Patrick Henze: Schwule Emanzipation und ihre Konflikte
Buch
Die Entschärfung des §175 im Jahr 1969 hob den Deckel von einem viel zu lange geschlossenen Topf. Schwule Männer, deren Sexualität bis dahin mit Gefängnis bestraft wurde, meldeten sich in der Öffentlichkeit zu Wort und die „Zweite deutsche Schwulenbewegung“ begann, in deren Verlauf die meisten Infrastruktureinrichtungen des heutigen queeren Lebens geschaffen wurden. Die umtriebige Berliner Polittunte und Geschlechterforscherin Patsy l’Amour laLove, Herausgeberin der heiß diskutierten Sammelbände „Beißreflexe“ (2017) und „Selbsthass & Emanzipation“ (2016), hat über die bewegten Siebzigerjahre promoviert und die Dissertation nun unter ihrem bürgerlichen Namen Patrick Henze veröffentlicht. Der Untertitel „Zur westdeutschen Schwulenbewegung“ führt allerdings etwas in die Irre, denn im Grunde ist fast ausschließlich von Berlin die Rede, und in den Siebzigerjahren war „Westdeutschland“ von Berlin aus gesehen ungefähr so weit weg wie der Mond. Matthias Frings hat das Buch für uns gelesen.
Geschichtsstunde mit Dr. Patsy
von Matthias Frings
Warum verlegt jemand eine Dissertation? Ganz einfach: Weil ein Doktortitel erst nach Veröffentlichung der Doktorarbeit getragen werden darf. In diesem Fall also die berühmt-berüchtigte Dr. Patsy l’Amour laLove, Genderforscherin, Buchautorin, Polittunte, Kuratorin, Vortragsreisende und Damendarstellerin, die im Folgenden unter ihrem ungewohnten Klarnamen Patrick Henze geführt werden soll.
Warum aber verlegt ein Publikumsverlag wie der Berliner Querverlag eine Dissertation? Auch nicht schwer zu erraten: Mit Titeln wie „Beißreflexe“ und „Selbsthass & Emanzipation“ von Herausgeberin laLove gelang dem Verlag ein ganz unverhoffter queerpolitischer Erfolg, die sogenannte „Kreischreihe“ (zu der auch die Bände „Lesben raus“ von Stephanie Kuhnen und „Freiheit ist keine Metapher“ von Vojin Saša Vukadunović gehören). Als hätte jemand den Deckel vom Pulverfass geschraubt und ihn anschließend gut versteckt, verschafften sich in den unterschiedlichsten Fraktionen der LGBT-Gemeinde verbale und publizistische Auseinandersetzungen und Argumente, Befürchtungen und Beschuldigungen mit einer Detonationskraft Luft, die man so nicht erwartet hatte. Es gab Boykottaufrufe, Beschuldigungen, Drohungen und großes Drama, doch war es wohl dringend an der Zeit, dass eine gewisse Sprachlosigkeit überwunden wurde. Eine Menge Frust hatte sich aufgestaut – und der musste raus.
Bei Henzes nun vorliegender historischer Aufarbeitung der schwulenpolitischen Diskussionen der 1970er Jahre über die sowohl theoretischen als auch praktischen Wege zur Emanzipation sind allerdings weder große Aufregung, noch große Auflage zu erwarten. Man muss an diesem recht speziellen Feld schon interessiert sein und beim Umfang des Buches auch ein gerüttelt Maß an Ausdauer an den Tag legen wollen. Verdienstvoll ist die Veröffentlichung allemal, findet doch die neuere deutsche Schwulenbewegung, deren Beginn sich grob auf das Erscheinen des legendären Praunheim-Films „Nicht der Homosexuelle ist pervers…“ (1971) datieren lässt, in der linken Geschichtsschreibung kaum Erwähnung. (Fun Fact: Der heterosexuelle Kraushaar, Wolfgang, Bruder des homosexuellen Kraushaar, Elmar, beschäftigt sich in seinen äußerst umfangreichen, viel beachteten Chroniken sozialer Bewegungen nach ‘68 nur schulterzuckend mit der westdeutschen Schwulenbewegung.) So viele Bücher, Artikel, Essays, TV-Dokumentationen es 2018 zum 50. Jubiläum der ‘68er auch gab – so gut wie nie wurde in all diesen Betrachtungen vom Beitrag der Schwulen erzählt.
Warum die Schwulenbewegung, die doch immerhin links und studentisch geprägt war, kein Thema „offizieller“ linker Geschichtsschreibung abgibt, wird bei Henze schnell klar. So wie die Homos (im Buch dokumentiert) von Linken bei linken Demonstrationen buchstäblich an den Rand geschoben wurden, waren die Schmuddelkinder in den linken Kaderschmieden zu keiner Zeit gerne gesehen. Das war schon immer so und ist schlechte linke Tradition. Dabei hatten sie sich doch so anstellig gegeben.
