Heute gehe ich allein nach Hause

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Als Gabriel neu in Leonardos Klasse kommt, ist es eben nicht Liebe auf den ersten Blick. Denn Leonardo ist blind. Und er will endlich loskommen von den übervorsichtigen Eltern. Daniel Ribeiros mit Preisen überhäufter Spielfilm „Heute gehe ich allein nach Hause“, der ab sofort im Salzgeber Club läuft, ist so süß, dass man selbst in ihn verliebt ist, ehe man sich’s versieht. So ging es auch unserer Autorin Maike Hank, die den Coming-of-Age-Film als behutsam und zärtlich empfand und darin ein realistisches Märchen erkannte.

Foto: Salzgeber

Herzklopfen im Dunkeln

von Maike Hank

Leonardo und Giovanna sind Teenager in Brasilien und kennen sich seit Kindertagen. Sie verbringen ihre Nachmittage miteinander, lassen sich treiben, sprechen über Liebe und den ersten Kuss, der für Leonardo ein ganz besonderes Erlebnis sein soll. Dass er Giovanna dabei gar nicht erst in Betracht zieht, scheint ihr allerdings nicht so recht zu passen. Die beiden sind ein eingespieltes Team, und obwohl Leonardo blind ist, besuchen sie die gleiche Klasse einer staatlichen Schule in São Paulo. Giovanna hilft Leonardo im Unterricht, wo er sich mittels einer Braille-Maschine Aufzeichnungen macht. Sie verteidigt ihn, wenn er von anderen Mitschülern beleidigt wird und begleitet ihn nach der Schule, obwohl sie eigentlich in die andere Richtung gehen müsste.

Zwar darf Leonardo inzwischen allein zu Hause sein, doch viel Freiraum lassen ihm seine besorgten Eltern nicht. Stets soll er sich per Telefon bei ihnen melden und jeden Tag gibt es Konflikte, muss er sich Kleinigkeiten erkämpfen, die für andere Jugendliche in seinem Alter selbstverständlich sind. Als er eines Tages vom Essen bei seiner Großmutter erst Stunden später nach Hause kommt, ist dort die Hölle los. Die Eltern machen ihm große Vorwürfe. Dabei erweckt Leonardo gar nicht den Eindruck, dass man sich im Alltag Sorgen um ihn machen muss – mal abgesehen davon, dass er keine Lust hat, sich am Pool mit Sonnencreme einzureiben. Recht ausgeglichen und in sich ruhend strebt er nach Freiheit und träumt sich ganz weit weg. „Es muss toll sein, in einem Land zu leben, in dem dich niemand kennt, wo keiner weiß, wer du bist. Da kannst du jemand ganz anderes sein!“, gesteht er Giovanna.

Während sich die meisten Menschen jedoch fort wünschen, um vor sich selbst zu fliehen, möchte Leonardo in der Ferne endlich so sein dürfen, wie er es ohne die Einschränkungen durch die Eltern auch in Brasilien vielleicht schon wäre: „Wieso lasst ihr nicht zu, dass alles normal wird?“, fragt er sie während einer der Auseinandersetzungen, bei denen die Mutter noch mehr klammert als der Vater. Und auch Giovana unterstützt Leonardo nur halbherzig bei seinem Versuch, mehr über die Möglichkeiten für einen Schüleraustausch als blinder Teenager in Erfahrung zu bringen. Im Gegenteil – sie entmutigt ihn, ist genau wie seine Eltern hineingewachsen in die gemeinsamen Gewohnheiten, so dass ihr Veränderungen in Leonardos Leben unvorstellbar erscheinen.

Ungewohnte Perspektiven eröffnet ihm dafür schon bald ein neuer Mitschüler. Gabriel weiß noch nichts von Leonardos Alltag, seinen Routinen und den Einschränkungen, die mit der Blindheit einhergehen. Gabriel ist aufgeschlossen, hört zu und schlägt völlig neue Dinge vor, die die beiden gemeinsam unternehmen können. Sie tanzen zu Musik von Belle and Sebastian („There’s too much love“), obwohl Leonardo sonst nur Klassik hört und nie zuvor getanzt hat. Sie gehen gemeinsam ins Kino, wo Gabriel zum Leidwesen der anderen Besucher Leonardo erzählt, was auf der Leinwand zu sehen ist. Sie fahren zusammen auf einem Fahrrad durch die Gegend und schleichen sich sogar nachts nach draußen, um einer Mondfinsternis beizuwohnen. Leonardo verbringt dadurch viel weniger Zeit mit Giovana und ihre Freundschaft gerät darüber ins Wanken – zumal Giovana ihrerseits Interesse an Gabriel hat.

