Pierre Loti: Mein Bruder Yves

Buch

Pierre Lotis Roman „Mein Bruder Yves“ (1883) spielt auf einem Schiff der Kriegsmarine. Der Ich-Erzähler ist Yves Kermadec, dem „geschicktesten, seetüchtigsten Mann“ an Bord, innig verbunden. Er ist fasziniert von Yves‘ Schönheit und will seinen „Bruder“, der an Land dem Alkohol verfallen ist, vor der Zügellosigkeit schützen. Unser Autor Dino Heicker schreibt über den faszinierenden, weitgereisten Autor Pierre Loti, der wie in „Lichtes Meer“ auch immer wieder schwule Matrosenromantik inspiriert hat, und dessen noch heute höchst lesenswerte Geschichte einer Männerfreundschaft auf hoher See.

 

In die Ferne

von Dino Heicker

Pierre Loti prägte mit seinen exotistischen Romanen die Sicht auf ferne Welten. Der 1872 verfasste, aber erst acht Jahre später veröffentlichte Roman „Lotis Ehe“ zum Beispiel griff die seit Louis Antoine de Bougainville geläufige Verklärung der Beziehungen von sexuell offenherzigen Tahitianerinnen mit eingereisten Franzosen auf und verkehrte sie ins Tragische: Am Ende geht der Mann zurück an Bord eines Schiffes in Richtung Europa und lässt die verliebte Eingeborene mit gebrochenem Herzen zurück. Loti wusste wohl, wovon er schrieb, hatte ihn doch 1871 eine seiner ersten Reisen als Marineoffizier nach Tahiti geführt. Hier soll er, der mit bürgerlichem Namen Louis Viaud hieß, auch seinen neuen Nachnamen erhalten haben, den er später zu seinem Schriftstellerpseudonym erkor: Loti bezeichnet in der Landsprache eine tropische Blume.

Dass diese sentimentale Geschichte gerade schwule Männer besonders angesprochen hat, zeigt das Beispiel Reynaldo Hahns. Der in Venezuela geborene Komponist legte 1898 seiner Debütoper „L’Île du rêve“ gerade diesen Roman Lotis zugrunde. Hahn, der seit seinem vierten Lebensjahr in Paris lebte, war von 1894 bis 1896 Liebhaber des Schriftstellers Marcel Proust, eben während jenes Zeitraums, in dem er seine erste Oper komponierte. Doch noch berühmter als Lotis Tahiti-Roman sollte seine ähnlich gelagerte japanische Geschichte „Madame Chrysanthème“ werden, die seit 1904 in der Gestalt von Giacomo Puccinis Oper „Madama Butterfly“ die ganze Welt zu Tränen rührt.

Bereits als Kind hatte der 1850 in dem am Atlantik gelegenen Städtchen Rochefort geborene Loti Sehnsucht nach dem fernen Osten. Ein Stich der Tempelanlagen im kambodschanischen Angkor befeuerte sein Fernweh, und so war seine Ausbildung zum Marineoffizier wohl durchaus auch Mittel zum Zweck. Auf diversen Schiffen bereiste er zwischen 1869 und 1909 fast die ganze Welt, wobei seine besondere Vorliebe der Türkei beziehungsweise dem Osmanischen Reich galt. Und als 51-Jährigem gelang es ihm endlich, die beeindruckenden Ruinen der einstigen Hauptstadt der Khmer persönlich in Augenschein zu nehmen.

Lucien Lévy-Dhurmer: „Portrait de Pierre Loti“

Über seine Reisen verfasste Loti einige zum Teil höchst erfolgreiche Bücher, die häufig unter dem Begriff „Autofiktion“ zusammengefasst werden, denn fast immer haben sie einen autobiografischen Kern, der literarisch verfremdet wird. Auch bei dem Roman „Mein Bruder Yves“ wendet er dieses Verfahren an, wenn hier auch weniger die exotischen Schauplätze ins Gewicht fallen. Wie in Lotis Roman „Die Islandfischer“, der unter anderen von Königin Elisabeth von Rumänien (alias Carmen Sylva) ins Deutsche übersetzt wurde, ist hier die Bretagne ein wichtiger Schauplatz der Handlung. Sie ist der Landstrich, aus dem der Titelheld Yves Kermadec stammt und in den der Matrose regelmäßig zurückkehrt, wo er schließlich eine Familie gründet und sich häuslich niederlässt. Geschildert wird dies von dem Ich-Erzähler Pierre, Yvesʼ Bruder ehrenhalber und sein Vorgesetzter. Pierre ist ein Marineoffizier, den eine innige Freundschaft mit dem einfachen Matrosen verbindet, der ein massives Problem mit dem Alkohol hat. Kaum an Land, versumpft der junge Mann in der nächstbesten Kneipe und wacht nicht selten erst anderntags in der Gosse wieder auf oder ist nach einer Schlägerei im Schiffsbauch in Eisen gelegt worden.

