Vojin Saša Vukadinović (Hg.): Zugzwänge

Buch

Der von Vojin Saša Vukadinović herausgegebene Band „Zugzwänge: Flucht und Verlangen“, erschienen in der kontroversen Kreischreihe des Querverlags, nimmt die Situation queerer Geflüchteter in den Blick – aus theoretischen, politischen und aktivistischen Perspektiven. Für unseren Autor Peter Rehberg ist die Textsammlung vor allem zweierlei: das Projekt, durch Schilderungen der Situation vor Ort, Informationen über Organisationen und Initiativen, Lebensberichte und schließlich auch Literatur mehr über die Lebensbedingungen von Geflüchteten zu erfahren; und eine programmatische Abrechnung mit Queer Theory und postkolonialen Theorien. Letzteres weckt bei ihm reichlich ambivalente Gefühle. Eine kritische Analyse.

Kritik vs. Selbstkritik

von Peter Rehberg

Auf die Frage, wie eine intersektionale Perspektive, die unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen in den Blick nimmt, nicht zu einer Diskriminierungsolympiade führt, bei der die Betroffenen erbarmungslos aufeinander eindreschen, um selbst ein größeres Stück vom Kuchen abzubekommen, gibt es bis heute kaum eine überzeugende Antwort. Vielmehr zeigen sich an dieser Stelle genau die Spaltungen, die seit Jahren eine linke Szene zerreißen. Diese Streitereien sind so grundlegend, dass die Orientierung, wer sich hier noch „links“ nennen darf, verloren geht: zwischen queerer (oder queerfeministischer) und lesbisch-schwuler Identitätspolitik, zwischen Partikularismus und Universalismus, zwischen einer Agenda des postkolonialen Anti-Rassismus oder einer des Antisemitismus, zwischen einem offensiven Sex-Positivismus und einer queeren Respektabilität.

Vojin Saša Vukadinović’ Positionierung in diesen Debatten ist durch seine Mitarbeit an „Beißreflexe“ vor vier Jahren und der Herausgeberschaft von „Freiheit ist keine Metapher“ ein Jahr später bekannt. Wie auch der jetzt von ihm herausgegebene Band „Zugzwänge: Flucht und Verlangen“ sind sie in der „Kreisch-Reihe“ im Querverlag erschienen, der sich mit dieser Reihe programmatisch positioniert hat: auf Seiten einer massiven Kritik an der aktivistischen und akademischen queeren Kultur.

Vukadinović’ Haltung lässt sich durch ein paar Grundzüge charakterisieren: Er nimmt den rauen Umgangston und die Verwerfungen innerhalb queerer Szenen zum Anlass, eine grundsätzliche Kritik an der aus Nordamerika importieren Queer Theory zu üben, die er in erster Linie durch Judith Butler („Gender-Performativität“) und besonders auch durch Jasbir Puar („Homonationalismus“) repräsentiert sieht. Für ihn wurde damit an den Hochschulen und im Aktivismus eine Kultur etabliert, die sich moralistisch selbst gratuliert, Andersdenkende ausgrenzt und bei den wichtigen politischen Problemen, die queere Menschen betreffen, untätig bleibt. Mehr noch: die Etablierung eines postkolonialen Jargons in Kulturinstitutionen und Teilen der Politik richtet Vukadinović und seinen Mitautor*innen zufolge massive Schäden an, beispielsweise in der queeren Flüchtlingspolitik.

Vojin Saša Vukadinović – Foto: Marcus Witte

Dieser Lage widmet sich nun der neue von ihm herausgegebene Sammelband. Nach der Einleitung, die noch einmal eine Einordnung seines Ansatzes im Diskursfeld präsentiert, als Konfrontationskurs gegen den „undurchdringlichen Herrschaftszusammenhang (…) gender- und queertheoretisch orientierter Ideologieproduktion“, beginnt der erste Teil mit Berichten zur globalen Lage queerer Flüchtlinge. Sabri Deniz Martins Text fächert die Geschichte von sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität als Fluchtgrund seit dem Zweiten Weltkrieg auf; Till Randolf Amelung berichtet über die Arbeit der wichtigsten queeren Flüchtlingsorganisation, der kanadischen IRQR (International Railroad for Queer Refugees); Lukas Savari und Dinah Wiesenstein stellen die Lage queerer Palästinenser dar, und Vukadinović selbst unterhält sich mit den Schriftstellern Khaled Alesmael, David Nanna Ikpo und Nemat Sadat.