Regisseur Daniel Ribeiro zeigt in seinem Coming-of-Age-Film „Heute gehe ich allein nach Hause“ einen eigentlich recht alltäglichen Konflikt. Das jedoch sehr behutsam und zärtlich, ohne die Figuren zu überzeichnen, schrill oder skurril werden zu lassen, was in diesem Genre gerne mal der Fall ist. Niemand dreht wirklich durch, jene Gespräche, die Leonardo, Gabriel und Giovana in unterschiedlichen Konstellationen miteinander führen, sind oft erstaunlich vernünftig, sogar, wenn die Teenager völlig betrunken sind. Wie sie ihre Eifersucht, ihren Trotz und ihre Zuneigung zum Ausdruck bringen, ist fast schon ein wenig zu schön, um wahr zu sein. Die Unaufgeregtheit und die Abwesenheit von Drama sind im Gegenteil sehr angenehm, laden ein, sich fallen zu lassen in Ribeiros dramaturgisch gut gebaute Erzählung übers Erwachsenwerden, über Freundschaft – und über jene Liebe, die sich wie zufällig zwischen Leonardo und Gabriel entwickelt. Denn nur selten entsteht der Eindruck, einer der Beteiligten würde sich wegen seiner Homosexualität infrage stellen, oder diese Liebe habe gesellschaftliches Konfliktpotential.

Foto: Salzgeber

Als Leonardo seiner Freundin Giovana gesteht, dass er sich in Gabriel verliebt hat, scheint es, als müsse sie sich höchstens damit abfinden, dass Leonardo Zuneigung für den gleichen Jungen empfindet wie sie selbst, und eine mögliche Beziehung die Freundschaft zwischen ihr und Leonardo langfristig verändern könnte. Lediglich die gehässigen Mitschüler bezeichnen die beiden Freunde als Liebespaar, um sie zu demütigen – zu einem Zeitpunkt, als sie noch gar keins sind. Später wirken die Mitschüler darüber eher amüsiert, ganz so, als sei nun wenigstens alles klar. Das ist einerseits sehr angenehm und vorbildhaft, klammert aber auch einen wichtigen Punkt aus, der leider immer noch Alltag ist: Nach wie vor werden homosexuelle Jugendliche gemobbt und ausgegrenzt und sind aufgrund des gesellschaftlichen Drucks besonders gefährdet, depressiv oder gar suizidal zu werden. Es war Ribeiro jedoch ein Anliegen, etwas Positives zu vermitteln und so gibt es für alle Beteiligten ein Happy End.

Auch mit der Wahl des Titels (im Original „Hoje Eu Quero Voltar Sozinho“) zeigt Regisseur Daniel Ribeiro, auf welchen Teil der Geschichte er seinen Schwerpunkt legt: Im Vordergrund steht die erstmals zum Ausdruck gebrachte Emanzipation Leonardos von seiner Familie. Sein Handeln wird durch das erste Verliebtsein, die neuen Erlebnisse, das Brechen der Gewohnheiten zusätzlich befeuert. Ob Leonardo Gefühle für einen Jungen oder ein Mädchen hat, ist dabei fast egal. Möglichst viele Menschen sollten die Möglichkeit haben, sich mit den Figuren zu identifizieren. Ribeiro wollte zeigen, wie es ist, sich zu verlieben, wenn Aussehen und Geschlecht keine Rolle spielen. Wenn es allein Taten, Worte, Nähe und der Geruch einer Person sind, die jenes Gefühl auslösen. Das klingt so toll wie naiv gleichermaßen, denn Leonardo ist zwar blind, jedoch sicherlich nicht unempfänglich für gesellschaftliche Einflüsse und Konventionen. Man sollte den Film also vielmehr als eine Art realistisches Märchen verstehen.

Foto: Salzgeber

Dass dies so gut funktioniert, ist neben der Ruhe, mit der die Geschichte erzählt wird, und der gut ausgewählten Filmmusik vor allem das Verdienst von Ghilherme Lobo, Fabio Audi und Tess Amorim. Ihnen gelingt eine großartige, glaubhafte Darstellung jener drei Teenager, und besonders Lobos Spiel sticht hervor, was gewiss auch seiner guten Vorbereitung und intensiven Auseinandersetzung mit dem Alltag blinder Menschen zu verdanken ist. So lernte er beispielsweise das Lesen von Braille-Schrift und wie sich blinde Menschen draußen und in der Wohnung zurechtfinden. Zu spielen, ohne mit den anderen jemals Augenkontakt haben zu können, blieb dennoch gewiss eine große Herausforderung.




Heute gehe ich allein nach Hause
von Daniel Ribeiro
BR 2014, 96 Minuten,
portugiesische OF mit deutschen UT,

Salzgeber

Hier auf DVD.