David M. Halperin: Was ist schwule Kultur?

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Für Susan Sontag entsteht Kultur, „sooft Sprache, Bewegung, Verhalten oder Gegenstände eine gewisse Abweichung von der direktesten, nützlichsten, unengagiertesten Weise des Ausdrucks und des In-der-Welt-Seins zeigen“. Homosexuelle, denen in einer heterosexuellen Umwelt ein solcher „direkter“ Ausdruck verwehrt bleibt, sind deshalb darauf angewiesen, Kultur zu erschaffen, und sei es in Form der subkulturellen Umdeutung der heterosexuellen Mehrheitskultur. Ob Trash, Divenkult oder ernsthafte Identitätskunst: Schwule sind die Kulturschaffenden schlechthin. Doch der Sexualwissenschaftler David M. Halperin schreibt, Homosexualität ist an die Schwulen verschwendet, weil die ihr Heil vielmehr in einer farblosen Homonormativität suchen. In seinem Essay „Was ist schwule Kultur?“, der jetzt in deutscher Übersetzung bei Männerschwarm erschienen ist, analysiert er Entwicklungslinien und hält ein Plädoyer für offen gelebte Diversität. Egbert Hörmann hat sich mit den Zündstoffen in Halperins Gepäck befasst.

Widerspruch als Überlebensstrategie

von Egbert Hörmann

„Manchmal glaube ich, Homosexualität ist an die Homosexuellen verschwendet“ – Provokation? Weckruf? Manifest? Nostalgisches Lamento eines Stonewall-Oldtimers? Streit- und Kampfschrift? Der Essay „Was ist schwule Kultur?“ von David M. Halperin (Jahrgang 1952), einer der führenden Gestalten der amerikanischen Queer-Studies-Forschung, beschäftigt sich draufgängerisch mit der Frage, was schwule Identität und schwule Kultur heute sind. Sein konservativer Kontrahent Andrew Sullivan („Völlig normal“, 1996) verkündete selbstherrlich ja bereits 2005 endgültig das Ende der schwulen Kultur. Es ist eine Frage, die US-Minoritäten schon seit langem vertraut ist – was ist der Preis der Assimilation an die Mainstream-Kultur? Was konstituiert die kollektive Identität der schwulen Community? Ist etwa Sex der (kleinste) gemeinsame Nenner?

Homosexualität als eine völlig normale Spielart der Sexualität gab es schon immer – Homosexuelle sind nicht von der Natur, sondern von der heteronormativen, sozialen Definition dessen entfremdet, was „natürlich“ ist. Erst am Ende des 19. Jahrhunderts bildete sich – auch aufgrund der wissenschaftlichen Kategorisierung – in urbanen Zentren nach und nach eine dezidiert schwule Kultur heraus, erst dann konstituierte sich gleichgeschlechtliches Verlangen als der Ausdruck eines „Ich“, als schwule Identität, wodurch sich eine Subkultur entwickelte, the pink underground. Schwule Kultur in all ihren Formen half und hilft dem Schwulen dabei, seine Rolle in der schwulen Gesellschaft zu finden, die keine rigiden Fixpunkte hat(te) wie die heteronormative Gesellschaft.

Wie sind die kulturellen Vorlieben schwuler Männer zu erklären? Halperin betrachtet Camp als einen zentralen Schlüssel zum Verständnis der homosexuellen Kultur, quasi als Teil unserer DNA. Aus historischen Gründen (Unterdrückung, Verfolgung, Diskriminierung, Ächtung) haben wir einen genuinen, selbstironischen Humor entwickelt; Leiden kann zu heilendem Lachen sublimiert werden. Camp (durchaus politisch) ist, wie auch die ehrwürdige, äußerst vitale Drag Culture, ein aufsässiger Widerstand gegen die herrschende Kultur, eine Art kultureller Ungehorsam, eine (wenn auch nur implizite) Form der sozialen Kritik. Schwule, da sie ja aufgrund ihrer gesellschaftlichen Situation in (mindestens!) zwei Welten leben, zwei Bezugssysteme gleichzeitig verwenden, durchschauen und verstehen das Spiel der Masken, der Codes, der Künstlichkeiten, der Konstruktion der Geschlechter(rollen) und der Sexualitäten besser als Heterosexuelle. So fordern Schwule allein schon durch ihr Da-Sein die Codes der heteronormativen Kultur heraus und stellen sie in Frage. Schwule eigneten und eignen sich in einem kreativen Akt die Werke der herrschenden Mainstreamkultur an, um sie wieder zu verwenden, deren Codes aufzuheben und für schwule Befindlichkeiten und Zwecke in einem Akt der Ermächtigung neu zu codieren, umzudeuten, zu parodieren, zu recyclen.