Anschließend werden einige theoretische Auseinandersetzungen in globaler Perspektive präsentiert. Hervorzuheben ist vor allem Moritz Pitschneiders Beitrag. Ihm gelingt eine ziemlich interessante Kritik an Jasbir Puars Kategorie der „Homonationalität“, gegen die sich in diesem Band so viel Zorn richtet. Hier lohnt eine genauere Lektüre: Pitschneider erinnert an den Unterschied zwischen dem Diskurs des Rechts und der Dimension von Macht. Auch wenn die Rechtslage gegenüber Machteffekten keineswegs immun ist, müssen Demokratien dennoch an einer kategorialen Unterscheidung von Recht und Herrschaft festhalten. Dieser Unterschied geht Pitschneider zufolge bei Jasbir Puar verloren. Rechtliche Fortschritte wie die Homoehe werden bei ihr auf eine Frage von Macht reduziert, Emanzipationserfolge können nur noch als Normierungsinstrumente verstanden werden. Theoriegeschichtlich verfolgt Pitschneider dieses Problem bis hin zu einer Gegenüberstellung von Foucaults Diskursanalyse und Marx’ historischem Materialismus. Mehr als in den anderen Beiträgen des Bandes erfüllt sich bei Pitschneider der Anspruch, einem queeren und postkolonialen Projekt argumentativ zu kontern.

Panagiotis Koulaxidis erinnert dann daran, dass die Situation queerer Geflüchteter nicht auf juristische Fragen begrenzt bleiben darf, sondern auch als ethische Fragestellung Geltung bekommen muss. Melanie Götz beklagt in ihrem Text über lesbische Geflüchtete, dass sich der Queerfeminismus nicht für die Rechte arabischer Frauen engagiert, und Steffen Stolzenberger verlangt eine Differenzierung zwischen queeren Geflüchteten, deren Geschichten und Probleme sehr unterschiedlich aussehen können.

Bei aller Unterschiedlichkeit der Perspektiven bleibt die Analyse, die sich durch den Band zieht, stets die Gleiche: Die postkoloniale Erzählung, die von einer Kontinuität des europäischen Kolonialismus und seiner gewaltsamen Rassismen bis in die Gegenwart ausgeht und sich damit eine Zurückhaltung in der Kommentierung nicht-europäischen Kulturen wie eben z.B. den Gesellschaften arabischer Länder auferlegt, genauso wie gegenüber den Geflüchteten aus arabischen Ländern, die sich in europäischen Flüchtlingslagern aufhalten, ist blind geworden für die Menschenrechtsverletzungen gegenüber queeren Menschen und Frauen, die sich in diesen Kontexten ereignen und mit der von einem politischen Islam autorisierten Gewalt durchgesetzt werden.

Die Autor*innen wollen es nicht hinnehmen, dass die europäischen Ideale von Emanzipation und sexueller Selbstbestimmung einem vermeintlich kulturellen Relativismus zum Opfer fallen, der aus falsch verstandener Rücksichtnahme mit den Tätern paktiere. Für sie bremst die postkoloniale Perspektive die Möglichkeit effektiver politischer Kritik und Handlungsmacht aus, wobei im Hinblick auf die Lage der Menschenrechte die Situation doch eindeutig sei. „In Wirklichkeit sind die gesellschaftliche Ächtung und die politische Verfolgung von Homosexuellen in der islamischen Welt beispiellos“, schreiben Lukas Arvari und Dinah Weisenstein in ihrem Beitrag. Eine linke Szene, die sich den Anforderungen der Realität auf diese Weise verweigere, hat in ihren Augen kapituliert.

