The Limehouse Golem

TrailerDVD / Blu-ray

Regisseur Juan Carlos Medina gelingt mit „The Limehouse Golem“, den es jetzt auf DVD und Blu-ray gibt, ein beachtlicher Balanceakt: Einerseits ist sein Film ein typischer viktorianischer Thriller, der unterschwellig auf die Jack-the-Ripper-Morde anspielt und in seinen mörderischen Set Pieces genüsslich italienische Gialli zitiert. Anderseits erweist sich seine Vision eines in Schmutz und Schmerz versinkenden London als eine berauschende und reichlich queere Hommage an die subversive Kraft des Theaters und Schauspiels. Vor allem ist seine erstaunlich warmherzige Verfilmung von Peter Ackroyds postmodernem Roman-Pastiche aber das intensive Porträt zweier Menschen, die nicht gerettet werden wollen.

Foto: Concorde

Ein toxisches Zeitalter

von Sascha Westphal

Diese Bretter bedeuten nicht die Welt. Im Gegenteil. Sie sind vielmehr ein letztes Refugium. Ein Ort, an dem die starren Regeln der viktorianischen Welt außer Kraft gesetzt sind. Wer über die Bühne einer der zahlreichen Londoner Music Halls schreitet oder auch stolpert, ist für einige Augenblicke wirklich frei. Unter dem Jubel des meist armen, den täglichen Enttäuschungen und Grausamkeiten entfliehenden Publikums kann ein Varieté-Künstler wie Dan Leno in Frauenkleidern zum Star werden. Und selbst ein junges Mädchen darf in einem viel zu kleinen Matrosenanzug anzügliche Seemannslieder singen. So steigt die kleine Lizzie in einer Welt, in der sie eigentlich kaum eine Überlebenschance hat, zum Liebling der Massen und schließlich sogar zur bürgerlichen Ehefrau auf.

Etwas Utopisches schwingt in den Varieté-Szenen von Juan Carlos Medinas Verfilmung von Peter Ackroyds Roman „Dan Leno & The Limehouse Golem“ mit. Die andere, bessere Gesellschaft, für die der Philosoph Karl Marx stritt und auf die der Schriftsteller George Gissing zumindest 1880, als sein Romandebüt „Workers in the Dawn“ erschien, noch hoffte, war immer nur ein Traum. Und der kann auf der Bühne eher als im Leben Wirklichkeit werden. Also taucht Medina die Music Halls in ein warmes, fast schon irreales Licht. Wenn Dan Leno in Kleider schlüpft und das Leid der ausgebeuteten und rechtlosen Frauen jener Ära besingt, kippt das Clowneske seines Auftritts ins Tragische.

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Die Zuschauer unten im „Pit“ genannten Parkett und oben im „Heaven“ getauften Rang lachen schallend. Aber „die Grenze zwischen Komödie und Tragödie ist schmal“, wie Lizzie einmal erklärt. Vom Lachen zum Entsetzen ist es nur ein ganz kleiner Schritt. Und so jubeln die Unterdrückten und ihre Unterdrücker zugleich, aber nicht gemeinsam. Die einen erkennen in Leno eine Stimme, die sich mit ihnen solidarisiert und ihr Leid in eine Waffe verwandelt. Schließlich erzählen die satirischen Music-Hall-Ditties in aller Schärfe von den Zumutungen des Lebens als Frau in der viktorianischen Gesellschaft. Die anderen überspielen im Lachen ihre Angst vor dem revolutionären Gestus von Lenos und Lizzies Performances.

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Cross-Dressing und Auftritte in Drag nehmen der vergifteten Männlichkeit ihren Stachel und eröffnen einer in sich verschlossenen Zeit ungeahnte Freiräume. Als Lizzie auch jenseits der Bühne ihr Kostüm trägt und so durch die Spelunken von Limehouse zieht, fragt Leno sie einmal, ob sie auf der Suche nach Frauen sei. Lesbisches Begehren als Ausweg aus einem Teufelskreis von Erniedrigung und Gewalt. Doch wie Leno, der in Juan Carlos Medinas Film anders als im Roman durchaus einer dieser Männer sein könnte, die „es nicht so mit dem Heiraten“ haben, legt Lizzie sich nicht fest. Sie weicht der Frage aus und deutet so an, dass ihre Begierden in eine ganz andere Richtung gehen könnten.

