Normal

Trailer Kino

Jetzt im Kino: In ihrer dokumentarischen Betrachtung „Normal“ befasst sich die italienische Filmemacherin Adele Tulli mit dem Thema Gender – ohne das Gezeigte jemals zu kommentieren. Was mit dem ersten Blick auf das Geschlechtsteil bereits vor der Geburt seinen Anfang nimmt, setzt sich mit Ritualen im Kindes- und schließlich im Erwachsenenalter fort: Wie sich „Mann“ und „Frau“ zu geben haben, muss immer wieder eingeübt werden. Unsere Autorin Beatrice Behn hat „Normal“ für uns gesehen – und darin das Potenzial für eine persönliche Revolution entdeckt.

Foto: missingFILMs

Ausdrückliche Date-Night-Empfehlung

von Beatrice Behn

Das wirklich Geniale an Adele Tullis „Normal“ ist, dass der Film nichts erklärt. Er bildet „nur“ ab und tappt damit nicht in eine klassische Genderfalle, während er ganz viele dieser Fallen bebildert. Denn das ist ja immer so eine Sache, wenn man über das Thema Gender kritisch redet, vor allem, wenn man eine Frau ist bzw. als solche wahrgenommen wird: Man soll und „muss“ sich dann immer ausführlich erklären. Vor allem den Kritikern und Skeptikern gegenüber, die quasi eine nahtlose Beweisführung verlangen, die es eben nicht gibt. Vor allem dann nicht, wenn man ein System zu hinterfragen sucht, das so tief in uns allen steckt, dass selbst die versiertesten Gender-Studies-ProfessorInnen immer wieder reintreten und darin stecken bleiben. Es gibt kein Entrinnen, keine Position außerhalb des Genderkonstrukts und des Patriarchats, aber „Normal“ schafft es sehr klug, mit dieser Problematik umzugehen und mit ihr in Dialog zu treten.

Wenn man denn bereit ist für solch ein Zwiegespräch. Das macht den Film, der nur etwa 70 Minuten dauert, zu einem spannenden Politikum. Dabei erscheint anfangs alles so klein und anekdotisch, dass man zunächst gar nicht erwartet, dass dieser Film gleich die Schwungmasse aufbringen wird, die einem nicht nur geniales Unbehagen bereitet, sondern das Potenzial besitzt, nach dem Sehen einen Denkprozess zu initialisieren, der eine persönliche Revolution in sich trägt. Doch da hat man die Rechnung ohne Tulli gemacht, die sich schon seit Jahren mit  subversiven Repräsentationsstrategien und -ästhetiken im Film beschäftigt und diese hier erfolgreich in der Praxis anwendet.

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Los geht „Normal“ ganz langsam mit ein paar schwangeren Frauenkörpern, die bei der Aqua-Aerobic unter Wasser gefilmt werden. Zappelnde Beine, wogende Bäuche, alle in den gleichen Badeanzügen – und das Versprechen auf ein neues Leben, einen Menschen, dessen Geschichte noch nicht einmal geschrieben ist. Was sich jedoch mit dem ersten Blick auf das Geschlechtsteil schon vor der Geburt ändern soll, beginnt doch hier bereits die Zuteilung, wie sich die vermeintlichen Jungs und Mädchen bald zu geben haben.

Einem kleinen Menschen, höchstens vier Jahre alt, werden Löcher in die Ohren geschossen, in die man dann Ohrringe hängt. Mit diesem plötzlich ganz eigenartig erscheinenden Ritual deklariert man es zum Mädchen und zwar zu einem, das hübsch ist, ganz wie Mutti. Und jetzt soll es sich bitte mal freuen, immerhin hat es ein Kompliment bekommen. Ein anderer Mensch, etwa acht bis zehn Jahre alt, wird daran erinnert, dass er ein Junge ist und deswegen keine Angst haben darf. Danach schickt man ihn, eingepackt wie einen Krieger, auf eine Rennbahn, wo er mit anderen um die Wette fährt, während die Väter draußen „ihre Jungs“ anfeuern im Wettkampf um… ja, was eigentlich?