Vukadinović’ Intervention, wie auch die seiner Mitautor*innen, ist mit einem gehörigen Maß an Wut vorgetragen. Insofern handelt es sich mit „Zugzwänge“ auch eher um eine politisch motivierte Geste als um eine akademische Analyse. Die Mühe, sich mit Gegenpositionen queerer Theorie auseinanderzusetzen, machen sich die Autor*innen kaum. Die Chance neuer Einblicke wird damit verspielt. Die Rezeption von Queer Theory, gegen die hier fortwährend polemisiert wird, ist oft extrem verkürzt (z.B. Pitschneiders Kommentierung der Kategorie „Muslim“, S. 178), reflexhaft (Vukadinović’ Bashing von Jasmin Degeling und Sarah Horn, S. 14) oder auch schlichtweg falsch (Lukas Sarvaris und Dinah Weisensteins Bezugnahme auf Edward Said, S. 89). Vukadinović selbst zeigt sich hier als ein ziemliches Großmaul: Obwohl seine Argumentation von einer eher dünnen Textkenntnis zeugt, posaunt er hinaus: „Die Queer Theory ist bekanntlich passé; ihr Unvermögen, einen konzisen und gesellschaftspolitisch relevanten Gedanken zu formulieren, der über das bloße Plädoyer für ‚Diversität‘, pseudorevolutionäres Gebahren und die Affirmation von diesem und jenen hinausgeht, demonstriert ihre Anhängerschaft selbst.“ (S. 14)

Über solche Statements kann man lachen oder wütend werden (und ich selber kann nicht umhin, dabei auch wütend zu werden, wie man diesen Zeilen gerade anmerkt). Oder man kann die Frage stellen, ob man angesichts der reflexhaft vorgetragenen Kritik an Queer Theory diesen Band – ebenso reflexhaft – ignoriert und beiseitelegt. Doch wie schon bei „Beißreflexe“ gibt es auch hier Stimmen, die einer postkolonialen/queeren Position, der ich mich in vieler Hinsicht verbunden fühle, nicht egal sein können. Eigentlich sind in „Zugzwänge“ zwei unterschiedliche Projekte untergebracht: Eine kurzatmige Abrechnung mit Queer Theory und postkolonialen Theorien einerseits und andererseits das Projekt, durch Schilderungen der Situation vor Ort, Informationen über Organisationen und Initiativen, Lebensberichte und schließlich auch Literatur mehr über die Lebensbedingungen von Geflüchteten zu erfahren. Dies geschieht dann zunehmend im zweiten Teil des Bandes, der die Lage in Deutschland in den Blick nimmt. Berichtet werden z.B. die Geschichten einer lesbischen Romni aus Albanien und eines tschetschenischen Schwulenpaars bei ihrer Ankunft in Deutschland. „Zugzwänge“ interessiert sich auch für die meistens ehrenamtliche Arbeit mit queeren Geflüchteten z.B. in Vereinen wie vielbunt in Darmstadt oder der Rainbow Refugees Cologne Support Group.

Viele der Texte in „Zugzwänge“ sind lesenswert, wie das Interview, das Vukadinović mit dem syrisch-schwedischen Schriftsteller Khaled Alesmael geführt hat, dessen Roman „Selamlik“ letztes Jahr auf Deutsch erschienen ist. Ebenso sein Gespräch mit dem nigerianischen Schriftsteller und Rechtsanwalt David Nanna Ikpo über den Nutzen des Geschichtenerzählens für die rechtlichen Belange queerer Menschen in Nigeria. Dessen Schilderungen über traditionelle queere Lebensweisen sind übrigens oft viel dichter dran an einer queeren, postkolonialen Erzählung, als der Interviewer es wahrhaben will; und schließlich gibt es noch ein Interview mit dem amerikanisch-afghanischen Schriftsteller Nemat Sadat, der als erster Afghane öffentlich ein schwules Coming-out hatte. Ziemlich bewegend sind auch die Lebensberichte von Amed Sherwan, Worrod Zuhair, Lilth Raza und Haidar Darwish am Ende des Bandes. Geschichten aus ihren Herkunftsländern Irak, Pakistan und Syrien werden hier mit ihren Erfahrungen in Deutschland verknüpft.

Der Vorwurf der Autor*innen, dass sich z.B. die deutsche Öffentlichkeit nur wenig für die Probleme in arabischen und nordafrikanischen Ländern interessiert, oder auch überhaupt nur einen Blick für die Unterschiede zwischen verschiedenen arabischen und afrikanischen Gesellschaften hätte, während sie gleichzeitig meinen, alles Wissenswerte zum Thema Rassismus von sich geben zu können, ist nicht unberechtigt. Den Betroffenen und Aktivist*innen zuzuhören und ihnen in diesem Sammelband Raum zu geben, ist jedenfalls ein Projekt, das Unterstützung verdient.

