Alec Scouffi: Hotel zum Goldfisch

Buch

Prostitution, ob hetero- oder nicht-heterosexuell, ist weitverbreitet, aber kaum jemand redet oder schreibt darüber. Der literarische Realismus der vorigen Jahrhundertwende hatte da weniger Berührungsängste: Der Dirnenroman „Nana“ (1880) ist eins der bekanntesten Werke des französischen Klassikers Zola. Dem schwulen Strich in Berlin hat John Henry Mackay mit „Der Puppenjunge“ (1926) ein literarischen Denkmal gesetzt. Und nun hat die Bibliothek rosa Winkel mit Alec Scouffis „Hotel zum Goldfisch“ (1929) die tragische Geschichte des Pariser Strichers Peter alias Chouchou neu aufgelegt. Dino Heicker stellt das Buch vor.

In der wiedergefunden Zeit

von Dino Heicker

Am 27. März 1932 druckte das Prager Tagblatt folgende Meldung über ein drei Tage zuvor am Gründonnerstag in Paris verübtes Verbrechen ab:

„In der Wohnung des griechischen Schriftstellers Scouffi wurde eine geheimnisvolle Bluttat entdeckt. Als das Dienstmädchen des Schriftstellers am Nachmittag die Wohnung aufräumen wollte, fand sie Scouffi tot am Boden liegend auf. Verschiedene Anzeichen, wie umgestürzte und zerschlagene Inventarstücke, weisen darauf hin, daß dem Mord ein wilder Kampf vorangegangen sein muß. Die Polizei hat eine eingehende Untersuchung eingeleitet. Scouffi war als Verfasser von pornographischen und ähnlichen Schriften in Paris sehr bekannt. Man glaubt, daß Scouffi, der viel mit lichtscheuem Gesindel zu verkehren pflegte, das Opfer eines Homosexuellen geworden ist.“

Dieses Tötungsdelikt im Schwulenmilieu war ein gefundenes Fressen für die Presse, die sich ausführlich mit den Todesumständen des 1886 in Alexandria geborenen Autors und Sängers Alec Scouffi befasste, dessen Gedichte mit denen Paul Verlaines verglichen wurden. Doch letztlich wurden die polizeilichen Untersuchungen ergebnislos eingestellt und der Mord unaufgeklärt zu den Akten gelegt.

Nun ist eine der Schriften des zu Lebzeiten hochgelobten Autors wieder auf Deutsch erhältlich: der Roman „Hotel zum Goldfisch“ aus dem Jahr 1929. Protagonist ist der Ausreißer Pierre Durand, in der Pariser Schwulenszene liebevoll Chouchou (d.h. Herzchen) genannt, ein „kleiner blonder Knirps … mit rosa Porzellanbäckchen, pistaziengrünen Augen, der aussah wie ein Schuljunge, der den Unterricht schwänzt“. Ausgebüxt aus der häuslichen Enge der Bäckerei seines Stiefvaters in Saint-Germain-en-Laye findet er in Montmartre Unterschlupf im titelgebenden Hotel zum Goldfisch, einem Absteigequartier für Prostituierte beiderlei Geschlechts, Kleinkriminelle und in die Jahre gekommene Polizeispitzel. Stinkfaul und mit Flausen von einer Weltreise im Kopf verdient das attraktive Bürschchen seinen Lebensunterhalt bald schon als Stricher und verbindet das Nützliche mit dem Schutz vor tieferer Selbsterkenntnis: So muss er sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, warum ihm schon im elterlichen Bäckerladen die „rätselhaft tiefen und traurigen Augen“ des ägyptischen Gymnasiasten Rumir in Verwirrung gestürzt haben. Die Beziehung zur Arbeiterin Luise dient ebenfalls dazu, Beruf und Privatleben auseinanderzuhalten, auch wenn sich die junge Frau insgeheim wundert, dass im Bett stets sie die Initiative ergreifen muss. Und so geht Chouchou von Hand zu Hand und lässt sich schließlich im Bois de Boulogne vor Publikum „öffentlich missbrauchen“, wobei er hartnäckig die ersten Anzeichen für seine angegriffene Gesundheit ignoriert.

Es kommt, wie es kommen muss. Als er nach einem zweijährigen Gefängnisaufenthalt wegen Drogenbesitzes an Tuberkulose erkrankt, ist der Lack ab und er kann nicht mehr auf der Straße anschaffen gehen. An dem jungen Akrobaten Bob möchte er wieder gutmachen, was der selber in seinem Leben verpfuscht hat. Während er in einem Dampfbad mühsam seinen Lebensunterhalt als Masseur für spezielle Vorlieben verdient, soll Bob einen richtigen Beruf erlernen. Doch als dieser auf die schiefe Bahn gerät und den inzwischen völlig heruntergekommenen Chouchou verlässt, greift dieser zum Revolver und erschießt ihn.

