Brontez Purnell: Alabama
Buch
Eine Rückkehr von Kalifornien nach Alabama – das muss ähnlich gespenstisch sein wie eine Rückkehr von Köln nach Oberammergau. Was nicht heißen soll, dass man nicht auch in der Provinz so einiges erleben kann. DeShawn, die Hauptfigur in Brontez Purnells „Alabama“, nutzt den Familienbesuch in der Heimat, um seine Jugend vor dem inneren Auge vorbeiziehen zu lassen. Und begreift, dass er sein Leben endlich selbst in die Hand nehmen muss. Christian Lütjens über einen stark autobiografisch gefärbten Roman von beeindruckender Tiefe.
Mixtape einer hemmungslosen Schlampe
Für DeShawn, den personalen Erzähler von „Alabama“, ist die Welt „eine riesige, miese, gottverdammte Piggly Wiggly-Filiale“. Piggly Wiggly ist eine amerikanische Supermarktkette, die vor allem in den US-Südstaaten vertreten ist. Auch in DeShawns Heimatstaat Alabama gibt es zahlreiche Niederlassungen. In einer davon arbeitet Jatius McClansy, DeShawns erster Lover, als Kassierer. Allerdings nur solange, bis er Fleisch im Wert von 126 Dollar veruntreut und gefeuert wird. Danach prügelt ihn seine Mutter Edna windelweich, woraufhin sich Jatius ihre Pistole schnappt und „das Hirn aus dem Schädel“ pustet. DeShawn ist zu diesem Zeitpunkt 12 oder 13 Jahre alt. Er ist noch recht naiv, auch wenn er, der kleine, übergewichtige, schwarze Junge mit der rebellischen Mutter, von Armut über Rassismus bis zu häuslicher Gewalt schon eine Menge Tiefschläge miterlebt hat. Für DeShawn war Jatius der Gott seiner ersten sexuellen Erfahrungen. Nun ist er tot. Damit stirbt auch ein Stück von DeShawns Glauben an die Unerschütterlichkeit der Verhältnisse und die Gerechtigkeit des Universums. Die Welt verkommt immer mehr zur Piggly Wiggly-Filiale, in der es nur ums Schuften, Zocken, Ficken und Scheitern geht. Jatius ist nicht der letzte Mann in DeShawns Leben, der zu früh das Zeitliche segnet. Er ist nur der erste, der die Erkenntnis reifen lässt, „die DeShawn wieder und wieder ins Gesicht klatschte wie ein Zwei-Kilo-Schwanz“. Sie lautet: „Tote Liebhaber gehen niemals fort.“
Willkommen in der Welt von Brontez Purnell. Dem Schriftsteller, Performance-Künstler, Punk-Sänger und Gründer des queeren Fanzines Fag School gelingt mit seinem Debütroman „Alabama“ ein atemberaubender Balanceakt zwischen Tragik und Komik, Brutalität und Zartheit, Selbstbetrachtung und soziologischer Studie. Wem Purnell durch seine Punk-Band The Younger Lovers oder seine semi-autobiografischen Story-Sammlungen „The Cruising Diaries“ und „Johnny Would You Love Me If My Dick Were Bigger“ ein Begriff ist, der wird beim Lesen von „Alabama“ die auffälligen Parallelen der Biografien von Purnell und seinem Antihelden DeShawn bemerken. Beide sind in Alabama aufgewachsen, beide flüchten aus der Enge ihrer Heimat ins kalifornische Oakland, beide haben ihre Jugend im Prä-Internet-Zeitalter der 90er Jahre verlebt, beide sind schwul und setzen sich ausführlich mit Schlampentum und Sexualität auseinander. Ist „Alabama“ also nur die verkappte Autobiografie eines verzagten Geistes, dem der schonungslose Tanz um verflossene Liebschaften dann doch zu intim für die Eins-zu-eins-Übertragung wahrer Begebenheiten war? Purnell bestreitet das.
„DeShawn ist nicht im Geringsten wie ich“, sagte er 2017 nach dem Erscheinen der englischen Originalausgabe im Interview mit Art in America, um anschließend augenzwinkernd die Riot Grrrl-Titaninnen von Huggy Bear und Bikini Kill zu zitieren: „Wir befürworten die Verwendung von Lügen, aber niemals auf Kosten der Wahrheit.“
Doch reale Begebenheiten hin oder her: Es steckt jede Menge Wahrheit in diesem hyperkinetischen Text, der in 19 Kapiteln durch Zeitebenen und Stimmungen irrlichtert wie ein bekokstes Chamäleon und es bei aller Sprunghaftigkeit trotzdem schafft, den Charakter DeShawn in all seinen Widersprüchen und Abgründen ebenso plastisch aus dem Text hervortreten zu lassen wie die Welt, die ihn erschaffen hat: Alabama. Da werden übereifrige Gospel-Prediger und ihre „Lämmer“ allwöchentlich in der Sonntagsmesse vom Heiligen Geist heimgesucht; da wird die Anverwandtschaft wegen der großfamiliären Unübersichtlichkeit nur mit „Onkel“ und „Tante“ angesprochen, weil sich kein Kind alle Namen merken kann; da wird das Thema Sklaverei vom weißen Sozialkundelehrer entweder ganz ausgeklammert oder in triefendem Südstaatenpathos ertränkt; da laufen frühreife Teenager nachts durch mondbeschienene Baumwollfelder, um den Schwanz des ersten Geliebten zu berühren; da flirrt die Hitze und trieft der Schweiß und über alledem schweben die quäkenden Klänge eines amerikanischen Spirituals, das DeShawn von seiner Taufe bis ins Erwachsenenleben begleitet und nach dem das Buch in der englischen Originalausgabe benannt ist: „Since I Laid My Burden Down“.
