Jürgen Bauer: Portrait

Buch

In Jürgen Bauers „Portrait“ erzählen drei Menschen aus ihrer persönlichen Sicht von Georg: die Mutter, der Geliebte und die Ehefrau. Von der Geburt und dem Aufwachsen auf einem ärmlichen Bauernhof, vom wilden, schwulen Leben im Wien der 1970er Jahre und von einem Eheleben in der vermeintlichen „Normalität“. Unser Autor Fabian Hischmann hat sich von Bauers Erzählkunst in die Köpfe der Figuren hineinziehen lassen – auch wenn es schmerzhaft wurde.

 

Ein Plädoyer für die Liebe

von Fabian Hischmann

„Portrait“ (die Autokorrektur des Computers pocht in beharrlicher Überheblichkeit auf die neue, korrekte Schreibweise mit Ä, als wüsste sie besser Bescheid als der Titelgeber selbst) ist Jürgen Bauers vierter Roman in sieben Jahren. Und obwohl die Zahl Sieben manch abergläubischem Menschen in Beziehungsfragen redensartlich ja als Krisenziffer gilt, bedeutet sie hier das Gegenteil, wird mit diesem Buch im potentiell verflixten Jahr definitiv klar: Jürgen Bauer und das Geschichtenerzählen sind still in love. Bereits das Vorgängerbuch des in Wien lebenden Schriftstellers wurde in Österreich viel beachtet. „Ein guter Mensch“ war eine dringlich-immersive Dystopie über das Verschwinden der Ressource Wasser und den daraus resultierenden Verteilungskampf, traurigerweise also gar nicht mal so dystopisch, sondern nah dran an der Realität. Und ganz nah dran an seinen Figuren, seinen Held*innen. Diese Nähe, dieser Zoom auf die Körper und in die Köpfe der Protagonist*innen, zeichnet auch den neuen Text aus. „Portrait“ ist ein Hybrid aus historischem Gesellschafts-und Entwicklungsroman geworden, der unablässig um eine Person kreist, ohne diese je selbst von sich erzählen zu lassen.

Die Erzähler*innen in Jürgen Bauers literarischem Triptychon heißen Mariedl, Gabriel und Sara. Ihr gemeinsamer Mensch trägt den Namen Georg und sie alle porträtieren diesen – „ihren“ – Georg aus einer subjektiv erlebten Erinnerung. Jürgen Bauer formuliert es in einem Interview so: „Der Antrieb ist der, Fragen zu behandeln, auf die ich selbst keine Antworten hab, bei diesem Roman war es tatsächlich die Frage, gibt es so etwas wie eine Identität, oder haben wir alle verschiedenste Identitäten, die nach außen hin in ein Puzzle zerfallen.“ Am Ende, soviel sei verraten, geht es vor allem auch darum, dass kaum etwas schmerzhafter ist als das Wissen, bald nichts mehr über sich selbst zu wissen.

Jürgen Bauer – Foto: Daniel Schönherr

Aber zum Anfang. Und den macht im Roman Mariedl, Georgs Mutter. Eine Person, die nichts geschenkt haben möchte und auch nie etwas geschenkt bekommt. In ihrem soghaften Monolog, der von Autor und Lektorat konsequenterweise nicht „eingehochdeutscht“ wurde, berichtet sie von einem Landleben während der Nazi-Diktatur und Nachkriegszeit, von harter Arbeit und Verlassenheit: „In der Kuchl von meinem schönen Hof, auf dem ich gearbeitet hab wie ein Viech, in der Kuchl bist auf die Welt gekommen, hättest in der Kuchl ruhig alt werden können.“ (S.23) Schon vor Georg hat sie ihr Ehemann, ein Kriegsdienstverweigerer, auf dem Hof zurückgelassen und ist nach Frankreich geflohen. Allein mit ihren zwei Söhnen ist Mariedl auf die Gunst des Schwagers angewiesen und verbittert stetig an ihrem Schicksal. Einfühlsam und in schmerzhaft-schönen Bildern schildert Jürgen Bauer das Leiden einer stolzen Frau an der patriarchalen und bigotten Landgesellschaft. Dass hier „Schnoferl gezogen“, „Kukuruz“ geerntet wird und von „Bankerten“ und „Großkopferten“ die Rede ist, wird für einige Leser*innen womöglich anstrengend sein und nachgeschlagen werden müssen, aber es ist sehr richtig und macht Mariedls Erzählstimme, auch wenn das Adjektiv im Zusammenhang mit Fiktion viel zu oft falsch verwendet wird, authentisch. Die Passagen, die vom Erkennen, dem Umgang Mariedls mit Georgs erwachender Homosexualität und dem Spott über Bildung als Chance handeln, erinnern ein bisschen an Édouard Louis „Das Ende von Eddy“, etwa wenn es heißt: „Ich will schon mit der Heugabel rein, da seh ich dich liegen neben dem Bertl und spielen mit ihm. […] Ausgerechnet mit so einem musst dich abgeben, und dann so, dass du dich nicht genierst.“ (S.48) oder: „Gymnasium. […] Ich hab geglaubt, ich fang an zum lachen, bis ich tot umfall.“ (S. 51) „Die Schule ist viel zu groß für Menschen wie uns gewesen.“ (S. 53)