Eine Strategie von „Zugzwänge“, den diskursiven Zugriff postkolonialer und queerfeministischer Theorien zu kontern, besteht also darin, dem queeren Begriffsapparat eine Geschichte der Rechtslage, genaue Beschreibungen, aktuelle Reportagen und Interviews mit Mitarbeitern von Flüchtlingsorganisationen und Geflüchteten entgegenzusetzen. Queere akademische Textproduktion könne sich nur deshalb auf ihren Positionen ausruhen, weil sie sich diese Arbeit gar nicht erst mache, und die Geschichten von Individuen, die nicht ins Raster ihrer Theorie passen, ignoriere (siehe z.B. Sabri Deniz Martins Beitrag dazu). Beschreibungen der Lage vor Ort sind sowohl für politisches Handeln als auch für die Theoriebildung wichtig; aber sie ersetzen sie natürlich nicht – zumal ja das Projekt „Zugzwänge“ selbst keinesfalls ohne Theorie auskommen will. In seiner verordneten politischen Ausrichtung und den vorhersehbar sich wiederholenden Argumentationsfiguren hat der Band vielmehr auch den bitteren Beigeschmack, dass die hier veröffentlichten Erfahrungsberichte etwas krude in den Dienst der eigenen Positionierung gestellt werden.

Etwas Großzügiger gedacht könnte man den oftmals vereinfachenden und einseitig darstellenden Gestus von „Zugzwänge“ auch als einen Wesenszug von Aktivismus betrachten: die Abkürzung über ein paar Schlagworte nehmen und sich lieber auf die konkrete soziale und politische Arbeit konzentrieren. Bei der Zirkulation ehemals theoretischer Begriffe in aktivistischen Kontexten kommt es immer zu Verkürzungen, Missverständnissen und Instrumentalisierungen. Eine solche Nachsicht müsste dann allerdings auch für die queere Gegenseite gelten – gegen die sich „Zugzwänge“ in Stellung bringt – und man landete somit in der Sackgasse eines konfrontativen Gebrülls, das nur noch über Machtverhältnisse, Zugang zu Ressourcen, Fördergelder, Uni-Jobs und publizistische Plattformen streitet. In diesem Sinne ist „Zugzwänge“, wie auch die anderen Bände der „Kreisch-Reihe“, eine Kampfansage. Vielleicht fühlt man sich gut, weil man seinem Ärger Luft gemacht hat und die eigenen Reihen schließen kann. Für ein besseres Niveau in der Diskussion sorgt das aber nicht.

Man könnte den Konflikt zwischen den in „Zugzwänge“ immer wieder vorgetragenen Forderungen und einer Position des queeren Postkolonialismus auch etwas nüchterner als das Verhältnis von Kritik und Selbstkritik beschreiben. Während Vukadinović zu den alten Tugenden linker Kritik wie einer stabilen Vorstellung von Emanzipation und universellen Menschenrechten zurückkehren will (eine Position, mit der er ja keineswegs allein ist: Alain Badiou und Mark Lilla argumentieren ähnlich), kann der intersektionale Postkolonialismus als eine Form der Selbstkritik verstanden werden, wie Maria do Mar Castro Varela es zum Beispiel vorschlägt. Aus der Perspektive einer multiplen Moderne wird die Aufrichtigkeit eben dieser Begriffe in Zweifel gezogen, weil sie, so die Annahme, immer schon einen Pakt mit den Machtinteressen des Westens eingegangen sind.

Greift man Vukadinović’ Kritik am queeren Aktivismus auf, hätte dieser eben Kritik im Sinne der Aufklärung durch Selbstkritik ersetzt. Selbstkritik, so der Vorwurf, ist ja auch viel einfacher, weil man sich z.B. nicht mit fremden Regierungen anlegen muss, und dafür wirtschaftliche Interessen hintenanstehen würden, sondern sich einfach nur in der eigenen Szene die Köpfe einschlägt: ein Eingeständnis politischer Ohnmacht. Die hier präsentierte Polemik dreht den Spieß allerdings nur um und restauriert das alte Konzept der Kritik auf Kosten von Selbstkritik.

An dieser Stelle geht es für mich um eine deutliche Distanzierung gegenüber Vukadinović’ Projekt: Die postkoloniale Agenda kann nicht einfach abgehakt und vergessen werden, weil es in der Kultur, die sie umsetzt, zu agitatorischen Verkürzungen kommt, oder weil sie das handelnde politische Subjekt vor die Frage stellt, wie reagieren, wenn in bestimmten Situationen der Anspruch auf Anti-Rassismus mit dem auf universelle Menschenrechte zu kollidieren scheint. Wie sich die Notwendigkeit von beidem – Kritik und Selbstkritik – innerhalb queerer Szenen produktiv verwirklichen lässt, darauf bleibt dieser Band eine Antwort schuldig.

