Alan Hollinghurst: Die Sparsholt-Affäre

Buch

Alan Hollinghurst ist es gelungen, sich mit durchweg schwulen Themen in der britischen Literatur einen großen Namen zu machen. Sein Roman „Die Schönheitslinie“ wurde 2004 mit dem renommierten Man Booker Prize ausgezeichnet, was jedoch nicht dazu führte, dass er plötzlich „brav“ geworden wäre. Hollinghursts Stärke liegt im Erzählen ganz alltäglicher Geschichten, mit denen er den Geist einer Epoche oder einer Gesellschaftsschicht meisterhaft einzufangen weiß. So auch in seinem neuesten Roman, „Die Sparsholt-Affäre“, der schlaglichtartig den Zeitraum von 72 Jahren überspannt, vom Oxford der 1940er Jahre bis ins moderne London.

Die Schuld des Vaters

von Joachim Bartholomae

Alle verrenken sich die Hälse, als ein „neuer Mann“ im College auftaucht: David Sparsholt, muskulös und attraktiv. Vor allem Evert Dax, der Sohn eines berühmten Schriftstellers, ist hingerissen und macht Jagd auf den Schönling. Jetzt denken viele, herrje, brauchen wir wirklich noch einen dieser Oxbridge-Romane über herzzerreißende Liebesaffären unter den Sprösslingen aus gutem Hause? Nein, brauchen wir nicht, und dieser erste Teil von Alan Hollinghursts neuem Roman ist nur ein Trick, wie wir allerdings erst gegen Ende des Buches erfahren. Nicht diese „Affäre“ meint der Titel des Romans, und nicht dieser Sparsholt ist sein Held. Die „eigentliche“ Geschichte beginnt erst sechsundzwanzig Jahre später, als der junge Johnny Sparsholt, mit dem französischen Austausschüler Bastien und seinem Vater David einen Segeltörn unternimmt.

Nach dem Prolog in Oxford erzählt der Roman nun schlaglichtartig vier Stationen aus Johnnys Leben: Seine erste große Liebe zu Bastien im Alter von 15 Jahren; seine noch schüchterne Annäherung an die durchschwulte Londoner Schickeria mit 23, die darin gipfelt, dass ein Lesbenpaar ihn einlädt, Samenspender für ihr Kind zu werden; Johnny als erfolgreicher Porträtmaler im Alter von 45 Jahren, in fester Partnerschaft mit dem Orgelbauer Patrick und liebevoller Vater der 7-jährigen Lucy, die seiner Samenspende entsprossen ist; und schließlich den 62-jährigen Witwer, der unter Einwirkung von Ecstasy und Viagra ein spätes Liebesglück mit dem jungen Brasilianer José erfährt.

Schon dieser grobe Überblick lässt erkennen, dass Hollinghurst die Motive gleich mehrerer früherer Romane aufgreift: das des jungen Mannes, der als Gast in der Londoner Oberschicht verkehrt, wie in „Die Schönheitslinie“ (2004), das des alternden Mannes, dem durch Ecstasy eine zweite Jugend geschenkt wird, wie in „Die Verzauberten“ (1998) – vor allem jedoch die Verstrickung in die Schuld eines Vorfahren wie in der „Schwimmbad-Bibliothek“ (1988), seinem ersten Roman. Zur Erinnerung: Die „Schwimmbad-Bibliothek“ erzählt, wie der reiche Playboy William Beckwith nach einer Begegnung auf der Klappe den Auftrag übernimmt, die Memoiren des greisen Lord Nantwich zu schreiben. Will studiert Nantwichs Tagebücher, ohne zu ahnen, dass der Lord mit seiner Familie noch ein Hühnchen zu rupfen hat: Wills Großvater hatte vor dreißig Jahren als oberster Staatsanwalt eine wahre Schwulenhatz veranstaltet und genüsslich zugesehen, wie Nantwich, der auf einen Polizeispitzel hereingefallen und verhaftet worden war, zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Hinter der vermeintlichen Senilität Nantwichs verbirgt sich eine wohldurchdachte Intrige, der am Ende Wills bester Freund zum Opfer fällt.

