Tomasz Jedrowski: Im Wasser sind wir schwerelos

Buch

Als Tomasz Jedrowskis „Im Wasser sind wir schwerelos“ im vergangenen Jahr in Großbritannien herauskam, wurde es von der Presse gefeiert. Der Guardian kürte die schwule Coming-out- und Liebesgeschichte, die im sozialistischen Polen der frühen 1980er Jahre spielt, sogar zum Buch des Jahres. Auch Axel Schock ist begeistert, er vermisst aber etwas mehr Widerständigkeit.

Furchtlos und frei und unsichtbar

von Axel Schock

Eine alte Bäuerin hat ihnen diesen Ort verraten. Er liegt versteckt, man kommt dorthin nur über einen langen, schmalen Pfad, der durch einen dichten Wald führt. „Als wir die letzte Reihe von Bäumen erreichten, sahen wir es: eine Lichtung mit einem funkelnden See, gesäumt von hohen Gräsern wie ein Geheimnis.“ In einer Filmversion würden die Bilder nun wahrscheinlich sepiafarben im Abendlicht leuchten und die Sonne das Wasser glitzern lassen. Tomasz Jedrowskis Roman ist voll solcher Momente, Orte und Situationen, die unvermeidlich dem Kitschverdacht ausgeliefert sind.

Dieser „funkelnde See“ allerdings mit seinem „dunklen, ruhigen Blau“ ist für ihn nicht einfach nur ein idyllischer Flecken in den Weiten Masurens und traumschönes Ziel für den Campingurlaub zweier junger Männer. Dieser See „beschützt und besänftigt“, „keine Menschenseele war in der Nähe“. Hier sind die beiden unbeobachtet und allen gesellschaftlichen Ballasts entledigt. „Wir sind angekommen“, lässt Jedrowsi seinen Ich-Erzähler Ludwik bedeutungsvoll flüstern. Hier werden der angehende Doktorand und sein Reisegefährte Janusz, die sich bei einem verpflichtenden Ernteeinsatz (Rote Bete!) kennengelernt haben, nun näherkommen, erstmals gegenseitig ihre Körper erkunden und sich schließlich ihre Liebe gestehen. „Wir schwimmen furchtlos und frei und unsichtbar im herrlichen Dunkel“, lautet denn auch der letzte Satz dieses Kapitels, und damit wird unmissverständlich klar, dass ihr Glück allein an diesen Ort gebunden ist.

Denn zurück in Warschau werden die beiden Männer von der Wirklichkeit im Polen des Jahres 1980 eingeholt: von einer immer weiter um sich greifenden Mangelwirtschaft, die zu Protesten und schließlich Verhaftungen von Gewerkschaftsführern führt. Und von einem politischen System, das ihnen ein Doppelleben abverlangt, weil die Entdeckung der gleichgeschlechtlichen Beziehung unkalkulierbare Folgen haben könnte.

Tomasz Jedrowski – Foto: ebd.

Es ist genau dieser besondere zeithistorische Hintergrund, der „Im Wasser sind wir schwerelos“ aus der Masse schwülstig-schöner Coming-out- und Coming-of-Age-Romane hervorhebt. Denn von den inneren und äußeren Kämpfen der sexuellen Selbstfindung oder von der Angst vor Ausgrenzung und Stigmatisierung ist auch in zahlreichen zeitgenössischen Romanen in unterschiedlichster Prägung und literarischer Qualität zu lesen.

Jedrowskis Prosa ist dabei handwerklich durchaus souverän. Weder überfordert sie die Leser*innen, noch müssen sich diese – trotz der bisweilen überdeutlichen Bildsprache und kalkulierter Emotionalität – davon beleidigt fühlen. Tomasz Jedrowski erzählt empathisch und gefühlvoll davon, wie aus unscharfen uneingestandenen Empfindungen Begehren erwächst und sich zu einer Identität formt.

Dies allein hätte die Aufmerksamkeit, die das Buch nach seiner Erstveröffentlichung erhielt, sicherlich nicht erklärt. Der Guardian kürte den Roman zum Buch des Jahres. Edmund White erkannte in Jedrowski einen „neuen internationalen Star“ und zeigte sich von der lyrischen Erkundung des Konflikts zwischen schwuler Liebe und politischer Konformität begeistert, und Schriftstellerkollege Sebastian Barry sieht „höchstes Talent am Werk“. Erst das historische Setting, in dem Jedrowski seinen Debütroman spielen lässt, gibt dieser – letztlich tragischen – Liebesgeschichte die entscheidenden neuen Facetten.

