Rupert Thomson: Never anyone but you

Buch

Die 17-jährige Suzanne freundet sich kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs mit der etwas jüngeren Lucy an, Tochter eines jüdischen Zeitungsverlegers. Zunächst noch im Verborgenen entwickelt sich aus der Freundschaft eine Liebesbeziehung, die das Leben der beiden prägen wird. Sie legen sich die geschlechtlich uneindeutigen Künstlernamen Claude Cahun und Marcel Moore zu, gehen nach Paris und erregen dort in den Zwanzigerjahre mit ihren radikal modernen Texten, Collagen und Fotografien erstes Aufsehen. Ihr Salon wird zum Treffpunkt für Surrealisten und Literaten, Dalí, Breton und Hemingway geben sich die Klinke in die Hand. Mit dem Dichter Robert Desnos tauscht sich Cahun über das damals revolutionäre Konzept aus, „dass Geschlecht zufällig ist und austauschbar“ – und Identität wandelbar. Doch der um sich greifende Antisemitismus treibt die beiden aus der Metropole und auf die Kanalinsel Jersey, die sie auch noch verteidigen, als sie 1940 von der Wehrmacht besetzt wird. Rupert Thomson zeichnet in seiner meisterhaften Romanbiografie das wechselvolle Leben der von Cahun und Moore nach, die in ihrer Denkweise und Lebenshaltung der Queer Theory um Jahrzehnte vorgriffen. Anja Kümmel hat das Buch für uns gelesen.

Im Zwielicht dieser beiden Ichs

von  Anja Kümmel

„Unter der Maske nur eine andere Maske und darunter noch eine“, schreibt Claude Cahun in ihrem Hauptwerk „Aveux non avenus“ (1930): „Ich werde niemals damit aufhören, alle meine Masken abzusetzen.“ In den zusammen mit ihrer Lebensgefährtin Suzanne Malherbe alias Marcel Moore gestalteten Fotomontagen ist Cahun mal als geschlechtsloser Pierrot, mal als strenge Kriegerin, als abgemagerter Asket oder puppengleich geschminkte Kreatur zu sehen. Auf vielen Fotos erscheint eine Art „zweites Ich“, erweckt durch Spiegelungen, Doppeltbelichtungen oder Masken. Cahun und Moore sind kaum separat zu denken, suggerieren diese Arrangements – ebenso wenig wie ihre einzigartigen Kunstwerke ohne die kreativen Energien der jeweils anderen.

Diesen beiden außergewöhnlichen Persönlichkeiten, Pionierinnen in Sachen Surrealismus und Queer Theory, hat nun der renommierte britische Schriftsteller Rupert Thomson mit seinem elften Roman „Never anyone but you“ ein würdiges literarisches Denkmal gesetzt. Was die Fiktionalisierung biografischer Stoffe angeht, darf man zu Recht skeptisch sein – denn egal wie spannend das Sujet auch sein mag, große Literatur entsteht dabei eher selten. Umso erstaunlicher, dass im deutschsprachigen Raum bereits eine empfehlenswerte Adaption des Cahun-Stoffs existiert: Katharina Geisers „Diese Gezeiten“ (Jung und Jung, 2011). Thomsons Roman ist nun ein weiterer großer Wurf, der dem Leben und Wirken der beiden Ausnahmekünstlerinnen – die wahrlich genug Material für mehr als ein Buch hergeben – noch einmal neue Facetten abgewinnt.

1894 wird Claude Cahun als Lucy Schwob in Nantes geboren – das geschlechtsneutrale Pseudonym wählt sie erst später für sich. Familie Schwob ist befreundet mit den Malherbes, und so lernen sich die gerade mal 14-jährige Lucy und die zwei Jahre ältere Suzanne kennen und lieben. Später werden sie sogar zu Stiefschwestern, als Suzannes verwitwete Mutter Lucys geschiedenen Vater heiratet – eine perfekte Tarnung für ihre Beziehung, die damals (zumal in der Provinz) niemand für eine lesbische hält.

Rupert Thomson

Im Großen und Ganzen geht Thomson chronologisch vor und hält sich an die historischen Fakten. Doch was wirklich beeindruckt, sind jene traumgleichen, fast halluzinatorischen Passagen, die surrealistisch angehauchten Bilder und Stimmungen, mit denen er das Lebens(kunst)werk der beiden Frauen in Sprache übersetzt. „Gebrochenes Licht, von einem Himmel, den man nicht sehen konnte“ strahlt herein, kurz bevor sie sich zum ersten Mal küssen – und vor dem inneren Auge entsteht ein derart plastisches Bild, dass man hätte schwören können, genau dieses Foto aus der Sammlung der Cahun-Moore-Kollaborationen bereits zu kennen.

