Der Sommer von Sangailé

Trailerrbb QUEER DVD / VoD

Heute Abend geht es bei rbb QUEER nach Litauen, wo nicht-heterosexuelles Kino Seltenheitswert hat. Das eigentlich Besondere an „Der Sommer von Sangailé“ (23h25 im rbb) ist aber, mit welcher Leichtigkeit die Regisseurin Alanté Kavaïté von panischer Höhenangst und der ersten großen Liebe, von selbstverletzenden Handlungen und weiblichem Erwachsenwerden in der baltischen Provinz erzählt, in der der Sowjetkommunismus noch heute sichtbare Spuren hinterlassen hat. Für ihren wildromantischen Coming-of-Age-Film wurde Kavaïté 2015 in Sundance mit dem Regie-Preis ausgezeichnet. Jessica Ellen hat ihn für uns besprochen.

Foto: Edition Salzgeber

Über allen Wolken

von Jessica Ellen

Eine Flugschau. Sangailé schaut sehnsüchtig in den litauischen Sommerhimmel, an dem Sportflugzeuge ihre Loopings ins Blaue schrauben und weiße Dunst­streifen hinter sich zeichnen. Sie ist jung, schlaksig und eine eher herbe, als glatte Schönheit. Ihre langen Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden. Sie wirkt verschlossen und in sich gekehrt.

Da tritt eine Frau auf sie zu mit einem unwiderstehlich roten Mund, der so be­zaubernd lächelt, dass es scheint, als trage dieses Lächeln den ganzen Sommer in sich. Sie bie­tet ihr ein Los mit der Nummer 17 an, was die schüchterne Sangailé auch zöger­lich annimmt. Wer die Verlosung gewinnt, darf in ein Flugzeug steigen und eine Runde mit dem Piloten drehen. Bingo, es ist die 17 – und Sangailé nimmt so schnell sie kann Reißaus! Doch die Lächelnde ist ihr schon gefolgt, stellt sich als Austé vor und will wissen, warum sie ihren Gewinn nicht in Anspruch nimmt. Sangailé bleibt ihr die Antwort schuldig, aber als Austé sie in das Café einlädt, in dem sie als Kellnerin arbeitet, ist ihre Neugier geweckt. In dem Café warten nicht nur verführerische Törtchen, sondern ein ganz anderes Lebensgefühl.

Austé überredet Sangailé, mit ihr und ihrer Clique an den See zu fahren. Doch während sich die anderen im Wasser amüsieren, bleibt Sangailé am Ufer sitzen; es braucht schon tatkräftige Nachhilfe, bis sie sich unfreiwillig zu den anderen gesellt, in voller Bekleidung. Auf dem Heimweg zum elterlichen Haus erhält Sangaile die erste Lektion ihres Sommers: Heterosex macht ihr keinen Spaß. Und dann fragt noch eine Freundin ihrer Mutter, ob sie denn wisse, was sie nach der Schule machen wolle – ganz falsche Frage. „Hure!“ blafft sie zurück. Eine gezielte Provokation gegen ihre Mutter, eine ehemalige Ballerina, die gezwungen war, den Tanz aufzugeben, dies der Tochter anzulasten scheint und ihr das Gefühl gibt, eine Riesenenttäuschung zu sein.

Foto: Edition Salzgeber

Niemand in der Familie bemerkt, was wirklich in Sangailé vorgeht, dass sie unter vielen Ängsten leidet und mit Höhe nicht umgehen kann und dass sie sich in ihr karges Zimmer zurückzieht, um sich heimlich die Arme aufritzten. Um das zu verbergen, meidet sie Gesellschaft, bleibt lieber allein. Doch nun ist Austé in diese Einsamkeit geplatzt, um sanft aber ent­schlossen mit begehrlichen Blicken den Panzer aufzuknacken, mit dem Sangailé sich umgeben hat. Sie lockt sie in ihr verwunschenes Feenreich – eine kleine Wohnung in einem hässlichen Plattenbau, die wie ein Theaterfundus vollgestopft ist mit Nippes und fantasievollen Kostümen, die Austé selbst geschneidert hat. Auch ihr Besuch soll so ein Kleid bekommen. Austé kostümiert ihre Muse und fotografiert sie wie ein Fotomodell in verschiedenen Outfits. Allmählich öffnet sich Sangailé ihrer neuen Freundin und zeigt ihr sogar ihre Narben am Arm. Anders als Sangailé befürchtet hat, scheint Austé aber nicht schockiert zu sein von dieser Offenbarung. Sie nimmt ihrer Freundin aber das Versprechen ab, nach der siebzehnten Verletzung aufzuhören. Schließlich ist die 17 ihre Glückszahl!

Foto: Edition Salzgeber

Bevor die Kraniche ziehen und mit ihrem Geschrei den nahenden Herbst an­kündigen, wird Sangailé noch viel über sich lernen. Nach und nach wird sie ihre Ängste abstreifen wie eine zu eng gewor­denen Haut. Sie wird verstehen, wie wichtig es ist, sich Ziele zu setzen, ohne sich zu überfordern, und dafür die Verantwortung übernehmen. Sie wird endlich fliegen, und das nicht nur in ihrer Phantasie. Sie wird Liebe und Sinnlichkeit mit ihrer Sommer-Fee erleben und nebenbei begreifen, dass es nicht bloß um sie selbst und ihre Ängste geht und dass auch eine noch so geerdete und in sich ruhende Frau wie Austé, deren Reife ihrem Alter weit voraus ist, ihre ver­letzlichen Seiten hat.

Die Regisseurin Alanté Kavaité erzählt das Sommermärchen einer zärtlichen Emanzipation mit kontrastreichen Bildern: die idyllische Natur um den See steht dem immer sichtbaren Kraftwerk eines postsowjetischen Litauens gegenüber; die leblose Kälte, die Sangailés ele­gantes Elternhaus ausstrahlt, der gemütlichen Wärme, in der Austé und ihre Mutter wohnen; die flirrende Unbeschwertheit und Leichtigkeit des Sommers der Heftigkeit der Schnitte, die sich Sangailé zufügt. Am bemerkenswertesten ist jedoch die überaus poetische Inszenierung der Erotik zwischen den beiden jungen Frauen. Ein durchweg charmanter und sinnlicher Film, der Mut macht, die eigenen Ängste zu überwinden.




Der Sommer von Sangailé
von Alanté Kavaïté
LT / FR / NL 2015, 88 Minuten, FSK 12,
Litauische OF mit deutschen UT,
Edition Salzgeber

Weitere Infos zu rbb QUEER

Hier auf DVD.

vimeo on demand

VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)


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