Queer Exile Berlin

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Im dritten Teil seiner Berlin-Trilogie wendet sich Jochen Hick den queeren Migrant:innen aus aller Welt zu, die ihre Heimatländer verlassen haben, um in Berlin selbstbestimmter leben zu können. Nach den eher zurückblickenden Filmen „Out in East-Berlin“ (2013) und „Mein wunderbares West-Berlin“ (2017), in denen es um homosexuelles Leben in der einstigen Mauerstadt aus ost- bzw. westdeutscher Perspektive ging, verhandelt „Queer Exile Berlin“ die queere Berliner Gegenwart und damit auch aktuelle politische Auseinandersetzugen und Fragestellungen. Andreas Köhnemann über einen Film und eine Trilogie, die Berlin als einzigartigen Ort der Freiheit verstehen und dennoch nicht als Paradies verklären.

Foto: missingFILMs

Was der Himmel erlaubt

von Andreas Köhnemann

Das queere Universum Berlins spiegle die Bewegungen der Welt wider und entwickle sich ständig weiter, heißt es zu Beginn von „Queer Exile Berlin“ in einer Texteinblendung. Der Dokumentarfilmer Jochen Hick (Jahrgang 1960) ist ein Experte für diesen hochaktiven Kosmos, den er bereits ausführlich auf der Leinwand erforscht hat. Zusammen mit „Out in Ost-Berlin“ (2013) und „Mein wunderbares West-Berlin“ (2017) bildet sein neuer Film eine Trilogie über das Leben abseits der Heteronormativität in der deutschen Hauptstadt.

Bei der Betrachtung der drei Filme hintereinander fallen die Veränderungen zwischen damals und heute auf, die Errungenschaften und die Möglichkeiten, die sich im Laufe der Zeit eröffnet haben. Doch auch die Fortführungen oder Verlagerungen von Konflikten werden erkennbar. Seit jeher vermeidet Hick den verklärten Blick auf das, was war; ebenso entzieht er sich einer simplifizierenden Beschönigung des Ist-Zustandes.

Wir begleiten Menschen durch ihre vergangenen Erfahrungen, erhalten Einsichten in ihre aktuellen Situationen und bekommen gelegentlich erzählt, wie sie sich ihre jeweilige Zukunft vorstellen. Das ist hin und wieder tatsächlich „wunderbar“, erscheint indes nie in einem idealisierenden Licht. Dafür sind Hicks Beobachtungen zu genau, sein Interesse an jeder einzelnen Person ist zu groß und geht zu tief, um an der Oberfläche zu bleiben und sich mit Nostalgie oder mit einer unreflektierten Feier der Gegenwart zu begnügen.


Wie in den zwei Vorgängern ist auch in „Queer Exile Berlin“ alles von Widersprüchlichkeit durchdrungen – von Spannungen zwischen den Anliegen von Gruppen und Individuen, oder innerhalb eines Individuums, wenn es etwa um die Einstellung zur lokalen Szene und zur ansässigen Community, um persönliche Erwartungen, Bedürfnisse und Ängste geht. Kann Berlin ein Ort der Selbstfindung sein? Oder sollte eine Person, die hierher kommt, bereits wissen, wer sie ist, um sich in dieser Stadt nicht zu verlieren, wie an einer Stelle gesagt wird?

Im Abschluss von Hicks Filmtrilogie stehen Menschen im Zentrum, die ihre Heimat verlassen haben, weil sie es wollten oder mussten. Der Blick auf das queere Universum Berlins wird in diesem dritten Teil deutlich weiter, internationaler und diverser. „Eine Vielzahl von Identitäten hat sich Verhör verschafft“, ist anfangs zu lesen; die Begriffe „schwul“ und „lesbisch“ seien nur zwei unter vielen. Einige Kerngedanken aus den Vorgängern bleiben dennoch bestehen, da sie zeitlos sind – zum Beispiel der Wunsch, einen Platz zu finden, der es erlaubt, frei und aktivistisch zu sein.

