Stadt Land Fluss

Trailerrbb QUEER DVD / VoD

Heute Abend geht es bei rbb QUEER aufs Land: „Stadt Land Fluss“ erzählt eine schwule Liebesgeschichte, die unter Auszubildenden in einem großen brandenburgischen Agrarbetrieb spielt, und verbindet auf einzigartige Weise Dokumentar- mit Spielfilmelementen. Heißt: die Landschaft, die Mitarbeiter, die Tiere und die Rübenwaschanlange spielen sich selbst, nur die schwule Liebesgeschichte ist Magie – aber auch die könnte jederzeit dort wahr werden! André Wendler findet: Der Film ist so schön, den könnte man sich gar nicht ausdenken.

Foto: Edition Salzgeber

Frau Thymians rosa Pullover

von André Wendler

„Stadt Land Fluss“ ist eine Maschine. In dem Landwirtschaftsbetrieb, in dem sich der Film hauptsächlich abspielt, treffen künstliche Bewässerung, Traktoren, Mähdrescher, und Förderbänder auf Erde und Pflanzen und machen aus einem Stück Erde einen Acker. Auf Rinder treffen Zäune, Kraftfutter, Ställe, Einzäunung und Ohrmarken und machen aus ihnen bewirtschaftetes Vieh. Nirgends lässt sich dieses Aufeinandertreffen so eindrücklich beobachten, wie in der Möhrenverarbeitung, die mehrfach zu sehen ist. Auf laut ratternden Förderbändern ziehen massenweise und rasend schnell Karotten vorbei, werden nach oben transportiert, vom Grün getrennt und sortiert. Die Karotten wachsen hier auch mehr oder weniger von selbst in der Erde. Um sie allerdings nutzen zu können, müssen sie durch einen maschinellen Prozess, um sie zu den Karotten, die wir dann im Supermarkt kaufen können, überhaupt erst zu machen. Ohne diesen Herstellungsprozess bleiben die Karotten irgendwelche Wurzeln im Boden des Nuthe-Urstromtals. Zusätzlich muss dieser Prozess beobachtet werden: einige der Lehrlinge leiden darunter, dass sie jeden Handgriff in Berichten dokumentieren müssen. Es reicht also nicht Möhren zu produzieren, sondern die Produktion muss verstanden, durchschaut, begriffen werden. Frau Butsch, die Ausbildungsleiterin: „Berichte müssen immer geschrieben werden. […] Du könntest mal aufschreiben, wie so der Arbeitsablauf in der Möhrenaufbereitungsanlage funktioniert.“

Warum aber spielt ausgerechnet dieser Film in diesem Betrieb? Er könnte ja genau so gut in irgendeinem anderen Ausbildungsbetrieb angesiedelt sein. Mit etwas Spaß an der Übertreibung könnte man sagen, „Stadt Land Fluss“ muss hier spielen, weil er genauso funktioniert wie die Karottenherstellung. Er entdeckt in der brandenburgischen Landschaft etwas, das sonst nicht ohne weiteres sichtbar wäre. Er unterwirft es einem Prozess, an dem Maschinen wie Kamera, Tonaufnahmegerät, Kopierwerk, Projektor beteiligt sind. So wie aus den Bergen von Karotten supermarktfähige Kilopakete gewonnen werden, packt der Film diese unübersichtliche Anordnung aus Landschaft, Menschen, Pflanzen und Tieren in handliche und übersichtliche 84 Minuten mit Anfang und Ende. Das alles tut er aber nicht nur einfach so, sondern er beobachtet es: einmal, indem die Möhrenaufbereitungsanlage als sein eigenes Operationsprinzip in ihm enthalten ist. Zum anderen erzeugt er bei mir als Zuschauer Aufmerksamkeit auf allen Kanälen. Der Film ist nämlich kein sauber verpacktes Karottenbündel. Hier klebt Schlamm an den Möhren, in dem noch ein paar sich windende Würmer hausen. Wir packen sie aus und sehen, dass Möhren so wenig aus dem Supermarkt kommen wie Filme aus dem Kino. Das Großartige an dem Film aber ist, dass er eine wunderschöne Maschine ist.

Foto: Edition Salzgeber

„Stadt Land Fluss“ ist ein gelber Wasserfall aus Licht. Vieles in diesem Film ist so wunderbar, dass man es sich nicht ausdenken könnte: Die Erklärung der maßlos bezaubernden Frau Thymian, wie frisch geworfene Kälber einzufangen sind, übersteigt das Vorstellungsvermögen von Drehbuchautor_innen. So etwas kann man sich nicht ausdenken und ich merke, dass es noch hundertmal schwieriger ist, es zu beschreiben. Die Fahrt auf die Kuhweide ist für sie Alltag, für mich wird es zu Alltag in 16:9 und der Größe einer Kinoleinwand. Das Sonnenlicht bricht sich auf wunderbare Weise in der völlig verdreckten Scheibe und noch der Kontrast zwischen Frau Thymians rosa Pullover und ihrem Blaumann scheint mir die wahnsinnige Erfindung eines zauberhaften Alltagskünstlers zu sein. Kann man so etwas ohne Kino sehen? Dieses Kino erschrickt nicht vor dem ganz Zufälligen und es hat keine Angst vor der selbstverliebten ästhetischen Geste. Immer wieder tauchen in all den Maschinen zum Möhrensortieren und Getreideabfüllen Bilder auf, an die ich mich noch lang erinnern werde. So wie am Anfang, wenn wir vor dem gleißend hellen Himmel kaum einen regelmäßig unterbrochenen Wasserstrahl sehen. Licht- und Ton skandiert den selben Rhythmus. Die Entdeckung, dass es sich hier „nur“ um eine Bewässerungsanlage handelt, macht das Außergewöhnliche nicht banal, sondern versieht das Banalste mit einer fast schon erschreckenden Schönheit. Sommergoldene Traumbilder aus Licht und Wasser, grün rasende Einstellungen aus Wald und Fahrrad sind hier ebenso zu Hause wie spröde Einstellungen, die aus einem landwirtschaftlichen Lehrfilm stammen könnten. All das hängt in großer Notwendigkeit und unbeschwerter Zufälligkeit zusammen.