Schlussendlich verweisen sie aber konsequent auf das neben dem Topos der Erinnerung zweite große Leitmotiv des Romans: Das Flüchten. Womit wir bei Gabriel wären. Wie Georg türmt er aus der ländlichen Enge, bloß ist sein Antrieb nicht bildungsbürgerlicher Wohlstand durch ein Jura-Studium, sondern die sexuelle Befreiung. Am Südbahnhof Wien angekommen, will der 17-jährige Gabriel nur eins: „Aufs Häusl“ am Naschmarkt, einem der zentralen Cruising-Points im Wien der 1970er Jahre: „[…] auf einmal seh ich es und weiß sofort: Das ist es. Und ja da stinkt´s wie Sau, wie ich reinkomm, aber der Gestank ist ein guter, verstehst? Ich also rein, Schwanz raus und los kann’s gehen, aber dann passiert erst einmal nichts, und damit mein ich: gar nichts.“ (S. 105)

Doch dieses Nichts geht schnell vorbei. Der erste Mann, dem Gabriel auf dem Häusl begegnet, ist natürlich Georg. Auf das schnelle Ficken folgt das große Drama. Die beiden Männer stehen einander in Sein und Tun diametral gegenüber. Da ist das Sichtbar-sein-Wollen des Jüngeren auf der einen und die Gewöhnung des Älteren an das Versteck auf der anderen Seite, da steht der infantile Hedonist gegen die verklemmte „Paragraphenliesl“: „Aber du willst schwul sein nur unter Schwulen, das ist mir zu wenig.“ (S.161)

Als aufstrebender Jurist kann und will Georg zu jener Zeit kein Karriererisiko eingehen. Bis 1971 war Homosexualität in Österreich strafbar. Aber auch in der Folge wurden Schwule noch gesellschaftlich verurteilt und vielfach polizeilich verfolgt. Der entsprechend homophobe § 209 im Strafgesetzbuch wurde erst 2002 durch den Verfassungsgerichtshof endgültig aufgehoben. Gabriel indes will sich nicht unterdrücken lassen, ist viel zu (lebens-)hungrig. Er empfindet nicht das Schamgefühl, das Georg behindert und in den heteronormativen Tarnanzug schnürt: „Genier du dich, wofür du dich genieren willst, aber für mich ist das nix, das dauernde Genieren.“ (S. 168) Gemeinsam mit ihm schickt uns Jürgen Bauer auf eine schwule Stadtrundfahrt durch Wien, die in Absturz, Prostitution, radikalem Aids-Aktivismus und Krankheit mündet: „Wenn ich schon krepier, dann ohne Angst, dann laut und mit dem Geräusch von genau der Bombe, die ich in meinem kleinen Heimatort nie gezündet hab.“ (S. 203)

Aber Gabriels Geschichte wird anders enden. Woran auch Sara, die dritte Hauptfigur des Romans, ihren Anteil hat. Auch Sara flieht. Vor einem reichen, aber kaputten Elternhaus in den Niederlanden, mit psychotisch-alkoholkranker Mutter und defensiv-emotionslosem Bankier-Vater. Einige wenige Momente der Nähe erlebt Sara als Kind bei gemeinsamen Opernbesuchen mit der Mutter. Und so fasst sie den Entschluss, selbst die Bühne zu erobern. Der ideale Ort dafür – so sieht es auch ihr Vater, ein Exil-Österreicher – ist selbstverständlich Wien, das Epizentrum klassischer Musik. Was folgt, ist das Gegenteil von Ruhm. An der Wiener Staatsoper gerät Sara alsbald in ein höchst ungleiches Machtverhältnis. Sie selbst fasst es rückblickend so zusammen: „Mit meinem ersten Mann war ich nicht verheiratet, aber ich nenne ihn trotzdem meinen Mann, weil uns alles auszeichnete, was eine richtige Ehe auszeichnet: Vertrautheit, Abhängigkeit und Gewalt.“ (S. 235)

Ihre Erfahrungen mit toxischer Männlichkeit beschreibt Jürgen Bauer in Jelinekschen, brutalen Szenen. Mitunter sind Saras internalisierter Pragmatismus, ihr von klein auf eingeimpftes defizitäres Selbstempfinden, schwer zu ertragen und man hegt den starken Wunsch, dass sie doch bitte zu Uma Thurman werde und die Samurai-Schwerter auspacke. Stattdessen findet sie Georg und macht ihn zu ihrem „Projekt“: „Ich verliebte mich in dich, weil ich das Gefühl hatte, mit dir eine andere Machtdynamik erleben zu können, weil du mich mehr brauchtest als ich dich, weil du jemand suchtest, der dir eine Fassade gab.“ (S. 265) Emanzipation bedeutet für Sara wissende Kontrolle: „Ich hatte nicht vor, mich je wieder nach einem Mann zu richten, plante stattdessen, dich nach meinen Vorstellungen zu bauen. Nur eines an dir wollte ich nicht ändern, denn natürlich wusste ich, dass du die ganze Zeit weiter mit Männern schliefst, da machte ich mir nichts vor, ich gönnte dir den Spaß und war froh, im Bett keine Erwartungen mehr erfüllen zu müssen.“

Irgendwann, Sara hat „ihrem“ Georg zu ministerialen Ehren und einem scheinbar „normalen“ Leben verholfen, sagt sie noch: „Ein Mann, der sich nicht um die kümmert, die er liebt? Das ist zum Genieren.“ (S. 297) Am Ende ist „Portrait“ vor allem auch ein Plädoyer für die Liebe. Eines, für das sich Jürgen Bauer ganz und gar nicht genieren muss.




Portrait
von Jürgen Bauer
Gebunden, 316 Seiten, 22,90 €,
Septime Verlag

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