Es sind kleine Randbemerkungen zum Zeitgeschehen und beiläufig eingestreute Alltagsdetails, die die Handlung zeitlich und räumlich verorten. In westdeutschen Coming-of-Age-Romanen müssen dafür immer wieder das Bonanza-Fahrrad, die Anti-Atom-Kraft-Bewegung und der Walkman als Stichworte herhalten. Bei Jedrowski sind es Coppolas „Apocalypse Now“ (1979), PKWs der Marke Maluch, Borschtsch, Pierogi und die Ausrufung des Kriegsrechts 1980.

Naheliegend also, hinter diesem Roman eine autobiografische Geschichte zu vermuten. Doch Tomasz Jedrowski ist erst fünf Jahre nach diesem wichtigen politischen Ereignis geboren. Tatsächlich, so hat er in einem Interview verraten, sei er durch die Erzählungen eines schwulen Freundes seiner Eltern dazu inspiriert worden. Doch nicht nur den historischen Hintergrund musste Jedrowski recherchieren, sondern auch die Topografien und Landschaften zwischen Breslau und Warschau. Denn geboren und aufgewachsenen ist der Sohn polnischer Eltern in Bremen. Mit 16 kam er in ein Internat nach Großbritannien und ging schließlich zum Jurastudium nach Cambridge. Weil er die wichtigen Jahre des Heranwachsens in Großbritannien verbrachte, habe er seine eigene Identität daher „auf Englisch gefunden“, erläuterte Jedrowski in einem Interview. „Deshalb konnte ich mich in der englischen Sprache besser ausdrücken und war dem Deutschen und Polnischen zu fern, um das Buch in diesen Sprachen zu verfassen.“ Inzwischen lebt er in Paris.

Mag die Geschichte auch in den frühen 1980er Jahren angesiedelt sein und die damaligen Lebensrealitäten recht genau widerspiegeln: die Erzählperspektive ist unverkennbar eine heutige – und westliche. Die Schilderungen der Homophobie in Kirche, Gesellschaft und Politik erscheinen dabei unweigerlich als Echos auf die LSBTIQ*-feindliche Stimmung im Polen der Gegenwart. Doch Janusz und Ludwik haben nicht nur mit der Homophobie in der Gesellschaft zu kämpfen, sondern ihre Beziehung ist auch durch die unterschiedliche Weltanschauung belastet. Für den Ich-Erzähler ist die sozialistische Idee nicht einfach nur gescheitert, sondern selbst jene, die noch an sie glauben, sind in Wahrheit von den Mächtigen in der Partei bereits verraten. Ludwik sieht daher nur einen Weg: raus aus Polen, raus aus dem Gefängnis namens Sozialismus. Das Land der Träume und der Freiheit ist für ihn die USA. Sein Geliebter hingegen, aus einer Arbeiterfamilie stammend, verdankt dem Sozialismus nicht zuletzt die Möglichkeit überhaupt studieren zu können. Er will das Land mitaufbauen helfen.

Tomasz Jedrowksi nimmt hier eine deutlich parteiische Haltung ein und macht es sich etwas zu einfach; zum Beispiel, indem er Janusz als erste Arbeitsstelle einen Job ausgerechnet in der Zensurbehörde zukommen und aus reinem Opportunismus und Berechnung mit der Tochter eines hochrangigen Offiziers anbandeln lässt. Das fügt sich alles fein und gradlinig, aber auch etwas zu glatt und zu wenig widerständig. Womöglich lässt sich so auch nur aus der Warte des Nachgeborenen schreiben.

Tatsächlich autobiografisch – sofern man seinen Selbstaussagen trauen darf – ist für Jedrowski hingegen die besondere Bedeutung von James Baldwins „Giovannis Zimmer“ (1956). Als er es mit 23 Jahren für sich entdeckte, habe es sein Leben verändert und ihn sich erstmals als Teil einer gemeinsamen schwulen Erfahrungsgeschichte fühlen lassen. In seinem Debüt huldigt Jedrowski diesem für ihn lebenswichtigen Roman, und – man muss es leider sagen – er übertreibt‘s damit ein wenig. „Giovannis Zimmer“ wird zur Blaupause und Spiegelbild für Ludwiks eigene Empfindungen, für seine Emigration aus Polen und die Sehnsucht nach einem offenen schwulen Leben.

Auch seine Figur Ludwik will seine Dissertation dem Schriftstelleridol widmen. „Giovannis Zimmer“ dient zugleich auch als Lackmustest: Ein verbotenes Buch, das heimlich an andere weitereicht wird, um anhand deren Reaktionen ihre Haltung zur Homosexualität zu erfahren. Am Ende ist Ludwiks Exemplar weit gereist und ziemlich abgegriffen. Und eben auch das Motiv als solches.




Im Wasser sind wir schwerelos
von Tomasz Jedrowski
Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit
Gebunden, 224 Seiten, 23,00 €
Hoffmann und Campe Verlag

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