedoch gibt es hier – und damit bewegt er sich ganz und gar in unserer Gegenwart – keine Kinotradition mehr, die verabschiedet oder beerdigt werden muss, und kein bestimmtes Bild „unserer Epoche“, das noch durchs Kino gegeben wäre. Was fehlt, sind die Gespenster des Kinos, das ausgedient hat. Was bleibt, ist kalte Wirklichkeit. Das Einsargen und Einfrieren unserer Epoche geschieht nunmehr außerhalb des Kinos: in der Welt, in den Städten, zwischen unseren Körpern wie jenen von Christophe und Micha.




Akrobaten
von Rodrigue Jean
CA 2019, 133 Minuten, FSK 18,
OF mit deutschen UT,

GMfilms

Ab 30. Oktober als DVD und VoD.

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