Rachilde: Monsieur Vénus

Buch

Die französische Fin-de-siècle-Schriftstellerin Rachilde (1860-1953) schrieb den Roman „Monsieur Vénus“ mit Anfang 20. Sie verstieß darin so vehement gegen die damaligen gesellschaftlichen und sexuellen Konventionen, dass das Werk ihr eine Geld- und Haftstrafe einbrachte und nur in einer zensierten Version erscheinen durfte. Rachilde erzählt von einer jungen Adeligen, die sich in einen Künstler aus einfachen Verhältnissen verliebt und diesen nicht etwa zum Liebhaber macht, sondern zur Geliebten umerzieht. Erstmals erscheint das Buch, das jüngst in den Fokus der Gender Studies gerückt ist, jetzt auf Deutsch in vollständiger Originalfassung; unser Autor Dino Heicker hat es mit Begeisterung gelesen – und Lust auf mehr bekommen.

 

Dem wahren Leben so nah

von Dino Heicker

Nun ist er also endlich in deutscher Übersetzung erhältlich: der Skandalroman des Jahres 1884. Verfasst von der damals 24-jährigen Marguerite Eymery, die unter ihrem Pseudonym Rachilde bereits zuvor mehrere Romane veröffentlicht hatte, erregte „Monsieur Vénus“ im Frankreich des Fin de siècle großes Aufsehen mit seiner lustvollen Umkehrung gesellschaftlich festgelegter Geschlechterrollen. „Tatsächlich“, so schrieb der Schriftsteller Max Bruns noch knapp drei Jahrzehnte später, „ist es beispiellos, wie kühn in ‚Monsieur Venus‘ … die Typen eines Mann-Weibes und eines Weib-Mannes zu einer unerhört pervertierten Handlung gegeneinandergestellt sind.“ Um was geht es also?

In Paris erspäht die 25-jährige Adelige Raoule de Vénerande den nur wenig jüngeren Blumenbinder Jacques Silvert und verliebt sich in den androgynen Jüngling, der glaubt, zum Maler berufen zu sein. Ganz wie es männliche Vertreter ihres Standes mit einer ausgehaltenen Frau getan hätten, finanziert Raoule ihm ein Atelier, in dem sie fortan ein- und ausgeht. Unter ihrer Ägide nimmt Jacques immer femininere Züge an und trägt auch schon einmal Frauenkleidung, während sie, die ein zarter Damenbart ziert, als Mann gekleidet zu Besuch kommt. „Je mehr er sein Geschlecht vergaß, desto mehr umgab sie ihn mit Gelegenheiten, sich zu verweiblichen, und um das Männliche, das sie in ihm zum Verschwinden bringen wollte, nicht zu sehr zu verschrecken, gab sie eine erniedrigende Idee zunächst als Scherz aus, um ihn dahin zu bringen, dass er sie ernstlich akzeptierte.“

Schließlich heiraten die beiden, aber als sie in der Hochzeitsnacht ihre Brüste entblößt, verliert der effeminierte junge Mann die Nerven: „Raoule, du bist also gar kein Mann! Du kannst also gar kein Mann sein!“ Jacques geht mittlerweile dermaßen in seiner Frauenrolle auf, dass die Männer in seiner Nähe feuchte Hände bekommen. Was läge also näher, als sich einen „richtigen“ Mann zu angeln. Und so erhält Raoules früherer Verehrer Baron de Raittolbe – dessen Vorname im gesamten Roman unerwähnt bleibt – Besuch von dem als Frau gekleideten Maler. Raoule, die Wind von der Sache bekommen hat, entdeckt Raittolbe mit einer Pistole in der Hand im Vorraum zum Schlafzimmer, in dem sich Jacques befindet. Der adelige Major meint, sich umbringen zu müssen, da seine Ehre kompromittiert sei; dabei ist angeblich nichts zwischen ihm und Jacques vorgefallen. Außer sich vor Wut, zwingt Raoule die beiden Männer zu einem Duell. Um den Schein zu wahren, hat sie nämlich vorgegeben, sie sei die in flagranti ertappte Ehefrau gewesen.

Rachilde – Foto: Otto Wegener/gemeinfrei

Es kommt, wie es kommen muss: Der ungeübte und sich in falscher Sicherheit wiegende Maler wird vom Major getötet, der erst jetzt seine wahren Gefühle für den jungen Mann offenbart: „Ach, wie entsetzlich, ich kann doch nicht den, den ich liebe, umgebracht haben!“ Doch der Rachedurst der gedemütigten Frau ist noch nicht gestillt. Sie verschafft sich von Jacquesʼ Leichnam Haare, Finger- und Zehennägel sowie Zähne und fügt sie einer aus Wachs und Kautschuk gefertigten Nachbildung des hübschen Jungen ein, die auf Knopfdruck die Lippen spitzt und die Beine spreizt.