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Lenos und Lizzies Auftritte sind goldbraun strahlende Licht-Blicke in Medinas tiefschwarzer Serienkiller-Fiktion. An einem seiner blutüberströmten Tatorte hat der von der Sensationspresse als „Limehouse Golem“ überhöhte Killer folgende Worte in Blut an eine Wand gemalt: „Non minus cruore profunditor, qui spectat, qua mille qui facit“ – „derjenige, der zusieht, ist nicht minder mit Blut befleckt als der, der den Hieb ausführt.“ Lactantius’ Anklage der Zuschauer der römischen Gladiatorenkämpfe hat im London des Jahres 1880 nichts von seiner Dringlichkeit verloren. Die wahllosen Morde des Golems an Prostituierten wie an jüdischen Gelehrten und englischen Kaufleuten werden von der Masse wie ein besonders reißerisches Schauspiel betrachtet. Alle sind erschüttert und gieren doch immer nach mehr. Aber das ist längst nicht alles. Im viktorianischen System wird jeder schuldig. Schließlich sehen alle zu, wie Frauen misshandelt und Homosexuelle ausgegrenzt werden. Wobei dafür schon ein Gerücht reicht.

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Von Inspector John Kildare heißt es, dass er Männer liebe. Also hat er bei Scotland Yard immer nur ein Schattendasein geführt. Männer, die weitaus weniger von den Menschen wie auch von der Ermittlungsarbeit verstehen, haben Karriere gemacht, während die oberen Etagen der Polizei ihm nie eine Chance gegeben haben. Selbst die Entscheidung, ihn mit den Ermittlungen im Fall des „Limehouse Golem“ zu betrauen, ist nichts als eine große Intrige. Niemand glaubt, dass die Morde jemals aufgeklärt werden, also braucht man einen Sündenbock, und den soll Kildare abgeben. Er ist schließlich verzichtbar. Und das weiß er selbst, besser als alle anderen. Aber letztlich ist es diese Kabale, die dem gewissenhaften, sich nie mit einfachen Antworten zufrieden gebenden Ermittler die Freiheit gibt, andere Wege zu gehen.

Eine Spur führt in den Lesesaal des Britischen Museums, in dem neben Karl Marx und George Gissing auch Dan Leno und der gescheiterte Dramatiker John Cree viele Stunden verbracht haben. Jeder von ihnen könnte der Golem sein, der ein Tagebuch in einem Band mit Essays von Thomas de Quincey geführt hat. Nur ist Cree kurz nach den letzten Golem-Morden an einer Arsenvergiftung gestorben. Seine Frau Elizabeth „Lizzie“ Cree steht als mutmaßliche Giftmörderin vor Gericht und ist von der öffentlichen Meinung längst verurteilt worden. Eine Music-Hall-Performerin, die in ihren Auftritten die Bigotterie ihrer Epoche entlarvt hat, muss schuldig sein. Nur Kildare ist von Lizzies Unschuld überzeugt und taucht tiefer und tiefer in ihre Geschichte ein.

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Bill Nighys Kildare, der John Donnes Diktum, niemand sei eine Insel, eindrucksvoll widerlegt und über dem schließlich doch die Wellen der Zeit erbarmungslos zusammenschlagen, und Olivia Cookes bis zum Wahnsinn zielstrebige Lizzie begehren gegen den Geist jener Jahre auf. Aber das Gift, das die viktorianische Gesellschaft infiziert hat (und bis heute nachwirkt – aber das nur nebenbei), ist zu stark. Also schlagen beide die Hände, die ihnen gereicht werden, aus. Kildare ignoriert die eindeutigen Angebote seines Mitstreiters Constable George Flood, und Lizzie zieht (fast) alle Männer, die sie retten wollen, in den Abgrund. Und das nicht einmal zu Unrecht. Kildare selbst merkt es mit Blick auf all die Männer an, „die Gott spielen, indem sie Leben retten wollen“: „Ist es da nicht fast dasselbe, Gott zu spielen, indem man Leben nimmt?“ Unglücklich die Zeit, die Retter nötig hat.




The Limehouse Golem
von Juan Carlos Medina
DE 2017, 110 Minuten, FSK 16,
deutsche SF & englische OF mit deutschen UT,
Concorde

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