Auch wenn Thomson ihre Seelenverwandtschaft, die Bedingungslosigkeit ihrer Beziehung betont, verklärt er sie dennoch nicht. Schon früh flirtet Cahun mit dem Tod: Sie hungert, inhaliert Äther, unternimmt immer wieder Selbstmordversuche, von denen unklar bleibt, ob sie echte Verzweiflungstaten oder eher eitle Posen darstellen. Mit einem gewissen Trotz behauptet Cahun von sich, „dass die Nichtexistenz mein natürlicher Zustand ist“. Moore erscheint in der Stimme, die Thomson ihr gibt, als die Besonnenere, Bodenständigere der beiden, die auf die Launen und Anwandlungen ihrer Gefährtin mit gelassener Fürsorge, manchmal aber auch mit leisem Spott reagiert – allerdings bleibt sie dabei selbst ein wenig blass und ungreifbar.

Cahuns unbedingter Wille, sich radikal von jeder geschlechtlichen Zuschreibung, von familiären und religiösen Bindungen zu lösen, verschlägt die beiden in den 1920er Jahren nach Paris. Ihre „Freude am Unlogischen und am Absurden“, die sie nicht nur in Fotomontagen, Texten und Collagen zum Ausdruck bringen, sondern tagtäglich leben, charakterisieren sie als Surrealistinnen der ersten Stunde – auch wenn sie nie zum engsten Kreis der surrealistischen Bewegung gehören.

Dennoch geben sich im Mittelteil des Romans Größen wie André Breton, Philippe Soupault, die Man-Ray-Muse Kiki de Montparnasse und sogar Salvador Dalí die Klinke in die Hand – was zwar für Fans dieser blühenden Periode erhellend sein mag, sich jedoch bisweilen nach allzu viel Namedropping anfühlt. Wirkliche Bedeutung für die Geschichte gewinnt einzig der Dichter Robert Desnos, mit dem Cahun sich intensiv über das damals revolutionäre Konzept austauscht, „dass Geschlecht zufällig ist und austauschbar“, Identität wandelbar und das menschliche Wesen ein fortwährendes Puzzlespiel. Es sind u.a. solche Gespräche, die Cahuns Vorstellung stärken, mal männlich, mal weiblich, mal weder noch zu sein („Manchmal hält man sich auch nur im Zwielicht dieser beiden Ichs auf“) – eine Lebens- und Denkweise, die der Queer Theory um Jahrzehnte vorgreift.

Zu literarischer Höchstform läuft Thomson in den letzten Kapiteln auf, die während der deutschen Besatzung auf der Kanalinsel Jersey spielen, wohin sich Cahun und Moore ab 1938 zurückziehen. Zwischen Beklemmung und Galgenhumor changieren die eindringlichen Passagen, in denen die beiden im Alleingang diverse Propaganda-Aktionen starten, die in ihrer Ironie und Ästhetik zugleich ein Vorläufer der Fluxus-Art sein könnten: So kritzeln sie wehrmachtszersetzende Botschaften auf Zigarettenschachteln, verstecken Flugblätter in den Manteltaschen deutscher Soldaten und schreiben mit weißem Nagellack „Nieder mit dem Krieg!“ auf Münzen, die sie dann in Offiziers-Casinos liegen lassen. Analog zum Fortschreiten des Krieges kippt auch die surreale Bildsprache mehr und mehr ins Morbide – und bildet damit eigentlich nur dessen grausame Absurdität adäquat ab.

Es folgt eine fast einjährige Inhaftierung durch die Gestapo, aus der Cahun, die immer schon labil war, physisch und psychisch gebrochen hervorgeht. Gerade gegen Ende ihres Lebens kommen wir der Protagonistin verstörend nah – und doch unterlässt es Thomson wohlweislich, eine vollständige „Demaskierung“ zu versuchen. Stattdessen wirft der Roman so präzise wie poetische Schlaglichter auf die „vielen Ichs“ der Claude Cahun – ohne zu verhehlen, dass sich einige davon dem Verständnis der Ich-Erzählerin (und damit auch unserem) letztendlich entziehen.




Never anyone but you
von Rupert Thomson
Aus dem Englischen von Daniel Schreiber
Gebunden
, 414 Seiten, 26 €,
Secession Verlag

Die tatsächliche subversive Tätigkeit von Cahun/Moore auf Jersey haben Bo Bucher und Angelika Göres anhand historischer Dokumente in ihrem Aufsatz „Weder Geschlecht noch Vaterland“ rekonstruiert, enthalten im Sammelband „Verqueere Verhältnisse“, hrsg. von der AG Queer Studies (Hamburg, 2009).

 

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