Foto: Edition Salzgeber

„Stadt Land Fluss“ ist anders: Auch wenn man es Texten wie diesem noch nicht entnommen hat, versteht man schnell, dass dieser Film nicht in einer Welt spielt, die nur für die Kamera geschaffen wurde. „Stadt Land Fluss“ ist Reaktionstraining. Schauspieler reagieren auf Leute, die sonst eigentlich nur sich selbst spielen. Kühe reagieren auf Menschen, die sie einfangen wollen. Schwules Begehren reagiert auf andere Jungs. Die Kamera reagiert auf das, was ihr vor die Linse kommt. Und sie fordert heraus. An wem rasend schnell und zentnerweise Karotten auf einem Fließband vorbeiziehen, der hat keine Zeit über das richtige Kameragesicht, einen passenden Gesichtsausdruck oder schöne Worte nachzudenken. Die Kamera nimmt sie trotzdem auf: die lachenden, gelangweilten, ängstlichen, überanstrengten, unsicheren, heiteren und teilnahmslosen Gesichter. Ein Gesicht auf der Leinwand ist etwas anderes als eine Möhre im Boden. Deswegen sitze ich vor ihnen, starre sie an, frage mich, wer das ist, dem dieses Gesicht gehört, was sie machen, warum sie in diesem Film sind.

Foto: Edition Salzgeber

Niemals hätte ich geglaubt, dass ich mich anderthalb Stunden für Landwirtschaft begeistern kann. Dem Film gelingt das, indem er mein Begehren nicht nur adressiert sondern mit verarbeitet. Er entdeckt nämlich nicht nur lauter verborgene Möhren, Kühe und halb stillgelegte Autos, sondern lässt mit Mutwillen und beinahe nebenbei zwei etwas zu gut aussehende Jungs in den Film spazieren. Beide sind anders. Nicht nur, weil sie der Kamera, mir und einander bereitwillig ihre gestylten Körper zeigen und wir uns alle darüber freuen können und offenbar sollen. Sondern auch, weil sie anders sprechen. Weil sie anders auf die Kamera reagieren, andere Worte aufsagen, sich nicht zwischen Dialekt und Schauspielerhochdeutsch entscheiden können. Sie sind, als Schauspieler auf dem Hof, Andere; sie sind Andere in einer heterosexuellen Gesellschaft. Nicht alle nicht-heterosexuellen Menschen haben solche Erfahrungen gemacht oder würden sie als identitätsstiftend einordnen. Der Film und ich tun das allerdings und deshalb verstehen wir uns auch so gut.

Foto: Edition Salzgeber

Ohne Aufregung treffen die beiden Jungs aufeinander. Die Blicke sind zufällig und flüchtig. Weder der Film noch seine Figuren werfen die große Pathosmaschine an. Liebend gern lasse ich mich von dem Film dazu einladen, die Dinge einmal so zu akzeptieren wie sie sind. Ich kann mit Freude und viel Zeit begreifen: Manche Dinge sind so und andere sind anders. Das klingt viel einfacher als es ist. Der Film lässt mich diese komplizierten Verhältnisse erkennen. Immer wieder frage ich mich, wer eigentlich wen beobachtet. Schauen die Leute im Betrieb dem Filmteam bei seiner Arbeit zu oder werden sie von ihm beobachtet? Fragen sich die Schauspieler, was die Azubis eigentlich wollen oder geben sie diese Frage zurück? Beobachte ich zwei Jungs bei ihrer ersten Liebe oder eine Filmcrew, die darüber einen Film inszeniert? Wenn sich zwei Menschen begegnen, dann heißt ihre schwierigste und manchmal unlösbare Aufgabe: Nähe und Abstand miteinander aushandeln. „Stadt Land Fluss“ leitet mich dazu an, das gleiche mit ihm zu tun, so wie Frau Thymian acht geben muss, dass sie den Bullen der Rinderherde nicht zu nah kommt, aber auch nicht zu viel Abstand von ihnen hält; so wie Frau Butsch ihren Auszubildenden gegenüber Empathie und Autorität in eine angemessenes Verhältnis bringen muss.

Auch im Kino müssen die Dinge ins Verhältnis zueinander gesetzt werden. Wenn sich am Ende die beiden Jungs, ich bin unsicher, ob ich sie Marko und Jacob oder Lukas und Kai-Michael nennen soll, auf dem Hof in die Arme nehmen, umrundet von der Kamera, ganz bei sich, dann lösen sich von dieser Geste der Nähe die Töne des Hofes ab: das Tuckern der Traktoren, Hammerschläge, undeutliche Stimmen, diffuse Maschinengeräusche. Die Leinwand wird schwarz, das Paar verschwindet, die Töne bleiben aber noch für einige Sekunden. Was die Kinomaschine mühselig synchronisiert hat, wird wieder auseinander genommen, wie ein Möhrenaufbereiter, der gewartet werden muss. Am Ende also kein ganzheitliches Liebesglück, sondern Kinoanalytik der Verhältnisse.



Stadt Land Fluss
von Benjamin Cantu
DE 2011, 83 Minuten, FSK 0,
deutsche OF,
Edition Salzgeber

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VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)


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