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Es sind diese kleinen Rituale, die ständigen Markierungen, die „Normal“ zu Beginn aufzeigt und dann immer weiter ins Erwachsenenalter begleitet, wo aus den kleinen Dingen ganz große werden, die in starren Rollen für beide Geschlechter enden, bis sich „Mann“ und „Frau“ wie AntagonistInnen gegenüberstehen. In der Brautberatung erklärt man den jungen Frauen ihre Aufgaben: sich selbst immer makellos halten und immer, wirklich immer für den Mann da sein. Doch die Rolle der Frau, das macht der Film ganz deutlich, ist gekoppelt an die des Mannes. Kurzum, wir sitzen alle im selben Boot, gefangen in rosafarbenen oder blauen Universen. Der Mann sei wie ein Kind, fährt die Brautberaterin fort, die man mit ihren Ideen eigentlich seit den 1950er Jahren als ausgestorben erhofft hatte. Er brauche Liebe, Essen, Kuscheln und Sex. Genau wie eure Babys, die ihr bald haben werdet.

Und wenn man es falsch macht, fügt in einer anderen Episode ein Pastor hinzu, dann geht der Mann fremd. Schuld daran sind dann beide, denn er macht das ja nur, wenn er nicht kriegt, was er braucht. Die Frau als Versorgerin, der Mann als kindlicher Idiot, als Kämpfer, Boxer, Ernährer. Ganz normal halt. Nur dass es, wenn man all diese Rituale so einzeln betrachtet, alles andere als normal ist.

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Den performativen Akt, ganz nach Judith Butler, vermag der Film hier in seinen Alltagsbeobachtungen hervorragend herauszuschälen, da er ihn durch seine Ästhetik noch verstärkt. Die klaren Kadrierungen, die performative Kameraführung und vor allem das Fehlen von Einordnungen jeglicher Art erlauben eine Konzentration auf das Konstruieren dieser vermeintlichen Normalität, die grausam für alle Beteiligten ist. Die Pick-up-Artists in spe, die sich am Wasser treffen, um zu lernen, wie man Frauen führt, weil man der Alpha-Mann ist – sie sind nicht besser dran als die zukünftigen Bräute. Doch ganz so klar ist diese deklarierte Normalität dann doch nicht. Der Film zeigt deutlich, dass die Festigungsrituale ständig und bis ins hohe Alter hinein ins Menschenhirn gestampft werden müssen.

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Spektakulär abwesend in diesem Film sind wiederum all jene, die nicht in diesem „Normal“, das sich schon längst zu einem „Normiert“ gewandelt hat, enthalten sind. Die queeren, die genderqueeren, die trans* Menschen – sie fehlen. Keine People of Color, keine Menschen mit Beeinträchtigungen sind jemals zu sehen. Nur ganz am Ende erlaubt der Film sich eine schwule Hochzeit, die sich in den Riten ganz der heterosexuellen Variante angepasst hat. Ein Neuzugang im „Normalen“, weil er sich den Gesten und Regeln unterordnet. Dieses Ausschlussverfahren hat System. Wer zu den „Normalen“ gehört, wird kaum bemerken, wie viel hier fehlt. Das macht „Normal“ zu einem perfekten Lackmus-Test für das Publikum. Ich empfehle ihn hiermit ausdrücklich als Date-Night-Movie, um späteren Enttäuschungen vorzubeugen. Denn je nachdem, welche Erfahrungen man als ZuschauerIn gemacht hat, wie man erzogen wurde und sich vielleicht inzwischen von dieser Erziehung versucht hat zu befreien, wird man ganz andere Dinge sehen und das Werk anders wahrnehmen und interpretieren.




Normal
von Adele Tulli
I/CH 2019, 70 Minuten, FSK 12,
italienische OF mit deutschen UT,

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Ab 03. Oktober hier im Kino.

 

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