Vorurteil und Stolz

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Der schwedische Stummfilm „Ikarus“ (1916) von Mauritz Stiller erzählt andeutungsreich von der Liebe zwischen einem schwulen Bildhauer und seinem Model – und gilt als eines der ersten Zeugnisse des queeren Kinos überhaupt. Eva Beling hat sich in den schwedischen Filmarchiven auf die Suche nach dieser und anderen queeren Geschichten, Figuren und Momenten gemacht – und eine ganze Schatztruhe geborgen, mit der sie die Entwicklung von den Anfängen bis zu Filmen wie „Something Must Break“ (2014) und „Als wir tanzten“ (2019) nachzeichnet. Jochen Werner fühlt sich von Belings rebellischer Neulektüre einer ganzen nationalen Kinematographie zu vielen neuen Filmsichtungen inspiriert – und wünscht sich, dass irgendwer einen vergleichbaren Film auch einmal dem deutschen Kino widmen möge.

Foto: Salzgeber

Eine Schule des Sehens

von Jochen Werner

Der vor über 100 Jahren vom großen schwedischen Stummfilmregisseur Mauritz Stiller inszenierte Film „Vingarne“ („Flügel“, 1916) ist zwar lediglich fragmentarisch überliefert, stellt aber selbst in der mittels Standfotos und Texttafeln restaurierten, 53-minütigen Torsofassung noch eine erstaunliche Seherfahrung dar – jedenfalls sofern man eingeweiht genug ist, um eine gewisse, notwendige Transferleistung beim Schauen zu erbringen. Stiller erzählt darin die Geschichte des alternden Bildhauers Claude Zoret, der den schönen Jüngling Eugène Mikael nicht nur als Modell seiner Ikarusstatue erwählt, sondern auch als „Adoptivsohn“ bei sich aufnimmt – zumindest solange, bis dieser ihm von einer schönen Gräfin abspenstig gemacht wird. Als Zoret schließlich vor Kummer einen dramatischen Tod stirbt und Mikael sein gesamtes Hab und Gut vermacht, erkennt der seinen Irrtum und weist die Gräfin und somit auch die an ihm zerrenden Fänge der Heterosexualität zurück.

Von einer Liebesbeziehung zwischen den beiden Männern ist in „Vingarne“ nicht wörtlich die Rede, das Wort „Adoptivsohn“ fällt mehrmals, sodass die Dreiecksbeziehung für ein heteronormatives Publikum zumindest notdürftig heteronormativ lesbar bleibt. Für die Filmemacherin Eva Beling markiert die Männerbeziehung in „Vingarne“ dennoch die Urszene der (vielleicht nicht nur) schwedischen queeren Kinogeschichte, durch die sie uns in ihrem beeindruckend gut recherchierten Dokumentarfilm „Vorurteil und Stolz“ einhundert Minuten lang führt. Es ist also ein queeres Kino vor dem queeren Kino, ein queeres Kino zu einer Zeit, als Homosexualität noch Straftatbestand und es undenkbar war, eine schwule Liebesgeschichte auf der Leinwand offen als eine solche zu zeigen. Ein schwules Kino in Camouflage, das sich hinter einem heterosexuellen Anschein verstecken musste und doch all jene, die sich darin wiedererkennen konnten und wollten, wissen ließ, worum es eigentlich geht.

Es gibt viele Szenen einer solchen versteckten, verkleideten Homosexualität in Eva Belings Film, der sich über ein Jahrhundert durch die schwedische Filmgeschichte arbeitet und dabei eine Entwicklungsgeschichte erzählt: von den im Subtext versteckten Identifikationsangeboten von Eingeweihten für Eingeweihte über das unabhängige, radikale und mit anderen gesellschaftlichen wie künstlerischen Emanzipationsbewegungen verwobene queere Kino der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis hin zum zunehmenden Einsickern nichtheterosexueller Geschichten in den Mainstream – und, als Kehrseite der Medaille, vielleicht auch der Vermainstreamung so mancher ursprünglich mal radikaler gedachter Vorstellung von dem, was ein queeres Kino so bedeuten könnte. Und dann: ein neuer Aufbruch, der vor allem dadurch begründet wird, dass trans Filmemacher:innen wie Jana Bringlöv Ekspong und Ester Martin Bergsmark nun die Kameras in die Hand nehmen, um ihre eigenen Geschichten auf die Leinwand zu bringen und neue, vielleicht authentischere Identifikationsangebote ins inzwischen weit diversifizierte Feld des queeren Filmschaffens einzubringen.

