Departure

Trailer • DVD / VoD

Andrew Steggall erzählt in seinem Regiedebüt „Departure“, das im Dezember in der queerfilmnacht läuft, von einem Spätsommer in Südfrankreich, in dem eine Kindheit zu Ende geht und die Illusion der heilen bürgerlichen Familie zerbricht. Der britische Nachwuchsstar Alex Lawther, der bereits als junger Alan Turing in „The Imitation Game“ glänzte, spielt darin den Teenager Elliot: einen schriftstellerisch begabten Träumer, der beherzt nach einer Sehnsucht greift, die schon lange zuvor in der Luft lag. Ein märchenhaft melancholischer Film im Zeichen jugendlichen Aufbruchs. En garde!

Foto: Edition Salzgeber

Der Rekrut vom Bataillon d’amour

von Matthias Frings

Wer jetzt zum reiferen Semester zählt, war einmal unfertig. Wer nur die Vernunft walten lässt, hatte einmal Flausen im Kopf. Wer lernen musste seine Gefühle zu beherrschen, hat einmal darin gebadet. Und so mancher, den heute die Last des Erwachsenseins drückt, fühlte sich einmal leicht, frei und konnte tanzen – wenigstens in seiner Fantasie.

Die Phase zwischen schmelzend schön und schmerzhaft verzweifelt, die Zeit, in der alles möglich scheint, nennen wir Pubertät oder Adoleszenz oder Jugend. Wer sich zurückerinnert, dem fallen zunächst meist abgedroschene Klischees ein: Peinlichkeiten, Pickel, Wut, Scham und Schüchternheit, Weltekel und komische Flecken in der Bettwäsche. Taucht man tiefer in die Rückblende ein, finden sich erstaunlich viele positive Erinnerungen. Sie sind nur fast mutwillig verschüttet, als offenbare die jüngere Ausgabe unseres Selbst, wie mittelmäßig wir geworden sind. So gottverdammt realitätstüchtig, so aufgeklärt, so abgebrüht. Könnte gut sein, wir waren einmal empfindsamer, zuversichtlicher, feinfühliger. Da gab es viel Mitgefühl und einen gut funktionierenden Sensor für Gerechtigkeit. Diese drei, vier Jahre im ersten Lebensdrittel sind es, die sich der Regisseur Andrew Steggall in seinem Debütfilm vornimmt. Da es sich um eine Zeit des Umbruchs handelt, ist der Titel „Departure“ gut gewählt – wer irgendwo ankommen will, muss zuerst abreisen.

Der fünfzehnjährige Brite Elliot und seine Mutter Beatrice schaffen gleich zu Anfang beides auf einmal: Sie treffen in einem idyllischen französischen Dorf ein, aber nur um den Verkauf ihres Sommerhauses abzuwickeln und den Hausrat zu entsorgen, die Teller, Tassen, Möbel und Gesellschaftsspiele, Überbleibsel einer Familie, Überbleibsel einer Ehe. Es ist schon dunkel, als ihnen auf der unwegsamen Strecke etwas vors Auto läuft. Vielleicht lag auch nur ein Ast im Weg. Es war ein Hirsch – davon ist der verträumte Elliot überzeugt. Dieses eher poetische als realistische Bild setzt den ersten Ton dieser Gefühlsoper.

Der zweite lässt nicht lange auf sich warten. Elliot – expressive Augenbrauen, schöner Mund – mustert sich lange im Spiegel. Unterhalb des Bildausschnitts arbeitet hastig seine Hand, oberhalb küsst er sein Abbild. Noch steht keine helfende Hand zur Verfügung. Er schlüpft in seine geliebte abgenutzte Uniformjacke und stiefelt als Rekrut vom Bataillon d’amour durch einen sonnendurchfluteten Wald, steckt sich Blätter und Vogelfedern ins Haar, halb Dichterfürst, halb Indianer, der bald seine Beute erspäht: Clément, aus Paris zu Besuch bei der Tante – drahtig, trotzige Fresse, enigmatisch – quarzt eine Zigarette, zieht sich dann aus, schnippt die Kippe weg und springt in den Stausee. Elliots Gesichtausdruck lässt keinen Zweifel daran, dass dieses Bild schon im Moment seines Aufscheinens zur prägenden Erinnerung wird. Der Stausee sei streng verboten, werden wir im Lauf der Geschichte noch mehrfach hören…

Foto: Edition Salzgeber

Et voilà –alles da, was sich in wahrscheinlich 95% aller schwuler Biografien findet: Verwirrung der Gefühle, pochendes Herz, schmerzhafte Erektion. Fragezeichen, Gedankenstrich, Ausrufezeichen. Vielleicht gesellt sich noch eine kleine oder große Portion Scham hinzu, je nachdem.

