Detlef Grumbach (Hg.): Große Oper
Buch
Andreas Meyer-Hanno alias Hannchen Mehrzweck war eine der bedeutenden Gestalten der Neuen Schwulenbewegung. 1932 geboren, erlebte er Kindheit und Jugend im Krieg und den bleiernen Jahren des Adenauer-Deutschlands. Erst Opernregisseur in verschiedenen Stadttheatern, dann Musikprofessor in Frankfurt/M, wurde er zur treibenden Kraft in vielen schwulen Projekten Frankfurts. Als Mitbegründer des Vereins „Homosexuelle Selbsthilfe e.V.“ und Namensgeber der „Hannchen-Mehrzweck-Stiftung“ schuf er wichtige Teile der schwulen Infrastruktur Deutschlands. Detlef Grumbach würdigt die Person Meyer-Hannos nun durch eine biografische Skizze und eine Auswahl seiner künstlerischen und politischen Texte. Tilman Krause kannte Meyer-Hanno, der 2006 verstarb, seit den frühen 90ern und verknüpft seine Besprechung von Grumbachs vielstimmiger Anthologie mit seinen persönlichen Erinnerungen an eine entwaffnende Bewegungsschwester.
Links – und frei
von Tilman Krause
Hin und wieder schlendere ich über den alten Matthäus-Kirchhof in Berlin-Schöneberg. Es liegen ja so viele alte Bekannte dort! Als erstes schaue ich meist bei Napoleon Seyfarth vorbei. Ich fand es immer wunderbar, wenn ich im Tom’s aus dem Keller kam und ihn dann in seiner Ecke traf. Im Brustton der Empörung bekam ich dann den neuesten Klatsch aus der Community serviert. Köstlich! Danach gehe ich die Anhöhe Richtung Sammelgrab der Aidshilfe hinauf. Ich mache kurz bei dem lieben FAZ-Kollegen Hans Scherer Station. Auf seiner Grabstelle verfällt die abstrakte Holzskulptur leider immer mehr. Ganz im Gegensatz zum Grab nebenan. Da liegt Andreas Meyer-Hanno. Und obwohl der ja auch schon 2006 starb, glänzt hier alles wie neu.
Meyer-Hanno hat das witzigste, bunteste Grab, das ich kenne. Beherrscht wird es durch eine Art Switchboard. Darin steht mit dicken schwarzen Buchstaben geschrieben: „Orden sind mir wurscht, aber haben will ich sie (Johannes Brahms)“. Darunter – wer hat, der hat – prangt oben rechts das Bundesverdienstkreuz, darunter die Promotionsurkunde der Freien Universität Berlin. Aber auf dem Switchboard befindet sich auch ein Tom-of-Finland-Button, allerlei CSD-Devotionalien, eine Urkunde aus Anlass des 40. Jubiläums der Zugehörigkeit zum Deutschen Bühnenverein – sowie schließlich die Lebensdaten. Alles angeordnet wie auf einem „paper“, wie man in den 70er Jahren sagte.
Und die 70er Jahre waren auch Meyer-Hannos große Zeit. Damals war er, der 1932 als Sohn einer jüdischen Musikerin und eines Theaterschauspielers geboren wurde, der später zur „Roten Kapelle“ stieß und von den Nazis umgebracht wurde – in den Siebzigern also war Andreas Meyer-Hanno gewissermaßen der Seniorchef der Schwulenbewegung. Als solcher „amtierte“ er noch bis in die Neunziger hinein. Und damals haben wir uns auch kennengelernt. Seine direkte Art sprach mich sofort an. Sein herzhaftes, lautes Lachen habe ich noch im Ohr. Extravertiertheit und Streitlust bei fairem Geltenlassen anderer Meinungen nahmen mich gleichfalls für den bärig-bärtigen alten Herrn ein. Ich bin kein Fan von „Bewegungsschwestern“. Aber diese fand ich toll.
Ich war auch nie ein Fan der Sozialdemokratie, aber wenn das von Willy Brandt geprägte Wort „links – und frei“ auf jemanden zutraf, dann auf Andreas Meyer-Hanno, der sich, wieder ganz die Siebziger, gern Hannchen oder auch Hannchen Mehrzweck nennen ließ (später gründete er die Hannchen-Mehrzweck-Stiftung). Von daher ist es ein Genuss und ein Beweis für die hochstehende Debattenkultur, die es auch in schwulen Kreisen einmal gab, in dieser Anthologie zu stöbern und zu schmökern.
