Paragraph 175

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Zwei Filme, ein Thema: Anlässlich des Kinostarts von „Große Freiheit“ kommt im Salzgeber Club der preisgekrönte Dokumentarfilm „Paragraph 175“ von Rob Epstein und Jeffrey Friedman („The Celluloid Closet“) neu als VoD heraus. Das Regie-Duo zeichnet darin das Schicksal der Homosexuellen im Dritten Reich nach – einer lange Zeit vergessenen Opfergruppe. Für Christian Lütjens funktioniert der Film sowohl als Ergänzungs- wie als Gegenprogramm zum Kinobesuch.

Foto: Salzgeber

Solange es noch Zeugen gab

von Christian Lütjens

Dass der Hype um Sebastian Meises §175-Knastdrama „Große Freiheit“ dazu beigetragen hat, dass der Epstein/Friedman-Dokumentarfilm „Paragraph 175“ jetzt auch als VoD erschienen ist, ist schon mal ein Gewinn. Es wäre wünschenswert, dass alle, die jetzt loslaufen, um Franz Rogowski auf der Leinwand cruisen, scheitern und leiden zu sehen, sich zusätzlich den Dokumentarfilm anschauen. Am besten vor dem Kinobesuch, denn in gewisser Weise bauen die Filme aufeinander auf. Während der Handlungszeitraum von „Große Freiheit“ vom Ende der Nazizeit bis zur Entkriminalisierung von schwulem Sex in der Nachkriegs-BRD 1969 reicht, konzentriert sich „Paragraph 175“ auf die Zeit davor, also auf die Jahre, in denen der liberale Geist der Weimarer Republik von Hitlers Schreckensherrschaft abgelöst wurde, was spätestens ab der Verschärfung von §175 im Jahr 1935 zur gezielten Verfolgung Homosexueller und ihrer Verschleppung in KZs führte. Auch Hans Hoffmann, die Figur, die Rogowski in „Große Freiheit“ spielt, hat eine KZ-Vergangenheit als Rosa-Winkel-Häftling hinter sich. Seine Geschichte ist also in Teilen auch die Geschichte einiger Protagonisten des Dokumentarfilms.

„Paragraph 175“ entstand Ende der 1990er Jahre aus einem Bewusstsein der Unaufschiebbarkeit heraus, das man dem Film auch über 20 Jahre später noch anmerkt. Nachdem die „Celluloid Closet“-Macher Rob Epstein und Jeffrey Friedman bei einem Screening in Amsterdam den schwulen Historiker Klaus Müller kennengelernt hatten, der ihnen von einer Forschungsarbeit über schwule Überlebende der Verfolgung durch die Nazis erzählte, beschlossen sie, einen Film über das Thema zu machen. Und zwar sofort, bevor es zu spät sein könnte. Oder wie das Regie-Team es in einem offiziellen Statement selbst ausdrückt: „Wir fühlten eine gewisse Dringlichkeit das Projekt zu machen, solange es noch Zeugen gab, die uns über ihre Erlebnisse berichten konnten.“

Gemeinsam mit Klaus Müller als wissenschaftlichem Leiter und Co-Produzent wurden für den Film fünf schwule Männer und eine lesbische Frau interviewt, die während der Nazizeit im Schatten des „Unzuchtsparagraphen“ 175 Verfolgungen und Inhaftierungen (mit-)erlebten. Mit Gad Beck und Pierre Seel befanden sich unter den Gesprächspartnern zwei offen schwule Männer, die bereits in Büchern über ihre Erfahrungen berichtet hatten, andere hingegen sprachen zum ersten Mal öffentlich über Flucht, Verhaftung und KZ – mehr als 60 Jahre später. Die aufrüttelnden, sehr unterschiedlichen Berichte wurden zu einem 80-minütigen Filmmosaik aus Schicksalen zusammengefügt, das einerseits die Heterogenität der Betroffenengruppe illustrierte, aber auch schmerzlich vor Augen führte, wie sehr Angst, Scham und Sprachlosigkeit die Freiheit von Menschen auch dann noch einschränken können, wenn es keinen unmittelbaren Anlass mehr für sie gibt. Nach der Weltpremiere beim Sundance Film Festival im Januar 2000 wurde „Paragraph 175“ mit dem Regiepreis ausgezeichnet, ein paar Wochen später folgte der Dokumentarfilm-Teddy auf der Berlinale.