Was nun folgt, kennen wir aus zahlreichen ähnlichen Filmen: schüchternes Werben, vorsichtiges Tasten, mutige Attacke, erste Zurückweisung. Und so weiter. Dem Narrativ aber ist hier nicht so wichtig, es macht den Film nicht aus. Der interessiert sich nämlich viel mehr für Gefühlszustände, will die Schwingungen dieser schwärmerischen Zeit in Bildern festhalten. Wenn Elliot seinen Clément zum zweiten Mal trifft, schraubt der hinter einer weißen Plane an seinem Moped herum. Wir sehen das als Schattenspiel, fast  schon eine Parabel. Immer wieder locken die Natur, Bäume, Gräser, Wasser, Sonnenreflektionen, die bemooste Textur einer unverputzten Hauswand. Stets ein Schreibheft in der Tasche, streift unser Held, Poet und Poseur zugleich, durch diese leuchtende Welt und sucht nach einem passenden Wort für das Gefühl, wenn Wasser durch die Hände rinnt. Deutlich prosaischer kommt die Natur daher, etwa wenn Clément ihn später einmal als Pédé anmacht, der sich Karotten in den Arsch schiebt und Elliot damit auf eine Idee bringt.

Andrew Steggall, der bisher einige Kurzfilme drehte und als Theaterregisseur arbeitete, weiß seine Südfranzosenwelt delikat anzurichten: das Landhaus mit den blauen Fensterläden, das romantisch abgewetzte schmiedeeiserne Bett, alte Spiegel, Tonkrüge, bunte Gläser und Flaschen im Gegenlicht. Selbst eine elegisch  im Wind wehende Plastiktüte macht hier etwas her. Das ist recht hübsch und etwas aufdringlich. Cineastischer Country Style für unbefriedigte Gattinnen.

Foto: Edition Salzgeber

Überzeugender sind da schon die Szenen, die draußen im Wald und auf den Wiesen spielen, subtil eingefangene Abschiedsstimmungen wie mit Wasserfarben gemalt, eine Palette in Grün und Blau. Den Film zeichnet aber auch ein feines Gespür für Details aus, die etwas zu kurzen Hosen des Hauptdarstellers oder die ständigen Ermahnungen der Mutter wie an ein Kleinkind, sich die Hände zu waschen.

Die Mütter spielen wie bei jedem Heranwachsenden eine wichtige Rolle: Cléments abwesende Mutter, weil sie an Krebs leidet und der ruppige Junge erst dadurch für menschliche Nähe empfänglich ist. Und Elliots Mutter, eine verschattete Frau, deren Verzweiflung sich erst nach und nach erklärt. „Empfindest du eigentlich nichts?“, fragt der Sohn sie einmal entnervt.

Irgendetwas in dieser Familie stimmt nicht, irgendwo liegt ein Hirsch begraben. Wenn der Vater am Telefon sein Kommen ankündigt, erstarren Mutter und Sohn zu Wachsfiguren. Trifft er schließlich ein, nimmt der Film eine etwas konventionellere Wendung. Die blinden Flecken dieser Familienaufstellung werden enthüllt, ein Geheimnis, das dieses Trio in ein strangulierendes Lügengewebe einbindet.

Man darf vermuten, dass die Wendungen des Plots aus Spannungsgründen eingebaut wurden, eine Konzession an Zuschauererwartungen. Spürbar hängt das Herz der Macher aber an der Visualisierung: daran, Atmosphären zu schaffen, um das Schweben der Gefühle, das Tasten und Ausprobieren einzufangen, Poesie einerseits, aber auch plötzliche Ausbrüche von Aggression und Gewalt andererseits. „Departure“ hält sich im wahrsten Wortsinn bedeckt, punktet dafür mit leisem Witz und subtiler Ironie.

Foto: Edition Salzgeber

Die komplexen Charaktere geben den Akteuren viel Gelegenheit ihr Können zu zeigen. Juliet Stevenson, ein Schlachtross aus der ersten englischen Schauspielerinnengarde, verleiht ihrer Darstellung einer verhärmten Frau, die alle Waffen gestreckt hat, eine Tiefe und Würde, die sie vor der Lächerlichkeit rettet. Immer wenn ihre Larmoyanz zu nerven beginnt, erinnert eine trocken-gewitzte Bemerkung oder ein herzhafter Biss in eine saftige Feige daran, dass diese Frau wohl auch einmal ganz anders konnte.

Der Film steht und fällt aber mit seinem Hauptdarsteller. Alex Lawther ist schon als junger Alan Turing in „The Imitation Game“ positiv aufgefallen und hat dafür diverse Preise eingeheimst. Zu Recht, wie sich hier herausstellt. Die schillernden Facetten eines noch unfertigen Charakters, Ängstlichkeit, Verstocktheit, die Verschlossenheit ebenso wie die großkotzige Pose, könnten ganz schnell albern wirken. Nicht so in diesem Film. Lawthers Studie eines Aufbruchs gerät ihm beeindruckend stimmig – von weit aufgerissenen Kinderaugen bis zu dem verliebten jungen Mann, der im richtigen Augenblick sehr wohl Hand anzulegen weiß.

„Musst du unbedingt diese Uniformjacke tragen, sie hat Löcher“, mosert die Mutter einmal. „Ich auch“, antwortet Elliot. Wie er diese Löcher spielt, lasst vermuten, dass aus ihm einmal ein sehr guter Schauspieler wird. Ein guter ist er jetzt schon.



Departure
von Andrew Steggall
UK/FR 2015,  109 Minuten, FSK 12,
englisch-französische OF mit deutschen UT,
Salzgeber

Hier auf DVD.

vimeo on demand

VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

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