Alec Scouffi

Nach Erscheinen des Romans monierte der Kritiker Lucien Peyrin, Scouffi gleite unter dem Deckmantel einer Sittenstudie in Pornografie ab, mit Literatur habe das nicht das Geringste zu tun. Die Leser der deutschen Ausgabe wird dieser Vorwurf verwundern, sind in dem Buch doch keine einschlägigen Stellen zu finden. Der Grund dafür: Der Herausgeber hat sich bewusst für eine unveränderte Wiedergabe der 1930 im Leipziger Elite Verlag erschienenen Übersetzung entschieden, die um alle expliziteren Passagen gekürzt war. Und so muss, wer des Französischen mächtig ist, auf das Original zurückgreifen, um genauer zu erfahren, was denn nun eigentlich damals so alles in Stundenhotels, im Bois de Boulogne und in Badehäusern vor sich ging. Nebenbei bemerkt: Scouffis „Pornografie“ ist mit ihrem Metaphernreichtum ausgesprochen literarisch.

Dass es sich um eine Sittenstudie handelte, entging aber auch den deutschen Lesern nicht. Die Verlagswerbung in der Münchner Zeitschrift Jugend zitiert aus einem Gutachten Ernst Sanders, der den Roman in die Nähe eines großen Vorbilds stellte: „Zola, der Meister des naturalistischen Romans, würde Alec Scouffi, seinen Nachfahren, zu diesem Roman, als einer ausgezeichneten literarischen Leistung, wahrhaft eines ‚menschlichen Dokumentes‘, bewundernd beglückwünscht haben.“ Und tatsächlich, „Hotel zum Goldfisch“ ist ein Dirnenroman in der Tradition von Émile Zolas „Nana“ (1880). Hier wie dort ist die Moral von der Geschichtʼ, mit männlichen wie weiblichen Prostituierten nimmt es ein schlimmes Ende. Ganz in diesem Sinne bewarb der französische Verlag das Buch seinerzeit als den „tragischen Roman der Homosexuellen“. Aber homosexuelle Stricher müssen nicht per se ein tragisches Schicksal haben. Bereits Francis Carcos Debütroman „Jésus-la-Caille“ von 1914 (dt. „Jesus Schnepfe“), der ebenfalls im Stricher- und Hurenmilieu von Montmartre spielt, ließ den Titelhelden, der sich nach seinem inhaftierten Geliebten sehnt, eben gerade nicht zum Mörder oder Verräter werden. Mit Büchern wie diesem strickte Carco mit am Mythos Montmartre, und Scouffi griff den Faden später wieder auf. Diese spezielle Mischung aus Sex and Crime in der Pariser Halbwelt war ein echter Publikumsrenner.

Auch „Hotel zum Goldfisch“ besticht mit intimen Kenntnissen der Pariser Homoszene. Der Roman strotzt vor Lokalkolorit, ist flott geschrieben und manchmal auch mit einem Hauch von Poesie beseelt. Noch 1940 bescheinigte Rolf, alias Karl Meier, dem Autor in der Zeitschrift Menschenrecht „eine lebendige Milieuschilderung“, und wirklich, einige der beschriebenen Etablissements sind ebenso wiedererkennbar wie manche Szenegestalten. So war die ehemalige Cancantänzerin Bijou „mit ihren dicken turmähnlichen Beinen“ und ihrem „Elephantenleib“, die ihren Lebensabend als Schwulenmutti fristet, ein auch von anderen Autoren beschriebener unverzichtbarer Bestandteil der Schwulenbar Clair de Lune – der Mondscheinbar – unweit des Place Pigalle. Und sich selbst hat der Autor ein Denkmal gesetzt in der Gestalt des von allen nur Väterchen genannten Schriftstellers. Ähnlich wie sein Schöpfer, der, als man ihn erschlagen in seiner Wohnung fand, noch einen seiner bunt bestickten Morgenmäntel trug, taucht Väterchen in „ein blumiges Gewand mit einem Kamelienmuster“ gehüllt auf einem Maskenball auf. Und er meint es gut mit Chouchou, den er, als er selbst bereits auf dem Sterbebett liegt, über seine homosexuelle Veranlagung aufzuklären versucht: „Zweifellos hat deine Seele, mein Kind, noch nicht ihr wahres Geschlecht getroffen (denn auch die Seelen haben ein Geschlecht). Jawohl – die Seelen haben ein Geschlecht, aber das muß durchaus nicht immer dasjenige des Körpers sein“. Doch nur einige wenige auserwählte Seelen, meint der Sterbende unter Anspielung auf Marcel Proust, würden „am Ende in der wiedergefundenen Zeit“ ihr wahres Geschlecht erkennen. Chouchou gehört wohl nicht zu ihnen.




Hotel zum Goldfisch
von Alec Scouffi
aus dem Französischen von Karl Blanck und Helene Schauer
Nachwort vpn Wolfram Setz

Pappband, 244 Seiten, 18 €,
Bibliothek rosa Winkel im Männerschwarm Verlag

 

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