Eva Beling erzählt ihren so materialreichen wie tief in der Kinogeschichte schürfenden Film nicht zuletzt als eine Geschichte ebendieser Identifikationsangebote – und vor allem als eine Geschichte, die sich stets weiter entwickelt, in der jeder zunächst kleine Schritt all die, die noch folgen können und müssen, erst ermöglicht. An der formalen Oberfläche ist „Vorurteil und Stolz“ kein sonderlich radikaler oder avancierter Film; er bewegt sich ganz im Rahmen dessen, was heute als „gut gemachter“, festival- wie fernsehtauglicher Dokumentarfilm durchgeht. Filmausschnitt folgt auf talking head, talking head auf Filmausschnitt. Aber mehr als diese klare, durchstrukturierte konventionelle Form braucht es hier auch nicht, denn die Materialfülle und der Kenntnisreichtum von Belings Recherche sprechen ganz für sich. Unzählige Filmausschnitte weisen auf zahllose, mindestens für Nichtexperten des skandinavischen Kinos durchaus als Geheimtipps durchgehende Filme hin, die es allesamt wieder- oder erstmals zu entdecken gälte, und das allmähliche Mahlen der Mühlen des emanzipativen Fortschritts wird auch im Durchschreiten des Films spür- und erkennbar. Von der Doppelcodierung, dem Versteckspiel und dem spielerischen Austesten der Grenzen der Heteronormativität über den rebellischen Stolz der queeren Kampfjahre bis in den Arthouse-Mainstream und ins schwedische Fernsehen – und vielleicht wieder zurück in den Kampf, der ja doch immer mal wieder ziemlich notwendig erscheint.

Foto: Salzgeber

Auch und insbesondere für all diejenigen, die sich auch heute noch gern und immer wieder in bester aktivistischer Absicht an verschiedensten Fronten der queeren (Selbst-)Repräsentation verkämpfen, sollte „Vorurteil und Stolz“ äußerst gewinnbringend und im Grunde Pflichtprogramm sein, funktioniert doch Belings Film gar nicht zuletzt auch als eine Art Schule des Sehens. Allzu schnell ist man ja mitunter dabei, auch bedeutende, epochemachende Werke des queeren Kinos an heute gültigen (oder heftig umstrittenen) Maßstäben der queerpolitischen Korrektheit zu messen – und dort, wo sie diesen nicht entsprechen, in Bausch und Bogen zu verdammen. Die von Beling hier nicht nur vorgeschlagene, sondern sehr überzeugend praktizierte Form der Filmgeschichtsschreibung lässt jedoch Raum für beide Perspektiven: Einerseits ist sie sehr dezidiert die Geschichte eines langen Marsches heraus aus dem Versteck, heraus aus dem Klischee, hin zu einem Kino, in dem immer mehr queere Menschen selbst bestimmen, welche Geschichten über sie erzählt werden und in welchen Formen sie auf der Leinwand repräsentiert werden. Und gleichzeitig stellt sie unmissverständlich klar, dass all die kleinen Schritte auf dem Weg dorthin, von den mehr oder weniger offenen, mehr oder weniger mutigen Pionieren des queeren Kinos die Fundamente sind, auf denen das, was heute als zeitgemäßes queeres Kino durchgeht, errichtet ist. Und dass so manche Filmemacher:innen, deren Arbeiten heutige Maßstäbe verletzen mögen, zu ihrer Zeit zu den mutigen Revolutionär:innen zählten, deren Lebensleistungen gewürdigt statt gecancelt gehören.

Foto: Salzgeber

Schließlich, und auch das ist als Maxime einer solchen Kino- und somit Kunstgeschichtsschreibung gar nicht genug zu betonen, weiß Eva Beling auch, wie wichtig es ist, um manch kontroverses Werk weiterhin zu streiten. Zu Vilgot Sjömans „Tabu“ etwa, einem waschechten Skandalstreifen von 1977, lässt sie zwei radikal unterschiedliche Perspektiven zu Wort kommen. Radikales, transgressives Meisterwerk oder komplett ahnungsloses Exploitationkino? „Vorurteil und Stolz“ lässt das so stehen, ohne zu insinuieren, dass es da eine korrekte und eine falsche Position gäbe, und schürt somit umso stärker die eigene Lust, sich den Film umgehend anzuschauen und sich eine eigene Meinung dazu zu bilden.

Vielleicht ist das überhaupt eine Konsequenz, auf die man sich einstellen sollte, wenn man diesen so aufschluss- wie kenntnisreichen Film schaut: Wenn man aus dem Kino kommt oder auf die Stopptaste drückt, will man eigentlich umgehend einige Dutzend weitere Filme anschauen, von deren Existenz man vielleicht vorher noch überhaupt nichts wusste. Aber im Grunde ist die Kunst ja stets ein Fass ohne Boden, und die lange Liste der Filme, die es noch zu schauen, noch zu entdecken gälte, wird stets nur länger, nie kürzer. Erfreulicherweise. Und ein weiterer, durchaus dringlicher Wunsch drängt sich dann, vielleicht auf dem Heimweg nach der Vorführung, immer vernehmlicher auf. Dass nämlich irgendwer eine vergleichbare Recherche, einen vergleichbaren Film auch einmal dem deutschen Kino mit all seinen historischen und ästhetischen Bruchlinien widmen möge. Darin nämlich gäbe es – auch wenn der „Schwedenfilm“ in der Bundesrepublik ja lange als ein- bis zweideutige Chiffre für eine im eigenen Land so nicht zu habende sexuelle Offenheit herhalten musste – ganz gewiss nicht weniger von der Filmgeschichte Verschüttetes zu entdecken.




Vorurteil und Stolz
von Eva Beling
SE/IS/FI 2021, 100 Minuten, FSK 16,
schwedische OF mit deutschen UT

Als DVD & VoD

Zur DVD im Salzgeber.Shop

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VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

 

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