Sunflower

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In einem Vorort von Melbourne führt der 17-jährige Italo-Australier Leo ein typisches Teenager-Leben: Er quält sich durch die Schultage, treibt Sport, chillt mit seinen Freunden und knutscht mit seiner Freundin. Dass er eigentlich auf Typen steht, will er sich selbst noch nicht richtig eingestehen. Doch er fühlt sich immer mehr zu seinem besten Freund Boof hingezogen. Als Gerüchte über seine Sexualität in der Schule die Runde machen und der heteronormative Druck immer größer wird, muss Leo Position beziehen. In seinem Debütfilm „Sunflower“ erzählt Gabriel Carrubba voller Empathie von der bewegenden Zeit in unseren Leben, in der sich alles – Scham und Wut, Liebe und Hoffnung – einfach überwältigend anfühlt. Christian Horn über eine optimistische und einfühlsame Ode für jugendliche Selbstakzeptanz, die es jetzt im Salzgeber Club zu sehen gibt.

Foto: Salzgeber

Dann lieber Bruce Willis im Unterhemd

von Christian Horn

Ein sensorischer Auftakt: Die Kamera durchstreift ein Feld voller Sonnenblumen, fast zärtlich touchiert die Linse die Blüten. Eine leicht weichgezeichnete, warme Optik, sanfte Unschärfen. Auf der Tonspur zirpen Grillen. Hier eine Biene, da ein Schmetterling. Von einem meditativen Score unterstützt, kommt das Gefühl auf, wie in Watte gepackt in den Film zu gleiten. In Zeitlupe schiebt sich ein junger Mann ins Bild, wir sehen seinen Rücken, oberkörperfrei, eins mit der sinnlichen Umgebung. Fast spürt man, wie die Blüten seine Haut berühren. Es könnte so friedlich sein. Doch dann: ein abrupter, harter Szenenwechsel. Vier Kerle prügeln und treten auf den jungen Mann von eben ein, die Fäuste fliegen aus der Untersicht. Nach einer Weile lassen die Schläger ab und das zusammengekrümmte Opfer auf dem Asphalt zurück.

Der Protagonist aus den programmatisch zu lesenden Eröffnungsmomenten ist der 17-jährige Leo. Sein fortan leitmotivisch präsenter Streifzug durch das Sonnenblumenfeld avanciert zum atmosphärischen Sinnbild schlechthin für das, was er erreichen will: Er selbst sein, akzeptiert werden, keine Angst mehr haben, lieben und geliebt werden. Vorerst prallt er mit diesen Wünschen aber auf den Boden der Realität, denn die Anderen – davon geht Leo jedenfalls aus – stören sich an seiner Vorstellung vom Glück. Leo steht nämlich auf Typen. Er ahnt es, eigentlich weiß er es, so richtig wahrhaben oder offen dazu stehen will er aber noch nicht. Im Arbeitervorort von Melbourne, in dem Leo mit seiner italienisch-griechischen Familie lebt, ist Homosexualität ein Tabu. „Schwul“ ist in seinem sozialen Umfeld ein Schimpfwort.


Sein bester Freund Boof, zu dem er sich hingezogen fühlt, geht völlig selbstverständlich davon aus, dass Leo sein erstes Mal mit einer Frau haben will. Mit Monique zum Beispiel, die offensichtlich auf Leo steht. Also lässt der sich versuchsweise darauf ein, während seine Sehnsucht nach Zweisamkeit mit einem Mann wächst. Ein Kandidat dafür wäre Boof. Leos Verknalltheit kommt nicht von ungefähr, schließlich geht es bei den beiden Freunden über das übliche kumpelhafte Miteinander hinaus, wenn sie sich nicht nur kabbeln, miteinander halbnackt trainieren oder eine Zahnbürste teilen, sondern sogar nebeneinander masturbieren.

Für seinen Debütfilm „Sunflower“ schöpft der australische Autor und Regisseur Gabriel Carrubba aus eigenen Jugenderfahrungen, die er im Zuge seines Coming-outs gemacht hat. Carrubba kennt das Gefühl, in Leos Haut zu stecken, den der Newcomer Liam Mollica als Alter Ego des Regisseurs glaubhaft verkörpert. Aus dem Erfahrungshorizont – in einem Interview erklärte Carrubba, das Drehbuch in weiten Teilen aus der Erinnerung heraus geschrieben zu haben – erwächst die realitätsnahe Schilderung des Films. Es gibt Zuspitzungen, aber keine allzu übertriebenen Dramatisierungen. Stattdessen stellt sich ein Gefühl jugendlicher Alltäglichkeit ein. Nur weil Leo schwul ist, heißt das nicht, dass er eine grundsätzlich andere Adoleszenz erlebt als Gleichaltrige. In Vielem ist er ein ganz gewöhnlicher Teenager, der Teenagerdinge erlebt, in die Schule oder ins Kino geht, Sport treibt, chillt und feiert. Wie andere Gleichaltrige diskutiert er die Ausgehzeiten mit den Eltern und bekommt Ärger, wenn es dann doch länger wird. Ein bisschen unterlaufen wird das authentisch entfaltete Porträt der australischen Jugend davon, dass das Ensemble durch die Bank etwas zu alt für die Schule wirkt. Aber sei es drum – das guckt sich weg.

