James Cahill: Tiepolo Blau
Buch
Der junge Kunstprofessor Don Lamb zerstört durch seine eigene Verbohrtheit den schützenden Kokon seines gediegenen Gelehrtendaseins und lernt dadurch zum ersten Mal die Verlockungen des schwulen Lebens kennen. Aber ist er ihnen auch gewachsen? Um diese Frage dreht sich James Cahills „Tod in Venedig“-Variation „Tiepolo Blau“, deren englisches Original Stephen Fry als „best novel I have read in ages“ bezeichnete. Nun gibt es den Roman in deutscher Übersetzung. Matthias Frings hat sich mit Don Lamb aus dem Lande Akademia in den Abgrund hinabgestürzt.

Alles gerät ins Schwanken
von Matthias Frings
Die ersten Kapitel dieses Romans fühlen sich an wie geliebte, jahrelang getragene Hausschuhe: Hineinschlüpfen und sich wohlfühlen. So vertraut die Straßen mit ihren historischen Sandsteingebäuden, durch die man streift, so bekannt das Personal. Die Rede ist von Cambridge, der Universität mit ihren pittoresken Colleges, den altbekannten Ritualen und Manierismen. Man riecht geradezu das Abendessen im großen Speisesaal, hört den gepflegten Smalltalk am Professorentisch.
Kunsthistoriker Don Lamb – der Name ist natürlich Programm – gilt trotz seiner vergleichsweise jungen dreiundvierzig Jahre schon als internationale Kapazität. In unhinterfragter Zufriedenheit hat er im Lande Akademia so etwas wie körperlichen und geistigen Efeu angesetzt. Schwul, aber keusch, ist er nur mit seinem ehemaligen Lehrer Val befreundet, einem gutaussehenden, lebenslustigen schwulen Dandy, der gelegentlichen Abenteuern in Marrakesch und London nicht abgeneigt ist. Im Gegensatz zum verklemmten Don ist er ein Salonlöwe, der in den sechziger Jahren mit vielen schwulen Dichtern und Künstlern befreundet war. „Es gibt Geschichten über Partys, Ferien in Tanger, Reisen zu Somerset Maughams Villa an der Riviera.“ Für Don scheint der ältere Mentor einiges übrig zu haben, jedenfalls kümmert er sich auffällig um seinen Schützling, dessen Libido in Tiepolos „Martyrium des heiligen Sebastian“ genügend Futter zu finden scheint.
Tiepolo, der letzte der Alten Meister und der erste der Moderne, steht für einen bemerkenswerten Übergang, ein Thema, das für diesen Roman bestimmend ist. Hier wird ein großer Bogen geschlagen vom allzu Vertrauten ins weite Feld der Unwägbarkeiten, vom beruhigenden Terrain wissenschaftlicher Vernunft in die Unberechenbarkeit sexueller Begierde. Der brave Don Lamb ist davon besessen, Tiepolos Himmel zu kartografieren, und jeder halbwegs erfahrene Leser weiß sofort, dass er dabei krachend scheitern wird. Sinnlichkeit, wie sie sich in großem Nuancenreichtum der berühmten Himmelsdarstellungen Tiepolos findet, lässt sich eben nicht vermessen und dadurch beherrschen.

James Cahill – Foto: Darren Wheeler
Ins Rollen kommen die Dinge durch eine Installation moderner Kunst namens LOTTERBETT, die im Hof des Peterhouse College aufgestellt wird. Bestehend aus objets trouvées, zeigt sie genau dies: Auf einem Stapel von leeren Schnapsflaschen, zerdrückten Bierdosen und einem Durcheinander von Kleidungsstücken ruht das Skelett eines Bettes, das von einem sporadisch aufflackernden Scheinwerfer umrundet wird. Kunstinteressierte erkennen sofort das Vorbild: Tracey Emins Arbeit „My Bed“, die 1997 in der legendären Londoner Ausstellung „Sensation“ zum Skandal wurde und die Künstlerin weltberühmt machte.
Don, für den Kunst bedeutet, dass „Schönheit in ihre Bestandteile destilliert“ wird, ist von LOTTERBETT eigenartig irritiert. Gesellschaftliche Bezüge, Politik und Psychologie in der Kunst lehnt er strikt ab. Gegen seine Gewohnheit und jede akademische Zurückhaltung, vergisst er sich in einer Radiosendung und zieht hemmungslos über das Kunstwerk her, schimpft es „Misthaufen“ und „Gebrabbel eines Obdachlosen“, nennt es eine Provokation, „wie wenn jemand auf dem Bürgersteig seinen Darm entleert“.