Schon damals war klar, dass dieser Film kein Verfallsdatum hat. Dass er nicht an Aktualität verlieren würde, weil sein Fokus von vornherein auf der Aufarbeitung der Vergangenheit und dem Festhalten von Erinnerungen lag, nicht auf dem Abbilden der Gegenwart. Bis heute macht ihn so stark, dass er niemanden schont – weder Interviewte noch Macher.

Das Publikum erlebt mit, wie Franzose Pierre Seel die erste Begegnung mit Klaus Müller statt mit einer Begrüßung mit einem vorwurfsvollen „Es ist schlimm, dass sie hier sind“ kommentiert und darin seine tief empfundene Abneigung gegenüber Deutschen zum Ausdruck bringt – eine Haltung, die spätestens dann jeder nachvollziehen kann, wenn er berichtet, wie ein Freund von ihm im Sicherungslager Schirmeck unter den Blicken deutscher Nazi-Wärter von Schäferhunden zerfleischt wurde.

Die Kamera hält drauf, wenn Heinz F. zum ersten Mal in seinem Leben über die traumatische Erfahrung des Abtransports seiner homosexuellen Mithäftlinge ins KZ Mauthausen erzählt und dabei (nicht zum letzten Mal) von Tränen übermannt wird. Sie bleibt auch dran, wenn Albrecht Becker erzählt, dass ihn die Nazis erst wegen seiner Homosexualität in den Knast steckten, er sich nach seiner Entlassung aber trotzdem freiwillig zur Wehrmacht meldete, um „unter Männern“ zu sein, von denen es in seinem Heimatort nach Ausbruch des Kriegs keine mehr gab. Wenn er in diesem Zusammenhang unbekümmert von den militärischen Tugenden „Ehre, Würde, Gerechtigkeit“ spricht und dabei versonnen die Fotos betrachtet, die er an der Front von seinen Kameraden gemacht hat, verschwimmen die Grenzen zwischen Opfer und Täter. Dann macht sich eine andere Form von Beklemmung breit als jene, die die gespenstischste Szene des Films begleitet: Wenn Heinz Dörner vom „Singenden Wald“ erzählt, einem Hain, durch den die Schreie von KZ-Häftlingen im Todeskampf hallen. „Da bekam jeder Gänsehaut“, stammelt er, und scheint dabei für die Zuschauenden mitzusprechen.

Foto: Salzgeber

Dass Epstein und Friedman mit Annette Eick auch eine lesbische Frau interviewt haben, die nicht durch §175 bedroht war, sondern weil sie Jüdin war, ist exemplarisch dafür, dass der Film nicht die komplette Geschichte des Paragraphen erzählen will, sondern homosexuelle Schicksale während der Nazizeit im Speziellen abbildet. Eick fügt der Perspektive der Männer atmosphärische Eindrücke aus der rührigen Berliner Lesbenszene der Weimarer Zeit hinzu und verdeutlicht mit der Anekdote ihrer Rettung durch den „Loveletter“ einer Freundin, die ihr kurz vor Ausbruch des Krieges Reisepapiere für eine Auswanderung nach England schickte, die Unterstützungssysteme der damaligen Subkultur.

„Paragraph 175“ heute in dem Bewusstsein zu schauen, dass alle, die für das Projekt seinerzeit interviewt wurden, inzwischen gestorben sind, erhöht den Wert ihrer Aussagen zusätzlich. Es waren schon bei der Premiere nicht die Musik (Leitmotiv: „Falling in Love Again“), die Einspieler von historischen Wochenschaubildern oder die charismatische Hollywood-Stimme von Rupert Everett am Off-Mikro, die den Film besonders machten, sondern eben die authentischen Zeitzeugenberichte. Heute, unter den Vorzeichen der Unwiderbringlichkeit, sind sie es umso mehr. Dass der Dokumentarfilm im Gegensatz zu „Große Freiheit“ ohne Märtyrer-Voyeurismus und ein fragwürdig überinterpretiertes Ende auskommt, möge als weiteres Argument dienen, den Film neu oder wiederzuentdecken – ob mit oder ohne Hype.




Paragraph 175
von Rob Epstein und Jeffrey Friedman
US 1999, 75 Minuten, FSK 16,
englisch-französisch-deutsche OF, teilweise mit deutschen UT,
Salzgeber

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VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)


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