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Dass Leo mit seiner Gedankenwelt und der Selbsterkundung nicht nach außen geht, schlägt sich in inszenatorischer Hinsicht in forschenden Nahaufnahmen und im weitgehenden Verzicht auf erklärende Dialoge nieder. Das Wesentliche drückt Carrubba mit Blicken, Gesten und Andeutungen aus. Es spricht ganz wortlos Bände, wenn Leo nach einem Date mit Monique nicht durch deren Internetfotos scrollt, sondern durch die von Tom. Ein starker filmischer Moment, der stellvertretend für die introspektive Erzählweise steht, zeigt Leo bei der Selbstbefriedigung: In kurz hineingeschnittenen Bildern will er sein letztes Treffen mit Monique als Inspiration nutzen, doch es klappt nicht. Erst der Gedanke an die Eindrücke aus der Jungsumkleide helfen. Es ist das alte Lied, das Sarah Connor in ihrer Hymne „Vincent” besungen hat: „Vincent kriegt keinen hoch, wenn er an Mädchen denkt, er hat es oft versucht und sich echt angestrengt.“

Eben diese Anstrengungen, zu versuchen doch nicht schwul zu sein oder dies wenigstens für sich zu behalten, prägen die ersten beiden Drittel von „Sunflower“. Zunächst folgt Leo dem heteronormativen Leitbild und lässt sich auf eine Romanze mit Monique ein, was aber nur so lange den oberflächlichen Schein wahrt, bis eine körperliche Annäherung im Raum steht. Nach dem verpatzten ersten Mal kommen in der Schule Gerüchte über Leos Sexualität auf. Doch auch als die irritierte Monique ihn ganz direkt und durchaus wohlwollend darauf anspricht, leugnet Leo sein Schwulsein ab. Zu einschüchternd ist die ihn umgebende, mal latente oder unbedachte, mal ganz handfeste Homophobie. Eher indirekt stupst ein heterosexuelles Aufklärungsvideo in der Schule in die „richtige“ Richtung. Plakativer treten Boofs Bruder Derek und seine halbstarken Kumpels für ein engstirniges „Law and Order in Down Under“ ein.

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Die Tragik vermischt Gabriel Carrubba mit leichten und humorvollen Momenten, die ebenso zu Leos Jugenderfahrungen gehören wie seine innere Zerrissenheit. Beim Stelldichein fragt Monique, als sie schon erwartungsvoll auf dem Bett sitzt, was Leo nun machen wolle. Sein Vorschlag, zusammen „Stirb langsam“ zu schauen, ist ein schöner ironischer Schmunzler: Monique im BH oder Bruce Willis im Unterhemd – das ist die Frage, auf die es heruntergebrochen hinausläuft. Mit derlei Witz lockert Gabriel Carrubba die Analyse jugendlicher Selbstzweifel regelmäßig auf und unterstreicht die lebensnahe Haltung, die der Film zur Welt einnimmt. Hier ist weder alles schrecklich, noch alles toll. Das gilt auch für die lebhafte Dynamik in Leos Familie, auf die Carrubba immer wieder zurückkommt: Der Umgang am Essenstisch ist temperamentvoll bis ruppig und doch merklich von Liebe geprägt. Das gilt auch für Leos Beziehung zu seinem älteren Bruder Gianni, die durch den Altersunterschied etwas abgekühlt, aber herzlich ist, wenn es darauf ankommt. Mit der Zeit entsteht einige Spannung aus der Frage, wie das Umfeld, insbesondere Boof und die Familie, auf das absehbare Coming-out reagieren wird. Der Zaubersatz des Bruders: „Es ändert sich nichts.“

Auch wenn Leo sich zwischendurch wie E.T., der Außerirdische, fühlen mag und seelische wie körperliche Blessuren davonträgt, bleibt der gute Ausgang eine stete Gewissheit. Das versprechen schon die hellen, sommerlichen Filmbilder. Gabriel Carrubba hat eine optimistische und einfühlsame Ode für jugendliche Selbstakzeptanz gedreht, die die Hemmnisse auf dem Weg zum Coming-out auch für Nichtbetroffene ein Stück nachvollziehbarer macht. Und so ist das teils autobiografische Debüt wohl auch gemeint: als Mutmacher, tröstende Weitergabe und retrospektive Bilanz selbst gemachter Erfahrungen. Für Leo naht die Rettung in Gestalt des weltraumbegeisterten Tom, der ein oder zwei Jahre älter und in seiner Entwicklung einen Schritt weiter ist. Mir nichts, dir nichts steht das Gegenteil von „Stirb langsam” auf dem Plan: ein neuer Lebensabschnitt im metaphorischen Sonnenblumenfeld.




Sunflower
von Gabriel Carrubba
AU 2023, 84 Minuten, FSK 16,
englische OF mit deutschen UT

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