David M. Halperin – Foto: Maurice Weiss

Während der neoliberale Sullivan bereits 1993 als die beiden wichtigsten Ziele der Schwulenbewegung den Zugang zum Militär und die Homo-Ehe propagierte, fährt Halperin scharfe Geschütze auf. Er lehnt für sich selbst die Homo-Ehe ab, kritisiert allerdings nicht die Homo-Ehe per se, sondern das Eintreten für eine bestimmte Ethik der Ehe. Richtig so! Die Kernfamilie ist keine Urinstitution, die Heilige Familie ist ein Mythos. Tatsächlich ist das Modell der bürgerlichen Familie und der Liebesheirat historisch betrachtet relativ spät entstanden, was daran lag, dass Männer ein Interesse daran entwickelten, ihr Vermögen und ihren Namen zu vererben. Die traditionelle Ehe ist, alle Statistiken belegen es, ein Auslaufmodell.

Ebenso lehnt er die Forderung nach Zugang zum Militär und zu Kirchenzugehörigkeit ab. Er betrachtet diese Forderungen als „symbolischen Weg, den Tod der schwulen Kultur zum Ausdruck zu bringen oder gar als Versuch, diesen Tod herbeizuführen.“ Paranoia oder weitblickender Scharfsinn – darüber lässt sich jedenfalls trefflich diskutieren.

Halperin hat aber noch weiteren Zündstoffe im Gepäck. Er beobachtet rundum Verspießerung und Duckmäusertum der schwulen Community: „Viele Schwule heutzutage wirken entschlossen, die abgedroschendsten und rückständigsten Werte der heteronormativen Kultur nachzuahmen und zu reproduzieren: Familie, Religion, Patriotismus, normative Geschlechterrollen.“

Weiterhin bedauert Halperin den Rückgang bzw. Verlust einer schwulen Öffentlichkeit (Bars, Cruising-Orte, bestimmte Printmedien etc.), die durch die Gentrifizierung schwuler Stadtviertel, durch die umfassende Kommerzialisierung, Smartphone-Apps, Internet, Digitalisierung und die Bildung virtueller Gemeinschaften herbeigeführt, aber auch – das erkennt Halperin durchaus – ausgeglichen wurde. Das alles beschreibt Halperin von einem dezidiert amerikanischen, weißen, Mittelklasse-Stand- und Blickpunkt aus, was aber durchaus in modifizierter Anpassung auch auf andere Länder übertragbar ist. Die schwule Community steht jedenfalls wie auch der Rest der Gesellschaft vor radikalen sozioökonomischen Herausforderungen.

„Queer wird es immer geben.“ Obgleich Halperin zunächst argumentiert, dass die Zukunft der schwulen Kultur (so wie er sie definiert) recht düster aussieht, beendet er trotz aller kritischen Bedenken und Besorgnis so seinen Essay. Die heterosexuelle, patriarchale, westliche Kultur wird bis auf weiteres die Leitkultur sein, aber unsere Subjektivität wird immer einen Weg finden, sie zu queeren. Das ist tröstlich. Moden kommen und gehen, aber unsere Natur ist unzerstörbar und unsterblich. Wir brauchen, in welcher Form auch immer, weiterhin eine schwule Kultur, da wir in einem heterosexuellen System leben, das die Normen der Gestaltungsmacht bestimmt. Es geht also weiter in unserem kulturellen Kampf. Halperin zuversichtlich: „Der Fortbestand der schwulen Kultur ist ein Zeichen dafür, dass die Sexualität für die soziale Konstitution moderner Subjektivität noch immer eine große Rolle spielt.“ Geschlecht prägt Kultur und beeinflusst soziale und ästhetische Urteile. Unsere „Besonderheit“ ist so nicht nur für die Künste, sondern auch für die kulturelle Produktion im Allgemeinen von Bedeutung. Und, so Halperins letzter Satz seines streitbaren, äußerst anregenden Essays, der auch jüngeren Schwulen als Gay-Pride-Booster sehr zu empfehlen ist: „Was auf dem Spiel steht, ist nicht nur die schwule Kultur. Es ist die Kultur insgesamt.“




Was ist schwule Kultur?
von David M. Halperin
Aus dem Amerikanischen von Joachim Bartholomae
Klappenbroschur, 96 Seiten, € 16,00
Männerschwarm Verlag

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