Er wolle in die Stadt, „wo viele Schwule sind“, sagt ein Mann in „Mein wunderbares West-Berlin“ – und fügt hinzu: „In Mönchengladbach war ich noch nicht schwul.“ Der Film zeigt diese Stadt dann allerdings nicht als schwules Paradies, in dem alle automatisch glücklich werden. Als in einer späteren Sequenz des Films Statements auf einem Berliner Tuntenball eingefangen werden, meint ein Gast, während er von zahlreichen Besucher:innen umringt ist, er fühle sich einsam.

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Diese urbane Einsamkeit wird auch in „Queer Exile Berlin“ thematisiert. So schildert der armenisch-stämmige Mischa Badasyan, der in Rostow am Don in der ehemaligen UdSSR aufwuchs, wie er in Berlin auf der Suche nach einem festen Freund auf harte Ablehnung gestoßen sei, da er offenbar nicht dem Schönheitsideal entspreche. In einem Performance-Art-Projekt, in dessen Rahmen er versuchte, über ein Jahr hinweg jeden Tag ein schwules Sex-Date zu haben und dies zu dokumentieren, machte er auf seine Desillusionierung aufmerksam. Hick baut kurze Passagen aus Mischas intimen Kunstprojekten in seinen Film ein – wie er bisher schon Fotografien, Videoaufnahmen und Archivmaterial verarbeitet hat, um Biografien außerhalb der Heteronorm mit all ihren Brüchen und Ambivalenzen als Material-Collage zu erfassen.

Die Kunst als Ausdrucksmittel ist für einige der Protagonist:innen in „Queer Exile Berlin“ überaus wichtig. Beispielsweise für Haidar Darwish, der aus der syrischen Hafenstadt Latakia stammt und als Tänzer in Berlin tätig ist. Die traditionelle Kleidung, in der er auftritt, verbinde er mit seiner Herkunft, mit seinem Erbe. Er erinnere sich daran, wie in Syrien jede Bewegung ein Risiko für ihn bedeutet habe. Alles, was sein Begehren betraf, habe heimlich passieren müssen. Aber auch hier geht der Film nicht den einfachen Weg, der Berlin nun als rundum sicheren Raum für queere Menschen und somit als strahlenden Kontrast entwerfen würde.

Dass in diesem Land viele queerfeindliche Dinge überwunden wurden – insbesondere der diskriminierende Paragraf 175 –, veranschaulichen Hicks Filme eindrücklich. Doch dass Berlin dadurch (noch) nicht zum Safe Space für jede:n wurde, ist eine traurige Wahrheit, die der Regisseur ebenso treffend demonstriert. Der in Haiti geborene und in der US-Metropole New York City aufgewachsene Künstler Jean-Ulrick Désert machte seine Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen in Deutschland zum Gegenstand einer Fotoserie. Durch das Tragen einer zünftigen hellen Lederhose eignete er sich das „Urdeutsche“ an, von dem er zuvor so aggressiv ausgeschlossen worden war.

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Den legendären Techno-Club Berghain bezeichnet Jean-Ulrick an einer Stelle als „brutal in seiner Schönheit“ – ein weiteres der etlichen Paradoxe, von denen Hicks Trilogie immer wieder erzählt. Eine graue Stadt, die „buntes“ Leben verspricht. Eine lokale Szene, in der viele einsam sind, in der sich aber, wie es scheint, kaum jemand binden will. In „Mein wunderbares West-Berlin“ werden die unterschiedlichen Ziele in Bezug auf das schwule Liebesleben gegenübergestellt. Von der Sehnsucht nach einem „festen Herrn“ ist auf der einen Seite die Rede; auf der anderen Seite wird die Gründung von Kommunen schwuler Gruppen als Gegenbewegung zur normativen Paarwohnung gezeigt. „Unser Ziel war, ganz normal zu leben“, heißt es wiederum in einem Interview in „Out in Ost-Berlin“.

