Vojin Saša Vukadinović (Hg.): Freiheit ist keine Metapher

Buch

Die Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen hat einmal bemerkt, dass vermutlich jede Bewegung irgendwann ihre eigene Karikatur hervorbringt. Ein neuer Sammelband aus der berüchtigten „Kreischreihe“ des Querverlags, in der bereits „Beißreflexe“ (2017) der Berliner Polit-Tunte Patsy l’Amour laLove erschienen ist, ordnet diese Beobachtung dem Genderfeminismus, dem Antirassismus und dem Queerfeminismus zu – indem er sie als Karikaturen geschlechter-, migrations- und sexualpolitischer Emanzipationsregungen versteht. Ausgehend von dieser Bestandsaufnahme denken die 37 Beiträge, die der Historiker und Geschlechterforscher Vojin Saša Vukadinović in „Freiheit ist keine Metapher“ versammelt hat, über queere Sprachregelungen und Umgangsformen, Kollektivdenken und Gruppenidentitäten, echte und falsche Schutzräume, vermeintliche Verbündete und verlorene Mündigkeit nach. Kevin Clarke hat den Band, der sich als Kartografie eines Ideologiekrieges mit verhärteten Fronten begreift, für uns gelesen – und freut sich über einen angriffslustigen Debattenbeitrag.

Wer darf was?

von Kevin Clarke

In der sogenannten „Kreischreihe“ des Querverlags ist ein neuer Band erschienen – jener Buchserie, die queertheoretischen Debatten um ‚richtiges‘ und ‚falsches‘ Queersein eine Gegenposition gegenüberstellt: Die Position enttäuschter Queer-Study-Student_innen, die aufzeigt, wie ideologisch verbohrt, wie verletzend und ausgrenzend queertheoretische Debatten geführt werden, welch abstruse Formen sie vielfach angenommen haben. Und die zeigen, dass Berufsaussichten von Student_innen vernichtet werden, wenn sie nicht parieren und sich auf Linie bringen lassen. Ein Satz auf dem Umschlag zum neuen Buch dieser Reihe, „Freiheit ist keine Metapher“, hat mich sofort neugierig gemacht. Mit Blick auf Gender- und Queerfeminismus heißt es: „Vermutlich bringt jede Bewegung irgendwann ihre eigene Karikatur hervor.“ In der Einleitung wird’s dann konkreter: „Der Genderfeminismus, der Antirassismus und der Queerfeminismus sind ebendies: Karikaturen geschlechter-, migrations- und sexualpolitischer Emanzipationsregungen. Der vorliegende Sammelband nimmt diesen pessimistischen Befund zum Ausgangspunkt, um über den Verrat an der Mündigkeit nachzudenken, der mittlerweile vollumfänglich dort anzutreffen ist, wo Analysen zu Antisemitismus, Migration, Rassismus und Religionskritik gefragt wären.“

Da ich selbst über ein Jahr lang eine volle Ladung Queerfeminismus im Berufsalltag aushalten durfte (an einem Ort, wo „Analysen gefragt wären“), war ich gespannt, was Vukadinović und seine Mitautor_innen in 37 Beiträgen plus einer Vorbemerkung zu sagen hätten zu „Identitätspolitik, Rassismus und Jihadismus“, „Antisemitismus“, zu Judith Butler, „Gender-Paradigmas“ und zu kritischer Weißseinsforschung, zu „Kulturalismus“ und anderen Hot Topics.

Es geht dem Herausgeber um die Kartografie eines Ideologiekrieges mit extrem verhärteten Fronten. („Wer darf was, weil er woher kommt?“) Eine Ideologie, die Machtverhältnisse anprangern und verändern möchte, Privilegien hinterfragt, dabei aber gleichzeitig neue Machtverhältnisse und Privilegien erschafft. Mit denen die modernen Kreuzritter_innen anderen gegens Schienbein treten.