Die Wellen schlagen hoch. Die Künstlerin, ein Protegé des Dekans, ist empört, das College beleidigt, und schlussendlich sieht Don sich gezwungen, Cambridge zu verlassen und die Stelle als Direktor eines konservativen, aber hochangesehenen Museums anzutreten. Das Brackwell-Museum zeigt die kostbare Kunstsammlung eines Zuckerbarons, die hauptsächlich Werke aus dem 17. Jahrhundert enthält. Das Terrain bleibt also vertraut, liegt gut abgehangen in der Vergangenheit, aber Dons Arbeitswelt hat sich schlagartig verändert. Im Brackwell wird er urplötzlich in die Gegenwart katapultiert, mitten hinein ins Getümmel der Metropole London. Und erst jetzt beginnt sie eigentlich, die Geschichte von Don, der nun als Erwachsener seine ersten Gehversuche im richtigen Leben macht.
Nach der so vertraut parfümierten Exposition entrollt sich ein klassischer Entwicklungsroman: Auftritt zweier junger Männer, die unterschiedlicher kaum sein können. Einerseits Dons amerikanischer Assistent im Museum, Michael, ein goldgelockter Strahlemann mit „entblößten Unterarmen, die so stramm und gebräunt sind wie frischgebackene Brote“. Dessen selbstsicheres Auftreten führt Don immer wieder vor Augen, wie unerfahren, wie wenig weltläufig er ist. Und dann kommt der gefährliche Ben um die Ecke geschlunzt, eine Figur, wie man sie aus vielen ähnlichen Romanen kennt, der Prototyp des finster-attraktiven Kunststudenten, der „ein wenig wie Egon Schiele“ oder „wie eine der Figuren bei Giorgione aussieht“. Don kann einfach nicht anders, als die Kunstgeschichte zu bemühen, um sich einzugestehen, dass er beide schrecklich geil findet.
Unmerklich gerät unser feinsinniger Professor in eine Abwärtsspirale aus Begierde, Rotwein und Pillen, die ihn zunächst zaghaft, dann in immer größerem Tempo in den Abgrund zieht. Ben schleppt ihn mit in die Schwulenbars und Saunen, auf abgedrehte Vernissagen, und auch ein Park in der Nähe der neuen Arbeitsstätte beginnt eine immer wichtigere Rolle zu spielen. Don ist ängstlich und fasziniert zugleich. Immer öfter vernachlässigt er seine Pflichten als Museumsdirektor, gefährdet damit sogar seine Stelle und strolcht durch die versteckteren Gefilde der Stadt und ihrer Nächte.
Nach und nach wird der gepflegte Unterhaltungsroman dunkler, immer queerer, mutiert erst zur Tragödie und dann zur Farce. Wer in diesem lustvollen Abstieg einen Hauch Alan Hollinghurst entdeckt, liegt nicht ganz falsch. Dessen stilistische Brillanz erreicht dieses Erstlingswerk zwar nicht, obwohl der junge Autor durchaus ein Händchen für saftige Beschreibungen sexueller Eskapaden hat, aber die schmerzhafte Selbstentblößung auf der Folie gesellschaftlicher Konventionen ist auch hier Thema, wobei die Tonalität sich bei James Cahill langsam, aber deutlich zum psychosexuellen Horror entwickelt. Irgendwann weiß man nicht mehr recht, ob die Geschehnisse sich wirklich so zutragen oder ob wir es mit Phantastereien des Protagonisten zu tun haben.
Man darf diesen Roman wohl nicht daran messen, wie realistisch eine Hauptfigur ist, die, in den 90er Jahren in einem Vorort Londons aufgewachsen, derart naiv und unbedarft, so sexlos und unsicher durch die Welt stolpert. Dieser Roman ist eher eine Art Laborexperiment, wir betrachten den guten Don Lamb wie bei einem wissenschaftlichen Test: Wie reagiert eine Testperson, wenn man ihre Lebensumstände unter besonderer Beachtung sexueller Begierden radikal verändert?
Alles gerät hier ins Schwanken, niemand ist der, der er zu sein scheint, Ben nicht der naive Kunststudent, Val nicht der väterliche Freund. Wer spielt welche Spiele und warum? Wer ist Freund, wer Früchtchen, wer eher Mephisto als Mentor? Der Roman hat noch allerlei Enthüllungen zu bieten, bis Don Lamb Tiepolos blauen Himmel endlich dort lässt, wo er hingehört – ganz oben – und sich bei allen anderen einfindet: ganz unten, auf dem Boden der Tatsachen. Am Ende ist er angekommen in der schönen, schmutzigen Angelegenheit, die sich Leben nennt. So lautet denn auch der letzte Satz des Romans: „Über ihren Köpfen und um ihre Füße hat das erste Herbstlaub zu fallen begonnen.“
Tiepolo Blau
von James Cahill
440 Seiten, € 28
Albino Verlag