Die damals in den Bohème-Kreisen von Paris verkehrende Autorin wusste, dieser Roman bot reichlich Zündstoff und ließ ihn daher nicht in Frankreich, sondern in Brüssel bei Auguste Brancart erscheinen, einem auf erotische Literatur spezialisierten Verleger. Von Geldproblemen geplagt, habe sie damals nur die Möglichkeit gesehen, einen aufsehenerregenden Roman zu schreiben oder in der Gosse zu landen. Prompt wurde das Werk verboten und Rachilde in absentia zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und zur Zahlung von 2000 Francs verurteilt, die sie jedoch umging, indem sie fortan Reisen nach Belgien vermied. Vor Gericht war behauptet worden, sie habe ein neues Laster erschaffen, was ihren Bekannten Paul Verlaine auf den Plan rief, der die junge Autorin tröstete: „Der Erfinder eines neuen Lasters würde der Wohltäter einer neuen Menschheit sein. Beruhigen Sie sich, meine Kleine, Sie haben gar nichts erfunden.“ Immerhin, als Autorin hatte sie sich mit diesem Werk einen Namen gemacht. Selbst in Deutschland, so die Fama, soll sie in König Ludwig II. von Bayern einen begeisterten Leser gefunden haben.

In Frankreich sollte der Roman erst 1889 erscheinen, gekürzt um ein Kapitel und dezent entschärft, dafür mit einem Vorwort von Maurice Barrès versehen, der meinte, Rachildes Hirn sei „verrucht und kokett“. Diese ehelichte im selben Jahr den Schriftsteller Alfred Vallette und betätigte sich nun auch als Journalistin in der von diesem kurz darauf gegründeten Zeitschrift „Mercure de France“. Bis weit in die 1940er Jahre hinein sollte Rachilde an die 70 Bücher veröffentlichen, darunter Romane, die wie „Monsieur Vénus“ der Literaturströmung der Décadence huldigten, aber auch symbolistische Dramen, Novellensammlungen und autobiografische Werke. Im Jahr 1953 starb sie, verarmt und blind, im Alter von 93 Jahren.

An einer Stelle ihres Romans lässt sie ihre Protagonistin Raoule die Ansicht vertreten, bei dem Blumenbinder Jacques habe die „Seele mit ihrer weiblichen Prägung sich in der Hülle vertan“. Damit werden die Homosexualitätstheorien eines Heinrich Hössli beziehungsweise die von Karl Heinrich Ulrichs zitiert. Doch ist dieser Aussage überhaupt zu trauen? Genau genommen wird der junge Mann ja zur Frau „umerzogen“. Und das von einer Frau, die einmal fragt, ob jemals jemand „um die Gnade gefleht“ habe, „sein Geschlecht zu ändern“, und die ihr Zimmer mit Bildnissen schwuler Männer wie Henri III. und Antinoos schmückt. Aus heutiger Sicht handelt es sich wohl eher um ein Trans-Schicksal. Wenig verwunderlich also, dass der Roman in den vergangenen Jahrzehnten in den Fokus der Gender Studies rückte.

Persönlich wusste Rachilde, die mindestens einmal in ihrem Leben eine gleichgeschlechtliche Beziehung unterhalten hatte, den Umgang mit schwulen Männern zu schätzen. So führte beispielsweise Oscar Wilde, der 1890 auf „Monsieur Vénus“ in seinem Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“ anspielte, seinen Lover Lord Alfred Douglas in den Salon der Schriftstellerin ein. Dieser verteidigte sich und seine Veranlagung später in einem Brief an die Pariser Autorin: „Ich bin kein Monstrum … ich bin ganz und gar gesund und griechisch, und es sind die anderen, die Leute, die sich normal nennen, welche die Monstren sind, die Degenerierten.“

Doch besonders eng befreundet war sie mit dem französischen Autor Jean Lorrain. Der nannte seine Freundin, der seitens der Hauptstadtpolizei gestattet worden war, auf der Straße Männerkleidung zu tragen, scherzhaft „Haroum al Raschild“ und gestand ihr, bereits mit mehreren Messieurs Vénus geschlafen zu haben. Und wenn selbst ihm, der ein Faible für taffe Männer aus der Arbeiterschicht hatte, so etwas unterlaufen könne, sei alles möglich – allerdings habe es sich um recht armselige Laster gehandelt. Die Autorin selbst kam 1902 noch einmal auf ihren Roman zu sprechen: „Gegenwärtig macht das Gerücht die Runde, es existierten zahlreiche Messieurs Vénus, deren natürlicher Vater ich sei. Dies belegt, dass alles, was einem ‚verruchten und koketten‘ Hirn entsprungen zu sein scheint, dem wahren Leben so nah wie nur möglich kommt.“

In Deutschland hatte Rachilde es von jeher schwer. Außer den zwischen 1911 und 1929 von Berta Huber und Paul Zifferer für das Mindener Verlagshaus J. C. C. Bruns angefertigten Übersetzungen einiger weniger ihrer Romane und Erzählungen gab es bislang kaum Bemühungen, ihre literarisch reizvollen Werke hierzulande einem größeren Kreis an Leser*innen zu erschließen. Umso lobenswerter ist die endlich vorliegende deutsche Übersetzung der ungekürzten Originalfassung ihres bekanntesten Opus. Das macht Lust auf mehr.




Monsieur Venus
von Rachilde
Aus dem Französischen von Alexandra Beilharz und Anne Schneider
Gebunden mit Schutzumschlag, 220 Seiten, 18 €,
Reclam

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