In „Queer Exile Berlin“ sehen wir, wie die trans Frau Eunice Franco, die in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon aufwuchs und in Berlin lebt, da sie nach eigener Aussage nur dort finanziell über die Runden komme, ihre aus dem kalifornischen Long Beach stammende Partnerin Alyha Love heiratet. Die beiden definieren ihre Liebe auf ihre eigene Weise. Sie hätten, wie Eunice sagt, keine sexuelle Beziehung, würden jedoch „für immer zusammen bleiben“.

Dass ihre Hochzeit in Kopenhagen stattfindet, weil die deutsche Bürokratie es dem Paar zu schwer gemacht habe, und dass Eunice für ihre geschlechtsangleichenden Operationen in die spanische Stadt Marbella reist, da ihre persönlichen Wünsche in Deutschland nicht umgesetzt würden, führt abermals vor Augen, dass das Leben in Berlin, das für queere Menschen wie der Himmel anmuten kann, nach wie vor mit Hindernissen und Einschränkungen verbunden ist. Was dieser Himmel erlaubt, ist oft noch weit von der erhofften Freiheit und Selbstbestimmung entfernt.

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In „Out in Ost-Berlin“ erläutert Michael Eggert, dass die von ihm mitgegründete Homosexuelle Interessengemeinschaft Berlin (HIB) „in den herrschenden Verhältnissen ein Stückchen Freiheit“ angestrebt habe. Im heutigen Berlin sind die Möglichkeiten dazu gewiss weitaus zahlreicher als in der einstigen DDR-Gesellschaft; teilweise haben sich die Kämpfe indes lediglich verlagert – und richten sich heute zum Beispiel verstärkt gegen die transfeindlichen Vorstellungen einer strengen Binarität.

Ein weiteres wiederkehrendes Motiv in Hicks Trilogie ist die fehlende Solidarität, der eklatante Mangel an Verständnis innerhalb der Community. In „Mein wunderbares West-Berlin“ werden wir Zeug:innen hitziger Diskussionen bei Sitzungen der Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW), die sich zu zersetzenden Flügelkämpfen entwickeln konnten. Die Lesben fühlten sich neben den deutlich lauteren Schwulen nicht gehört. Die aus der Niederlande stammende Ex-Nachtclubbesitzerin Romy Haag meint, dass mit den Darkrooms die Intoleranz gekommen sei – da einige Orte plötzlich nicht mehr für alle gedacht gewesen seien und dadurch manche Personen ausgeschlossen hätten. In „Queer Exile Berlin“ wird Eunice mit einer Frauengruppe konfrontiert, die ihr als trans Frau das Frausein absprechen will. Mischa hingegen wird von anderen Schwulen angefeindet, weil seine Kunstaktion über Sex-Dating die Szene in einem schlechten Licht erscheinen lasse.

Auch zwischen den Generationen mangelt es zuweilen an Zusammenhalt. Gloria Viagra, die „stadtälteste Dragqueen“, wie sie sich selbst nennt, musste als kleines Kind gemeinsam mit ihrer Mutter aus Köln vor dem gewalttätigen Vater nach Berlin fliehen. Dort erlebte sie viele aktivistische Kämpfe mit, etwa die erste Berlin-Pride-Demonstration im Jahr 1973. Inzwischen spüre sie den Generationenwechsel. Während in „Out in Ost-Berlin“ die Porträtierten schildern, dass ein nicht-heteronormatives Leben zunächst unsichtbar gewesen sei, und ebenso in „Mein wunderbares West-Berlin“ vermittelt wird, dass eine Szene erst einmal aufgebaut werden musste, scheint das mühsam Erarbeitete und Erkämpfte heute oft zu wenig Anerkennung zu erhalten. Das Erreichte zu würdigen und zugleich weiterzudenken, die Vergangenheit nicht zu vergessen und dennoch den Blick nach vorne zu richten, Berlin wertzuschätzen, ohne die Stadt zu romantisieren, und den anhaltenden Handlungsbedarf wahrzunehmen – all das scheint nötig, um ein sicheres queeres Exil zu schaffen.




Queer Exile Berlin
von Jochen Hick
DE 2023, 105 Minuten, FSK 12,
englische-deutsche OF, teilweise mit deutschen UT

Ab 18. April im Kino