Zusammengestellt hat sie Detlef Grumbach. Der hat auch ein umfangreiches Vorwort beigesteuert, das nicht nur die Lebensstationen Meyer-Hannos kundig präsentiert. Grumbach liefert in seiner weitausholenden Schilderung auch eine kleine Kulturgeschichte der deutschen Homosexuellen in der „Nachseptemberzeit“. Was das ist? Das habe ich auch erst durch dieses Buch gelernt: Der Begriff bezeichnet die einstmals eminent wichtige Zäsur, die sich für die Schwulen durch die Liberalisierung des Paragrafen 175 ergab. Sie wurde im September 1969 wirksam.
Hannchen (wie wir der Einfachheit halber fortan sagen wollen) stammte ja noch aus der Vorseptemberzeit. Wie angstbesetzt das Leben für die Schwulen in der Ära Adenauer war, hat Hannchen immer wieder hervorgehoben. Am eindringlichsten in seinem Essay „Im gleichen Tritt die Treppe rauf“ (damit die Zimmerwirtin nicht merkte, dass da zwei Kerle nach Hause kamen!). Auch sonst reizte es Hannchen immer wieder, mit historisch geschärftem Blick atmosphärische Veränderungen im Leben der Schwulen zu thematisieren. Das kam stets witzig und pointenreich daher. Wenn Hannchen über den Sozialtypus der Operntunte schreibt oder über die Machoisierung der 80er Jahre, dann wird so etwas ungemein lebendig.
Hier profitierte Hannchen sehr von seinem ersten beruflichen Leben. Hannchen hatte nämlich 20 Jahre lang Opern inszeniert. Natürlich nur „Große Opern“, wie es im Buchtitel heißt. Ganz große! Als Hannchen am Badischen Staatstheater Karlsruhe mit einer „Aida“ auftrumpfte, in der sich der militärische Triumphzug mehr an „Hair“ als an Ägypten orientierte und die Soldaten scheußliche Verbrechen an den armen äthiopischen Gefangenen begingen, gab das 1970 einen riesigen Skandal. Das Regietheater steckte noch in den Kinderschuhen. Aber für das empfindsame Hannchen war jetzt Schluss mit lustig. Es gab die Oper auf und wechselte als Professor für szenisches Spiel an die Hochschule für Musik in Frankfurt.
Und gründete die freie schwule Theatergruppe „Die Maintöchter“. Und eine schwule Selbsthilfegruppe. Und setzte sich für ein schwul-lesbisches Mahnmal ein. Und und und! Wie gesagt: Jetzt begann Hannchens große Zeit. Politisch, kulturell, sexuell. Kein Wunder, dass Hannchen einen seiner wunderbaren Bekenntnistexte der Klappe am Grüneburg-Park widmete. Man möchte sich zurück in die Siebziger beamen, wenn man das liest!
Aber es gibt auch die auf leise Weise nachdenklichen Texte in diesem Buch. Da wären einmal die Ausschnitte aus Hannchens Briefen an seine „liebe Mutti“, die von lebenslanger Abhängigkeit, auch lebenslangem Rechtfertigungsdrang in allen existentiellen Fragen erzählen. Hier wird auch manchmal eine große Lebenstrauer sichtbar. Und eine Sehnsucht, die Hannchen besonders eindrucksvoll in seinem „persönlichen Bekenntnis zu Offenbach“ herauspräpariert. Er sagt über den für seine Quirligkeit bekannten Operettenkomponisten: „Da ist immer viel Sehnsucht nach dem Heilen, Heimeligen, Gemütvollem, nach dem ‚Deutschen‘ im Spiel. Da ist Sehnsucht nach Butzenscheibe, Abendläuten, Kuckucksuhr. Da ist auch Trauer über das verlorene Paradies der Kinderzeit.“ So etwas schreibt man nicht aus unbeteiligtem Herzen. So etwas schreibt überhaupt nur, wer auch ein Herz hat, mitfühlen kann. Es gibt viele Facetten, die in diesem Buch zum Tragen kommen. Aber diese ist die berührendste. Hannchen darf nicht vergessen werden!
Große Oper
Andreas Meyer-Hanno, die Schwulenbewegung
und die Hannchen-Mehrzweck-Stiftung
von Detlef Grumbach (Hg.)
Klappenbroschur, 216 Seiten, 18 €,
Männerschwarm Verlag