Vojin Saša Vukadinović – Foto: Marcus Witte

Die Tritte spürt jeder, der Teil der LGBTIQ* Community ist. Und selbst wenn man die dazugehörigen Streitereien nur aus der Ferne mitbekommt, über Artikel in Szenemagazinen, in Kolumnen oder in Social-Media-Diskussionen bei Freunden und Bekannten, ist es lohnend sich mit Einzelaspekten dieses Diskurses auseinanderzusetzen. Um zu verstehen, warum und worüber so erbittert gestritten wird. Und warum sich immer mehr Menschen mit Gegenpositionen äußern: „Mittlerweile ist die Satire zur Realität geworden, moralisch zusammengehalten von ‚Bekenntnisfuror‘ […]: das larmoyant vor sich hergetragene Leiden an der Welt, das gegenwärtig in akademischen wie aktivistischen Kreisen bevorzugt auf den Namen ‚Selbstreflexivität‘ hört.“

Vukadinović und seine Autor_innen picken sich die kontroversesten Aspekte heraus und hinterfragen, wie die darauf bezogenen ideologischen Forderungen bei uns in Deutschland und im deutschen Universitätswesen funktionieren. Krsto Lazarević beispielsweise untersucht Positionen von Critical Whiteness, einem theoretischen Ansatz, der in den 1980er Jahren in den USA entstand. Was passiert, wenn man das Konzept auf unsere Gesellschaft überträgt, in der Rassismus eine ganz andere Geschichte hat als in den Vereinigten Staaten? Lazarević schreibt: „Irgendwann hat die Critical Whiteness Theory eine falsche Abzweigung genommen. Heute fallen die VerfechterInnen dieser Lehre durch abstruse Vorwürfe, essentialistische Identitätspolitik und das Bedürfnis auf, Andersdenkende – also so ziemlich jeden und jede – zu maßregeln und zu bestrafen.“ Und: „Unter der deutschsprachigen Anhängerschaft der sogenannten ‚kritischen Weißseinsforschung‘ fehlt es vielen an jeglichem Willen, Komplexität verstehen zu wollen oder auch nur anzuerkennen.“ Zugespitzt formuliert Lazarević: „Die Übertragung der anfänglich komplexen theoretischen Überlegungen der Critical Whiteness in den USA sind teilweise an der Provinzialität des akademischen Diskurses in Deutschland gescheitert. […] Das Weltbild der CW-Sekten an deutschen Hochschulen lässt sich meist in einem Satz zusammenfassen: ‚Check deine Privilegien.'“ Privilegien sind unverdiente Vorteile, die eine Person genießt. Laut Missy-Magazin-Kolumnistin Nadia Shehadeh sind Personen privilegiert, die über die Eigenschaften weiß, männlich, cisgender, mit Kapital ausgestattet oder able-bodied verfügen.

Besonders spannend fand ich einen Beitrag von Naida Pintul zu queerfeministischen Schreibweisen: also zur Verwendung des berühmten Unterstrichs und zur Vorliebe für Kleinschreibung. Pintul zitiert Leah Bretz und Nadine Lantzsch und das Buch „Queer-Feminismus. Label & Lebensrealität“ von 2013: „wir haben uns dazu entschieden, (fast) alles in diesem buch kleinzuschreiben. kleinschreibung setzt worte in bewegung. es vereinfacht das schreiben für uns und erleichtert das lesen. großschreiben birgt viele hürden, nicht nur für personen, deren erste sprache nicht deutsch ist. außerdem stellt das kleinschreiben für uns die sinnhaftigkeit von substantiven infrage sowie die hierarchisierung verschiedener worte.“  Zum Unterstrich heißt es: „der dynamische unterstrich wandert durch w_orte, um die prozesshaftigkeit und uneindeutigkeit von positionen zu benennen und die vielfältigen bedeutungsebenen innerhalb einzelner w_orte und begriffe hervorzuheben.“ Pintul fragt, ob eine solche „Zersetzung von Sprache“ wirklich hilfreich ist für Personen, deren erste Sprache nicht Deutsch ist. Ihr Fazit: „Die angebliche queerfeministische Rassismus-Awareness entpuppt sich schon auf dieser Ebene als verlogen.“ Vukadinović ergänzt: „‚Sprechorte‘ sind das Gebot der Stunde, das Einfordern von Akzeptanz noch für die absurdesten Identitätsentwürfe sowie eine rigide Sphärentrennung, der zufolge Deutsche höchstens ‚Allies‘ von ‚POCs‘ [People of Color] sein können, aber niemals egalitäre Partnerinnen und Partner mit demselben politischen Anliegen. Das unentwegte Austarieren von ‚Opferhierarchien‘ ist längst synonym dafür, politisch zu sein: derweil gilt heute noch der Gebrauch falscher Personalpronomen als ‚gewaltvoll‘.“