Alan Hollinghurst – Foto: Robert Taylor

Dieses Wirken einer Art von Erbsünde scheint Hollinghurst besonders zu faszinieren, denn nach fünfundzwanzig Jahren macht er einen neuen Anlauf, den untilgbaren Schatten, den fremde „Sünden“ auf ein Menschenleben werfen können, zu schildern. Auch Johnny Sparsholts Leben ist geprägt von einem Sexskandal, eben der Sparsholt-Affäre, in die sein Vater 1966 verwickelt war. Sparsholt, immer noch äußerst attraktiv und inzwischen hoch dekorierter Kriegsheld, war offenbar der erotische Mittelpunkt einer Clique einflussreicher Schwuler, die sich öffentliche Aufträge zuschanzten und dabei privat in jeder Hinsicht absahnten. Die Details bleiben im Dunkeln; wir erfahren nur das, was Sohn Johnny von diesem Skandal mitbekam, und der war Legastheniker und konnte die Zeitungsberichte über seinen Vater nicht lesen. Hollinghurst geht es nicht um korrupte Politiker und sensationsgeile Presse, sondern um die Bürde der Familie, von nun an mit einem Brandmal leben zu müssen. David Sparsholts Frau lässt sich scheiden, und Johnny spürt, dass, wohin er auch kommt, die Nennung seines Familiennamens mit einem wissenden Lächeln quittiert wird. Selbst seine Tochter Lucy wird mit diesem Makel konfrontiert.

Um seinen Helden Johnny immer wieder mit den Nachwirkungen der Sparsholt-Affäre zu konfrontieren, erschafft Hollinghurst ein gewaltiges Panorama, in dem man sich leicht „verlaufen“ und den Überblick verlieren kann, worum es hier eigentlich geht. Im Partytalk der Abendgesellschaften, die einen Großteil des Romans ausmachen, zeigt Hollinghurts zwar seine Meisterschaft in der Handhabung eines immensen Personals – zur Erkundung der etwaigen Nachwirkungen der Affäre seines Vaters auf Johnnys Leben dienen diese wortreichen Episoden jedoch nur begrenzt. Was schließlich im Gedächtnis bleibt, sind einige der faszinierenden Gestaltenden des Romans: Im Vordergrund der Menagerie stehen das Lesbenpaar Francesca und Uma, das Johnny als Vater ihres Kindes „adoptiert“, und Johnnys Tochter Lucy nebst erstem kleinem Freund Timothy, dem Johnny 15 Jahre später in einer Schwulendisko wieder über den Weg läuft. Stets präsent sind auch einige Studienfreunde seines Vaters, wie der Kunstkritiker Evert Dax und sein komplizierter Harem junger Freunde, und last but not least Freddie Green, ein sehr beliebter, aber auch undurchsichtiger Literat, der posthum für eine große Überraschung sorgt: In seinem Nachlass wird ein unveröffentlichter „Bericht“ über einen Vorfall gefunden, der sich 1940 in Oxford ereignet haben soll – eben der erste Teil des Romans, den wir gerade lesen. Green behauptet, Johnnys Vater habe, um das Geld für eine Schulstrafe aufzubringen, dem Drängen von Evert Dax nachgegeben und einmal mit ihm geschlafen. Johnnys Vater streitet diesen Vorfall rundweg ab, und Green ist ohne Frage ein unzuverlässiger Erzähler.

Hat David Sparsholt in Oxford gelernt, seinen Sex-Appeal gezielt einzusetzen, und 25 Jahre später auf diese Erfahrung zurückgegriffen? Oder hat Freddie Green nach dem Bekanntwerden der Sparsholt-Affäre die böse kleine Anekdote erfunden? Diese Frage lässt der Roman offen.

Hollinghursts Werke sind durch einen gedrechselten, oft überfrachteten Stil gekennzeichnet, der von Lesern des englischen Originals teils hoch gelobt, teils leicht genervt ertragen wird. An die deutschen Übersetzer stellt dieser Stil hohe Anforderungen, denen sie leider oft nicht gerecht werden. Wer zur deutschen Ausgabe greift, liest einen im Vergleich zum Original sprachlich deutlich bescheideneren Text und mit gelegentlich schlicht unverständlichen Passagen. Hollinghurst-Fans sind die problematischen Übersetzungen gewohnt. Sie werden vermutlich gern in die vertraute Welt des Autors eintauchen und die Selbstzitate früherer Werke reizvoll finden. Wer diesen ohne Frage sehr interessanten Autor jedoch erst kennenlernen möchte, der sollte sich lieber an einen der drei oben genannten Roman-Vorgänger halten.




Die Sparsholt-Affäre
von Alan Hollinghurst
aus dem Englischen von Thomas Stegers

Gebunden, 542 Seiten, 24 €,
Blessing

 

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