The Blue Hour
Trailer • DVD / VoD
Der eben auf DVD erschienene Film „The Blue Hour“ der thailändischen Regisseurin Anucha Boonyawatana hält einige Überraschungen parat – nicht nur weil er ein (schwules) Thailand zeigt, das selbst der neugierige Tourist nur selten zu Gesicht bekommt, sondern vor allem weil das anfängliche Schmunzeln auf den Lippen über die süße Coming-out- und Liebesgeschichte bald einem vor Entsetzen weit geöffneten Mund weicht. Ein Cruising-, Liebes- und Coming-out-Film, die sich langsam aber sicher zu einem Geister- und Horrorfilm wandelt.
Freischwimmen mit Gespenstern
von Micha Schulze
Alles beginnt mit einem Onlinedate. Schüler Tam, vielleicht gerade mal 16, hat sich mit dem etwas älteren Phum in einer Schwimmbad-Ruine zum Sex verabredet. Doch Tam, der gerade erst von seinen Klassenkameraden verprügelt wurde, will in erster Linie nur Kuscheln. Phum ist da deutlich abgeklärter: „Du kannst mir auch einfach nur einen runterholen.“
Und auch zu Hause bei Tam scheint zunächst alles auf eine klassische Coming-out-Geschichte hinauszulaufen. „Kannst du nicht anders sein?“, fragt seine Mutter heulend, nachdem sie beim Aufräumen schwule Pornohefte gefunden hat. „Hab ich dich schlecht erzogen? Hast du kein Mitleid mit mir?“ Der Vater darf erst gar nichts wissen von Tams Vorliebe für andere Männer. Dabei wird Thailand doch vom Fremdenverkehrsamt in der westlichen Welt als LGBT-Paradies beworben. „The Blue Hour“ blickt hinter diese Toleranz-Kulisse. Nicht wenige Lesben, Schwule und Transgender glauben in Thailand noch immer, ihr Anderssein sei eine Strafe für schlechtes Verhalten in einem früheren Leben.
Auch Phum, der Tam heimlich nach Hause gefolgt ist, meint, er müsse als homosexueller Sohn seine Eltern, quasi als Wiedergutmachung, besonders großzügig unterstützen – was er als Mechaniker aber nicht kann. „Wer kein Geld hat, ist ein Arschloch“, beschreibt er treffend seinen gesellschaftlichen Status.
Mit einem nächtlichen Ausflug der beiden Jungs auf eine einsame Müllkippe irgendwo am Stadtrand beginnt sich der Charakter des Films zu wandeln. Dieses Land habe früher einmal seiner Familie gehört, erzählt Phum, sei dieser aber dann von einflussreichen Leuten widerrechtlich weggenommen worden. Der große Traum des Sohnes ist es, das Grundstück eines Tages zurückzubekommen, um dann – typisch Thai – für den Rest des Lebens ausgesorgt zu haben. Dann überschlagen sich die düsteren Ereignissen: Tam entdeckt eine Leiche, wird von einem unbekannten Mann mit Pistole verfolgt und erschlägt diesen schließlich mit einer Eisenstange. Wumms! Nun wird der Film Szene für Szene mysteriöser und bizarrer.
Immer mehr blutige Dinge passieren im Umfeld der beiden Jungs, immer mehr Leichen tauchen auf und verschwinden wieder, selbst die Geister des verlassenen Schwimmbads erwachen zu neuem Leben. Als Zuschauer_in kann man irgendwann nicht mehr unterscheiden zwischen der realen Handlung und Tams Träumen. Auch das Ende lässt viele Interpretationen offen. Ein verstörender Film, in vollkommen positiver Hinsicht.
„The Blue Hour“, der seine Weltpremiere 2015 im Panorama der Berlinale feierte, steht in bester Tradition des mythisch-spirituellen Kinos des schwulen thailändischen Regisseurs Apichatpong Weerasethakul („Tropical Malady“, 2004; „Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben“, 2010). Vor allem in den dramatischen Spielszenen im Schwimmbad merkt man den Darstellern Atthaphan Poonsawas (Tam) und Oabnithi Wiwattanawarang (Phum) aber auch an, dass sie beide Newcomer sind. Ungleich glaubwürdiger erscheinen die Szenen des Films, die ein geradezu gespenstisch ruhiges Thailand ohne Staus, Glitzer-Malls und wummernden Clubs zeigen. Und jene, in denen wir Tam und Phum bei ihrer beinah sprachlosen Annäherung beobachten dürfen: beim Luftanhalten im Pool der Schwimmbadruine, beim Suppe schlürfen im einsamen Tempel, beim Kuscheln auf dem Dach eines dreistöckigen Betonklotzes oder beim Moped-Ausflug auf leeren vierspurigen Straßen.
Das Drehbuch hat nicht nur einen guten Blick für Alltagsdetails, es ist für einen thailändischen Film auch ziemlich mutig. Das Schultzalter für Sex liegt eigentlich bei 18 Jahren, Pornografie ist per Gesetz verboten, und die Willkür der Mächtigen und Homophobie kommen als Themen im nationalen Kino selten vor. Den Namen der Regisseurin Anucha Boonyawatana sollte man sich also auf jeden Fall merken. Auf dem Filmfestival in Cannes wurde sie in diesem Jahr vom Kulturministerium sogar als offizielle Nachwuchshoffnung des thailändischen Films präsentiert. Beim „Thai Pitch“ stellte er sein neuestes Projekt „Malila“ vor: ein philosophisches Drama über Buddhismus und Tod aus der Perspektive eines schwulen Mönches, dem ein früherer Liebhaber in einer neuen Verkörperung begegnet. Wenn das nicht vielversprechend klingt!
The Blue Hour
von Anucha Boonyawatana
TH 2015, 100 Minuten, FSK 16
OF in Thai mit deutschen UT,
Edition Salzgeber
Hier auf DVD.