Das kann man idyllisch finden, doch für DeShawn ist es das nicht. Er passt einfach nicht rein in die Welt der frömmelnden Eiferer, revisionistischen Geschichtsschreiber und latenten Rassisten. Statt Gospels zu trällern hört er Nirvana und treibt sich mit weißen Satanistenmädchen herum, er leidet unter Fressattacken, nach denen er inmitten von verstreuten Lebensmitteln vor dem Kühlschrank wieder zu sich kommt, und nicht zuletzt merkt er im Laufe seiner Jugend, dass er nichts anderes tun will „als mit Jungs zu ficken und in Bands zu spielen“. Letzteres geht in Alabama nicht. Deshalb siedelt DeShawn nach der Highschool in einer abenteuerlichen Odyssee nach Kalifornien über und beginnt ein neues Leben als Künstler und hemmungslose Schlampe. Die Sinnfragen hören damit nicht auf. Eigentlich fangen sie erst an. Dafür sorgen die Drogen, die Sexexzesse und die Todesfälle, die DeShawn immer wieder in die Vergangenheit zurückzerren.
Das ist die chronologisierte Version einer Geschichte, die „Alabama“ in munterem Zick-Zack zwischen Gestern und Heute von Todesfall zu Todesfall aufrollt. Bei aller Skizzenhaftigkeit, die Purnells Erzählstil eigen ist, verfolgt er dabei stets ein einheitliches Prinzip: Eine Begegnung oder Erfahrung in einer knapp umrissenen Gegenwart führt zu Rückbesinnungen auf Geschehnisse in der Vergangenheit, die wiederum eine Reflektion über persönliche Reifeprozesse und die Veränderung von gesellschaftlichen Zuständen ermöglichen. So wird DeShawns Geschichte zur Blaupause für die Lebenswege queerer People of Color in den US-Südstaaten, zum Porträt einer 90er-Jahre-Popkultur zwischen Mixtapes, Weezer und Tupac-Shirts, sowie zur lakonischen Gedankenreise zum Wesen des Queerseins, die statt Eitelkeit und Intellekthuberei deftige Anekdoten und schlichte Lebensweisheiten als Treibstoff nutzt.
All das ist erhellend, sexy und dank eines herrlich schnodderigen Tonfalls, der von Übersetzer Peter Peschke in einer treffenden Mischung aus Umgangssprache und Tuntenscharfzüngigkeit ins Deutsche übertragen wurde, trotz aller Tragik richtig komisch. Als Lichtgestalten dienen vor allem die weiblichen Protagonistinnen. Während die Männer in DeShawns Leben verschwinden oder sterben, halten Mütter, Großmütter und Goldtransen die Fahne der Selbstbehauptung hoch und tragen mal schlagkräftig, mal besonnen zu den Glanzmomenten des Textes bei. Nicht umsonst ist das Buch im Original beim New Yorker Verlag Feminist Press erschienen und enthält den Satz: „In schwierigen Zeiten erinnerte DeShawns Mutter ihren Sohn immer wieder daran, dass er von starken Frauen abstammte und daher nicht scheitern konnte.“
Am Ende ist „Alabama“ eine Ode auf die ermächtigende Kraft der Selbsterkenntnis. Im drittletzten Kapitel betrachtet DeShawn „das Pantheon all der Männer, die er im Laufe seines Lebens auf ein Podest gestellt hatte – all die Väter, Onkel, Fickbeziehungen, die falschen Partner“ und erkennt, dass sein Kampf um ihre Anerkennung und Liebe zwar meist vergeblich war, aber nicht umsonst. Dass er ein „Nullsummenspiel“ war, das Narben hinterlassen, aber auch zu der Erkenntnis geführt hat, dass DeShawn sich weder von den eigenen zu hoch gesteckten Erwartungen noch von denen anderer dominieren lassen sollte. Oder wie es die Mutter des toten Jatius McClansy ausdrückt: „Manchmal geht es nur darum, genug Selbstliebe aufzubringen, um durch den Tag zu kommen und zu tun, was getan werden muss. Wenn man das jeden Tag aufs Neue schafft, dann geht alles andere gleich viel leichter.“
Man darf hoffen, dass auch die deutsche Leserschaft tut, was getan werden muss, und zahlreich „Alabama“ liest. Es lohnt sich. Denn nach der Lektüre geht ebenfalls alles andere gleich viel leichter.
Alabama
von Brontez Purnell
Aus dem Englischen von Peter Peschke
Klappenbroschur, 218 Seiten, 18 €,
Albino Verlag