Das schwierige Verhältnis von Queerfeminismus zur „Realität“ ist der rote Faden im Buch. Warum wird zur Situation zwischen Israelis und Palästinensern so viel gesagt, aber zur Situation im besetzten Zypern geschwiegen? Warum wird Selbstmordattentaten vielfach mit Verständnis und Sympathie begegnet in der linken queeren Community, ohne Mitgefühl für die Opfer auf der anderen Seite? Die „groteske Wirklichkeitsverweigerung“ von Gender-Studies-Professorinnen wie Ulrike Auga von der Humboldt Universität Berlin wird gezielt aufgegriffen, etwa wenn Auga die „Unterscheidung zwischen Vernunft und Irrationalität“ im Zusammenhang mit Aufklärung und Religiosität als „westliches Konstrukt“ ablehnt und dafür „spirituelle Praxen“ zu „widerständigen Praxen“ erklärt – Esoterik inbegriffen. Dies tat Auga 2018 in der Vorlesungsreise „Queer-feministisches Leben und Futurität“ im Schwulen Museum. Sie lässt offen, wieso binäre Gendermodelle eine gesellschaftliche Konstruktion sein sollen, die es abzulehnen gilt, Religion und religiöse Verhaltensregeln aber nicht. Sie akzeptiert, unter Berufung auf verschiedene US-Queerfeministinnen mit muslimischen Wurzeln, dass Frauen* darauf bestehen können, durch Einhalten von religiösen Vorschriften „menschliches Blühen“ zu erleben, etwa indem sie sich verschleiern und Männern unterwerfen. Doch Auga & Co. verurteilen es, wenn andere durchs Festhalten an typischen erlernten (patriarchalen) Genderklischees „aufblühen“.  Wieso werden solche Konzepte im Zusammenhang mit dem Islam gutgeheißen, nicht aber in Kombination mit christlichen Religionen, während gleichzeitig „Esoterik“ zur „widerständigen Praxis“ (v)erklärt wird?

Es gibt auf all diese Fragen keine klaren Antworten. Das nehmen auch Vukadinović und seine Mitstreiter_innen nicht für sich in Anspruch. Dass derzeit so viele Sammelbände mit Essays in populärwissenschaftlichen Reihen wie dieser herauskommen, zeigt, dass die Debatten nicht mehr nur in Elfenbeintürmen geführt werden, sondern einem Praxistest unterzogen werden und das, was viele Genderforscher_innen und Queerfeminist_innen, CW-Aktivist_innen und „Kill Joys“ als „widerständige“ Praxis fordern, hinterfragt werden muss. Dass es womöglich Korrekturen geben sollte. Und dass solche Korrekturen auch Auswirkungen haben müssten in Bezug auf die akademische Lehre in Deutschland, die Besetzung von Posten in LGBTIQ*-Institutionen und  überhaupt aufs allgemeine Miteinander. Man kann den Sammelband von Vukadinović & Co. somit auch als lautstarke und leidenschaftliche schriftliche Bewerbung für den Universitätsbetrieb lesen, der neue Impulse gut vertragen könnte über neu zu berufene Forscher_innen. Oder wie es in der Einleitung heißt: „Weil davon auszugehen ist, dass sich Genderfeminismus, Antirassismus und Queerfeminismus aus ihren selbstverschuldeten Sackgassen nicht herausmanövrieren können, ist ‚Freiheit ist keine Metapher‘ als eigenständiger Beitrag zu ebenjener Konfliktlösung zu verstehen.“

Die Debatte ist nicht abgeschlossen, und „Freiheit ist keine Metapher“ ist hoffentlich nicht das letzte Buch in der „Kreischreihe“. Ich habe es jedenfalls mit großem Vergnügen und Gewinn gelesen. Und das kann ich von vielen Queer-Theorie-Texten nicht unbedingt behaupten.

 




Freiheit ist keine Metapher
Antisemitismus, Migration, Rassismus, Religionskritik

von Vojin Saša Vukadinović (Hg.)
Kartoniert, 486 Seiten, 20 €,
Querverlag