Etwas Mitgefühl habe ich für Vukadinović’ Wutanfälle allerdings schon, denn eine Position des permanenten Abwägens, die übrigens auch von queerfeministischer Seite oft nicht besser gelingt, kann auch zu einem double-bind führen und taugt nur bedingt als politische Handlungsanweisung. Zerrissen zwischen Emanzipationswunsch und postkolonialer Selbstkritik halten viele Akteur*innen in Woke-Kontexten tatsächlich lieber den Mund, aus Angst, etwas Falsches zu sagen. Die Beschreibung solcher sozialen und kommunikativen Phänomene, die schon „Beißreflexe“ auszeichnete, ist auch ein Verdienst von „Zugzwänge“.

Und dennoch verkennen die Autor*innen hier das Problem. Ein Beispiel, das in „Zugzwänge“ gleich mehrfach genannt wird (und bei dem ich nicht ganz unbeteiligt bin, ich verdiene mein Geld hauptsächlich als Sammlungsleiter und Kurator im Schwulen Museum Berlin): Das Schwule Museum präsentierte im Rahmen der Ausstellung „Tapetenwechsel“, die anstelle einer Dauerausstellung zu sehen war, bis 2019 eine Weltkarte mit Informationen über die rechtliche Situation queerer Menschen. Aufgelistet dabei wurden homo- und transphobe Rechtsprechungen. In zwölf Ländern weltweit droht Homosexuellen nach wie vor die Todesstrafe, in 45 Ländern wurden Transgender und Homosexuelle ermordet, worauf mehrere Beiträge von „Zugzwänge“ hinweisen (vgl. hierzu z.B. Till Randolf Amelung). Der Verein GLADT (Gays und Lesbians aus der Türkei) kritisierte die Karte allerdings als rassistisch und forderte vom Museum, dass sie abgehängt wird.

Für Sabri Deniz Martin und Vojin Saša Vukadinović ein klassischer Fall von falscher postkolonialer Rücksichtnahme auf Kosten emanzipatorischer Ideale. Die Mühe, die Beweggründe von GLADT zu ergründen – nicht zuletzt ja auch eine Organisation von Migrant*innen, deren Stimmen Vukadinović doch Raum geben will –, machen sie sich hier nicht. GLADT kritisiert eine einseitige Berichterstattung der westlichen Medien z.B. über die Türkei und den Nahen Osten. Lesben, Schwule, Trans und Inter würden ausschließlich als Opfer staatlicher Repressionen dargestellt werden – wenn sie nicht sexuell exotisiert werden. Ein Interesse und ein Verständnis für lokale queere Kontexte im Nahen Osten gibt es kaum.

Und auch im Kontext des Schwulen Museums erschien die Präsentation der gewaltsamen Verfolgung von Queers weltweit ziemlich plakativ als Hintergrund einer allzu triumphierend präsentierten Emanzipationsgeschichte in Deutschland, inklusive Happy End durch Abschaffung des §175 und Einführung der Homoehe. Für einen solchen diskursiven Gebrauch der Datenlage interessieren sich Martin und Vukadinović aber nicht. Noch einmal anders gesagt: Der Verweis auf das sexuelle Unrecht woanders ist nicht nur eine notwendige Solidaritätsbekundung mit migrantischen Queers, sondern riskiert zugleich auch, sie über eine angenommene sexuell rückständige Herkunft zu stigmatisieren. Auch wenn ich die Einschätzung teile, dass dieser Konflikt in keinem Fall zum Stillschweigen angesichts von Unrecht und Mord gegenüber Transgender und Homosexuellen führen darf, kommt es schon darauf an, den kolonialen Kontext – die Tradition, in der der Okzident über den Orient spricht – mitzudenken, auch wenn das zu widersprüchlichen Einschätzungen führt. Darin besteht unsere historische Situation. Das Schwule Museum entschied sich übrigens, die Weltkarte bis zum Beginn einer neuen Ausstellung hängen zu lassen und lud die Besuchenden zur Kommentierung ein.