„Moralisch und körperlich war er groß, stark und schön, mit einigen Unregelmäßigkeiten im einzelnen. An Bord war er der unermüdlichste Marsgast, ununterbrochen tätig, immer wachsam, immer flink bei der Hand, immer reinlich. Zu Lande, mit oder ohne Urlaub, war immer er der lärmendste, trunkenste aller Seeleute; immer aus Rand und Band, gehörte er zu denen, die man am Morgen wie einen Toten, halbnackt, hier von Negern, dort von den Indern oder Chinesen der Kleider beraubt, aus einem Rinnsteine auflas.“ Man merkt es an der Wortwahl, die hier wiederveröffentlichte Übersetzung von Robert Prölß ist älteren Datums; wie in der Bibliothek rosa Winkel schöne Tradition, wurde keine neue Übertragung ins Deutsche vorgenommen, sondern auf eine Arbeit aus dem Jahr 1894 zurückgegriffen. Das schmälert den Lesegenuss jedoch keineswegs. Die schlaglichtartig beleuchtete Geschichte einer Männerfreundschaft ist durchaus auch heute noch lesenswert.

Erzählt wird, wie die beiden Männer zwischen 1875 und 1883 so manche der sieben Weltmeere an Bord diverser französischer Marineschiffe bereisen. Frauen spielen dabei nur am Rand eine Rolle, Schwules aber ebenso. Alles in dem Buch ist so blitzsauber wie die jeden Morgen von den Schiffsleuten blankgescheuerten Deckplanken, noch nicht einmal der Umstand, dass sie dabei nackt sind, kann etwas an der weitgehend enterotisierten Atmosphäre des Romans ändern, und so überschreitet die Zuneigung der Männer füreinander auch nie eine gewisse Grenze.

Dass unter Schiffsleuten der Übergang von Homosozialem zu Homoerotischem manchmal fließend ist, hatte 1851 allerdings schon Herman Melvilles Roman „Moby Dick“ bewiesen. In diesem auf einem Walfangschiff spielenden Buch ist, um nur ein Beispiel anzuführen, einer der beglückendsten Momente für die Crew das gemeinschaftliche Kneten von Walrat, eine Substanz, die man früher für das Sperma des Pottwals hielt. Die amerikanische Kulturhistorikerin Camille Paglia spottete über den masturbatorischen Charakter eben dieser Szene: „So sieht Melvilles Himmel aus – eine Riege Männer, jeder die Hände in der Tasche eines anderen.“

Apropos Walfänger, genau auf einem solchen Schiff hat Yvesʼ desertierter Bruder Goulven Unterschlupf gefunden. Loti beschreibt den heruntergekommenen Kahn als negatives Gegenstück zu den adretten französischen Marineseglern. Nicht nur, dass hier alles schmutzig ist, nein, auch Homoerotisches hat hier einen deutlich anrüchigen Unterton, und die Beschreibung der Tätowierungen eines Matrosen ist denn auch die einzige einigermaßen erotische Stelle des Buches. Nach einem gemeinsamen Mahl an Bord, zu dem Pierre in Begleitung von Yves geladen ist, „läßt man einen tätowierten Matrosen kommen, den man zum Dessert entkleidet, um mir [Pierre] die Tätowierung zu zeigen, die eine Fuchsjagd zeigt. Man sieht Reiter und Hunde, die vom Hals aus spiralförmig über den Körper stürmen. ‚Haben Sie den Fuchs schon entdeckt?‘ fragt mich der Kapitän mit vergnügtem Lachen. […] Im Bereich der Hüfte wird es spannend, und man ahnt, wo es enden wird.“

Trotz Frau, Geliebter und mehrerer Kinder wertet die Forschungsliteratur Pierre Loti hin und wieder als „Schrankschwulen“, der nie herauskam. Angeblich vertraute er Edmond de Goncourt einmal an, aus einem in Wirklichkeit männlichen Geliebten im Roman „Aziyadeh“ kurzerhand eine Frau gemacht zu haben. Als Loti 1892 Mitglied der Académie Française wurde, höhnte der ältere Schriftstellerkollege prompt, er habe dies bloß „der sentimentalo-platonischen Erektionen seiner Bücher“ zu verdanken. Ebenso sorgte seine Schwäche für Maskenbälle und Verkleidungen, in denen er sich gerne ablichten ließ, bei den Zeitgenossen für Stirnrunzeln. Im Jahr 1903 wurde in einer den – mehrheitlich schwulen – Ästheten gewidmeten Nummer der Satirezeitschrift „LʼAssiette au beurre“ noch einmal an den Roman „Mein Bruder Yves“ erinnert, als es in einer Karikatur unter Anspielung auf Lotis affektive Männerbekanntschaften hieß, man erwarte den Autor mit seinem „neuen Bruder Yves“ zum Essen. Dass sich hinter der literarischen Figur Yves Kermadec in Wirklichkeit Lotis Freund Pierre Le Cor verbarg, kann man dem kundigen Nachwort der Neuausgabe entnehmen und bei der Gelegenheit einen Blick auf die beigefügte Aktzeichnung werfen, die der Schriftsteller von ihm angefertigt hat.




Mein Bruder Yves
von Pierre Loti

Aus dem Französischen von Robert Prölß
Gebunden, 310 Seiten, 20,00 €,
Männerschwarm

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