Zentrum, Ausgangs- und Streitpunkt aller Auseinandersetzungen um (schwule) Emanzipation war in dieser Zeit die Frage, wie und wo genau die Schwulenfrage anzusiedeln war. Auf der einen Seite die Politfraktion, geschult an der Frankfurter Schule, die sich als Teil einer allgemeinen revolutionären Bewegung verstand, am anderen Ende des (noch nicht Regenbogen, sondern rosa Winkel tragenden) Spektrums diejenigen, die ihre Differenz betonten, einen spezifisch homosexuellen Politikansatz verlangten und sowohl theoretisch als auch sexuell ein Stück Befriedigung im Hier und Jetzt verlangten, nicht als Nebenwiderspruch, sondern als Subjekte mit spezifischer Identität. Gemeinsam hatten sämtliche Strömungen aber die durchaus sympathische Vorstellung, dass eine private Befreiung von Homosexuellen in einer nicht-befreiten Gesellschaft nicht zu haben war. Oder wie Dannecker es formulierte: „Eine befreite Sexualität im unfreien Ganzen ist ein Unding und alle gewährten Scheinfreiheiten können darüber nicht hinwegtäuschen.“
Die Fliehkräfte, die sich aus der Spannung zwischen hoher politischer Weltveränderung und etwas kleinerer, aber spürbarer privater Verbesserung der Lebensverhältnisse ergaben, werden in dieser historischen Untersuchung gespiegelt. Extrem vereinfacht könnte man eine große Linie ziehen vom Versuch einer revolutionären Gesellschaftsveränderung über Bürgerrechtspositionen und integrationistische Interessenvertretung bis hin zum Homoglück im Lande Diversity mit Trauschein und Kind.
Wie es sich für eine historische Forschung gehört, hat Patrick Henze über viele Jahre hinweg mit großem Fleiß Materialien gesammelt. Statuten, Debattenpapiere, Artikel, Briefe, Aufrufe, Plakate, Protokolle etc.. Das ist ebenso absehbar wie die Methodendiskussion zu Beginn des Buches, die natürlich einer gewissen akademischen Folklore geschuldet ist. Das mag, wer will, ruhig überfliegen. Interessant ist dennoch, dass hier – wohl ein Spezialinteresse des Autors – auch ein psychoanalytischer Maßstab angelegt wird, ungewohnt bei einem gesellschaftlich so relevanten Thema und Gelegenheit zum Überprüfen, ob solche Ansätze weiterhelfen können oder eher nicht.
Fleisch kommt an den (akademischen) Knochen wenn der Hauptteil des Buches beginnt, zahlreiche Interviews mit Zeitzeugen, oral history. Mit einem Mal wird aus Papier erlebte Geschichte, zumal die Interviewpartner für viele keine Unbekannten sind, wie die schon erwähnten Dannecker und Kraushaar, aber auch Prinz-Eisenherz-Mitbegründer Peter Hedenström, Trümmertunte Melitta Poppe, Waldschlösschengründer Marbach oder Detlef Stoffel, hier auch als „Skandalnudel“ bei der berüchtigten Veranstaltung in der „Beethovenhalle“, einem großen politischen Showdown im Breitwandformat zu erleben. Deren Erzählungen sind es, die dieses Buch lesbar und interessant, die großen Grabenkämpfe nachvollziehbar und im zeitlichen Abstand ebenso exotisch fern wie erstaunlich aktuell machen.
Natürlich lassen sich bei einem so weiten Feld unendlich viele Leerstellen feststellen, etwa die Berlinzentrierung der Narration oder auch die Tatsache, dass die Arbeit zwar mit Sammlung und Auswertung, aber ohne jede These auskommt. Es wird hoffentlich nicht die letzte zum Thema bleiben; und auch andere Formen sind denkbar – die oral history könnte man sich sehr gut auch als elektronisches Projekt vorstellen.
Was verblüffend eindrücklich hängen bleibt ist die enorme Bedeutung, die das Engagement der jeweiligen Interviewpartner und Zeitzeugen für ihr Leben hatte. Das bleibt bis heute spürbar. Die Debatten, die Theorietexte, Demonstrationen, Kämpfe, Theaterstücke und Filme haben buchstäblich Früchte getragen – für andere und für sie selbst. Insofern ist es erfreulich mitzubekommen, dass die Beziehungen, die damals geknüpft wurden, oft bis heute fortbestehen. Das ist nicht zu verachten als Ergebnis eines Zeitabschnitts, dem vor allen Dingen Theorielastigkeit und ein gewisses Maß an Lebensferne attestiert wurde.
Schwule Emanzipation und ihre Konflikte
Zur westdeutschen Schwulenbewegung der 1970er Jahre
von Patrick Henze
Kartoniert, 436 Seiten, 18 €,
Querverlag