Der Konflikt um die Universalität sexueller Menschenrechte lässt sich noch weiter vertiefen: Die Gender-Theoretikerin Gabriele Dietze, die in „Zugzwänge“ an mehreren Stellen ziemlich ihr Fett wegkriegt, sieht in solchen Formen der Darstellung (wie z.B. der Weltkarte im Schwulen Museum) eine Erzählung von „Sexuellem Exzeptionialismus“ am Werk. Ihre Annahme ist, die Argumentation Jasbir Puars fortführend, dass sich neoliberale Gesellschaften schon längst ein sexuelles Befreiungsnarrativ auf die Fahnen geschrieben haben und es bei einem weltweiten Kreuzzug zur Durchsetzung und Verschleierung ihrer Machtinteressen instrumentalisieren. Sexuelle Freiheitsrechte wären also nichts als hübsche Deckmäntel geopolitischer Machtinteressen um Rohstoffe und militärische Absicherung von Einflusssphären. Der frühere US-Botschafter Richard Grenell, ein glühender Anhänger von Donald Trump, mag hier als Beispiel dienen, wenn er, der mit Trumps homo- und transfeindlichen Aktionen anscheinend kein Problem hatte, sich gleichzeitig aber zum Fürsprecher lesbisch-schwuler Rechte im Nahen Osten machen will. Sexuelle Freiheitsnarrative („queer liberalism“) sind auch längst von rechten Parteien gekapert worden, die sich sonst herzlich wenig z.B. für die Gleichberechtigung von Frauen oder Queers interessieren, um Stimmung gegen Migranten zu machen. Im Westen dienen diese Überlegenheitsnarrative, so Dietze weiter, außerdem dazu, die Ambivalenzen gegenüber sexueller Gleichberechtigung in den eigenen Gesellschaften zu überspielen. Dietzes Buch „Sexueller Exzeptionialismus“ lässt sich nicht so einfach zur Seite legen. Mit dieser Perspektive muss man sich schon ernsthaft auseinandersetzen, wenn man in der gegenwärtigen Debatte um globale Sexualitätspolitik mitreden will. Aber bringt die politische Instrumentalisierung von falscher Seite tatsächlich das Projekt einer sexuellen Liberalisierung selbst in Misskredit?

Mit Vukadinović’ Buch im Gepäck kann man Dietze berechtigterweise fragen, ob sie ihre postkoloniale Kapitalismus- und Machtkritik nicht doch auf dem Rücken von Queers und Frauen austrägt, und somit auch eine alte, speziell linke, Diskriminierung von Schwulen fortschreibt, auf die auch Moritz Pitscheider in seinem Beitrag hinweist. Homosexuelle Männer kommen in Dietzes Erzählung jedenfalls in erster Linie als neurechte Kollaborateure in Gestalt von Jack Donovan oder Milo Yiannopoulos vor, oder in der bürgerlichen Variante schwuler Gentrifizierungsgewinner in Hamburg-St. Georg, die auf diesem Wege Migranten verscheuchen und sich damit – gewollt oder ungewollt – zu Akteuren einer homonationalen Agenda machen. Über homophobe Hassverbrechen, einem der zentralen Anliegen von „Zugzwänge“, wird bei Dietze nicht berichtet. Die Frage nach dem Anteil muslimischer Männer daran ist für sie uninteressant: Bei ihr sind sie nicht mehr oder weniger homophob oder frauenfeindlich als Angehörige anderer Religionen. Alles andere hält sie für ein „kulturelles Phantasma“. An dieser Front gibt es einen handfesten Konflikt zwischen Queerfeministinnen und dem in „Zugzwänge“ zum Ausdruck gebrachten Anliegen. Denn das ist letztendlich die Bilanz von Vukadinović’ Projekt: das Narrativ des „Sexuellen Exzeptionalismus“ verschließt die Augen vor einer knallharten homo- und transphoben Wirklichkeit.

Eine Diagnose, die sich durch verschiedene Bände der „Kreisch-Reihe“ zieht (vor allem auch Benedikt Wolfs „SexLit“), ist, dass in den gegenwärtigen linken Bewegungen Sexualität keine große Rolle mehr spielt. Dieser Diagnose stimme ich zu; und in diesem Schweigen über Sexualität liegt ein Problem. Viel hängt hier davon ab, wie wir Sexualität verstehen und was wir ihr zutrauen. Hat die sexuelle Revolution, inklusive der Schwulenbewegung, im Zuge des Vormarsches einer marktkompatiblen, neosexuellen Kultur ihr Kritikpotenzial eingebüßt (wie Dietze es anzunehmen scheint)? Bisschen Grindr-Spaß ist auch den frisch vermählten Schwulen in St. Georg oder Schöneberg erlaubt, neue Ideen und Formen des Engagements bringt die Kultur des Cruising aber sicher nicht mehr hervor; oder kann man sich nach wie vor auf das Potenzial der „Perversionen“ verlassen, Unruhe, alternative Lebensentwürfe und Formen von Community mit sich zu bringen? Welche Rolle spielt Sexualität noch in der Erneuerung queerer Kultur und im politischen Aktivismus? Eine intersektional ausgerichtete queere Kultur hat das Interesse an diesen Fragen jedenfalls verloren. Die queer-of-color-Kritik (David L. Eng, Judith Halberstam und José Esteban Muñoz) hatte schon vor 15 Jahren erklärt, dass es dringendere soziale Probleme gibt, und sich diese nicht mit einem analytischen Blick auf die sexuellen Subkulturen von weißen Schwulen lösen lassen. Dieses Desinteresse – speziell auch schwuler – Sexualität gegenüber liegt aber nicht nur an der historischen Dringlichkeit auch anderer sozialer Fragen, sondern nicht zuletzt daran, dass Sexualität hier lediglich als Kategorie sozialer Differenz verstanden wird, und die Potenziale des Sexuellen, wie sie z.B. aus einer queeren psychoanalytischen Perspektive formuliert worden sind, nicht länger ernst genommen werden. Die Frage, welche Rolle queere Sexualität für die Gegenwartskultur und den queeren Aktivismus (noch) spielt, bleibt auf jeden Fall dringend.

Für das Unbehagen an Positionen queerer Kultur und queeren Aktivismus, das sich in „Zugzwänge“ Bahn bricht, gibt es einige nachvollziehbare Gründe. Die Auseinandersetzung damit bleibt allerdings mehr als unausgewogen. International haben jüngere Queer-Forschende wie Kadji Amin oder Ben Nichols gezeigt, wie man Entwicklungen der Queer Theory zurecht und erfolgreich der (Selbst-)Kritik unterzieht. So stellt Amin zum Beispiel den radikalen politischen Idealismus infrage, den sich Queer Theory verordnet hat, indem er auf die problematische Körper- und Verwandtschaftspolitik bei Jean Genet verweist, die übersehen wurde, um ihn als queeren Helden zu beanspruchen. Amin geht es nicht darum, Genet aus dem queeren Kanon zu entfernen, er will vielmehr zeigen, wie sehr sich auch Figuren, die als radikal queer verstanden worden sind, einer queerpolitischen Vereinnahmung widersetzen und unbequeme Fragen aufwerfen, die einer idealisierten Vorstellung von „queer“ zuwiderlaufen. Auch Ben Nichols hat kürzlich untersucht, inwiefern queere Kultur und radikale queere Politik nicht zwangsläufig deckungsgleich sind, und wie der Wunsch danach, den Blick auf queere Geschichte und Kultur verzerrt. Wünschenswert wäre also eine queere Kulturgeschichtsschreibung, die nicht auf die politischen Polarisierungen der Gegenwart reduziert wird.

Es täte auch der Debatte in Deutschland gut, die Auseinandersetzung mit Positionen der Queer Theory auf Augenhöhe zu führen und nicht nur einfach dagegen zu polemisieren. Dass das im Fall der „Kreischreihe“ nur selten geschieht, hat auch historische, gesellschaftliche und politische Gründe. Es ist ein Merkmal der deutschsprachigen Debatte. Trotz einer inzwischen 30jährigen Geschichte hat sich Queer Theory – wenn wir darunter auch immer noch ein Projekt verstehen, das sich für Sexualitätsfragen interessiert – bis heute nicht an deutschsprachigen Universitäten etabliert. Und so stehen sich ein akademischer Queerfeminimus, der sich von Sexualitätsfragen weitestgehend verabschiedet hat und schwule Männer nicht immer willkommen heißt, einerseits und die „Kreisch-Reihe“ mit ihren Protagonist*innen andererseits unversöhnlich gegenüber.




Zugzwänge: Flucht und Verlangen
von Vojin Saša Vukadinović (Hg.)
Broschiert, 432 Seiten, 18,00 €
Querverlag

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