André Aciman: Fünf Lieben lang

Buch

Der Roman „Call Me by Your Name“ machte André Aciman 2007 schlagartig berühmt – und wurde vor zwei Jahren von Luca Guadagnino fulminant verfilmt. Acimans neues Buch heißt im Original „Enigma Variations“, wie der Titel eines Musikstücks von Edward Elgar, Variationen über ein Rätsel. Bei Aciman bedeutet das: Variationen über die Vielfalt der Liebe. Der deutsche Titel lautet etwas prosaischer „Fünf Lieben lang“. Schon Sokrates meinte, der Liebende sei göttlicher als der Geliebte. Unsere Rezensentin Tania Witte meint, von dieser Überlegenheit sei Aciman offensichtlich etwas zu sehr überzeugt, was der Figur seines liebenden Ich-Erzählers nicht gut bekommen sei. Vielleicht ist die Lösung des Rätsels ja ganz einfach: Zur Liebe gehören immer zwei.

Eine Idee von Emotionen

von Tania Witte

Mit zwölf Jahren verliebt sich Paul zum ersten Mal, im italienischen Sommerdomizil seiner Eltern. Das Objekt seiner Begierde ist ein Kunstschreiner, Giovanni, den die Mutter verachtet und der Vater verteidigt. Paul sieht „Nanni“ und verliebt sich in den deutlich älteren Mann, ohne zu wissen, was Verliebtheit heißt, ohne überhaupt allzu viel zu wissen. Jahre später, mit Anfang Zwanzig, kehrt der Ich-Erzähler auf die Urlaubsinsel zurück, betritt alte Pfade, steht vor Ruinen und schwelgt in Erinnerungen. Diese Erinnerungen bilden den ersten Teil von André Acimans Roman „Fünf Lieben lang“.

„Und doch hatte vor langer Zeit in einem Sommer hier mein Leben seinen Anfang genommen, hier, in diesem Haus, das nicht mehr existierte, in diesem Jahrzehnt, das so schnell vergangen war, mit dieser Nimmerliebe, die alles verändert und nirgends hingeführt hat“, reflektiert Paul. (S. 83)

Der Beginn des Romans, der zehn Jahre nach André Acimans Welterfolg „Call Me by Your Name“ erscheint, verspricht viel. Er ist poetisch geschrieben, wie es Aciman kann, und gespickt mit Gerüchen, Bildern, Gefühlen, so lange vergangen, dass sich der sonnengewärmte Staub beim Lesen mitüberträgt. Ein Sinnesrausch mit Beigeschmack. Denn schon in dieser ersten der fünf Liebesgeschichten im Leben des Paul zeichnet sich ab, was den Mann, den die Lesenden auf den folgenden Seiten begleiten werden, ausmacht: Er reflektiert sich selbst.

Wenig sonst.

Er reflektiert nicht die Klassenunterschiede, aufgrund derer Nanni ihm die Aufmerksamkeit und die Zeit, die er von ihm einfordert, nicht verweigern kann. Nicht seine Privilegien und nicht die Abhängigkeiten, deren Nutznießer Paul ist, nicht die Lügen, mit denen er den angebeteten Angestellten verleumdet.

Nur sich selbst.

Und diesem Mann folgen wir fortan auf seiner Suche nach Liebe und danach, diese Liebe zu leben. Wir erfahren von seinen Verliebtheiten – Lieben? –, die sich überschneiden, die fließen und hakeln, die zweijährige Anbahnungsphasen beim allmorgendlichen Tennisspiel brauchen (Manfred) oder vierjährige Pausen wie bei seiner Collegeliebe Chloe, kurzen und unerfüllten Lieben (Heidi) oder längeren und seltsam surrealen wie der zu Maude. Die sich verstricken und verknüpfen und doch zumeist Pauls Selbstspiegelung dienen. Dass Paul seine Ehefrau nicht zu seinen Lieben zählt, ist der letzte Punkt einer wenig schmeichelhaften Charakterstudie, die André Aciman hier vorlegt.

André Aciman – Foto: Sigrid Estrada

Je weiter das Buch fortschreitet, desto mehr stellt sich die Frage: Hat Aciman diesen verkopften, selbstzentrierten Protagonisten bewusst unsympathisch geschrieben?

Es scheint nicht so. „Ein sinnliches und intimes Porträt eines unerschrocken Begehrenden, der anderen Menschen außergewöhnlich nahekommt“, schwelgt der Verlag. Und oh ja! Paul begehrt, viele Menschen und mehrere gleichzeitig, und auf den ersten Blick scheint das Verlagsversprechen damit bestätigt, bis die Ernüchterung eintritt, denn Paul kommt anderen Menschen nicht nahe. Alles, was er tut, ist, sich selbst in seinem Begehren für sie nahe zu kommen. „Der Mensch wird am Du zum Ich“, hat der Religionsphilosoph Martin Buber schon 1923 konstatiert; man kann Pauls Dilemma nicht treffender umschreiben. Ohne ein Du, ein begehrenswertes Gegenüber, scheint das Ich Pauls nicht zu existieren.

Der zweite Teil des Romans, der die Liebe zum schönen, deutschstämmigen Manfred erzählt, beginnt mit den Worten „Ich weiß nichts über dich“, und was folgt ist ein seitenlanger Liebesbrief, ein literarischer Genuss. Sprachgewaltig und originell, pragmatisch und komplex, banal und poetisch. Und doch steht in ihrem Zentrum nicht der Angebetete, sondern der Anbetende.

Aciman kann und will viel, doch am Zuviel scheitert er gelegentlich. Zu dringlich will er seine Bildung unterbringen, wie es bei „Call Me by Your Name“ noch bereichernd war – all die Anspielungen, all das Namedropping und die Anrufung großer Schriftsteller*innen und Philosophen, Homer, Joyce, Orwell, jaja. Auf den letzten Seiten des Buches erleben wir, wie sich der alternde Paul in die junge Heidi verliebt und ihr und ihrer Jugend wenig mehr entgegenzusetzen hat als eine Aneinanderreihung von gelerntem, erarbeitetem Wissen, protzig vor sich hergetragen wie ein Schutzschild, wie er Emotionen totdenkt und sie nur im Kopf fühlen zu können scheint. Wie diese Unfähigkeit zu lieben in den seitenlangen Abhandlungen über eine längst vergessene Mezzosopranistin kulminiert – es schmerzt. Es schmerzt, weil Paul wenig gelernt zu haben scheint, obwohl er doch sehr viel weiß.

Weil er trotz all der Dus seinem Ich noch immer nachzujagen scheint.

Acimans neues Buch wirft Fragen auf, große, drängende. Das Kapitel zu Chloe durchkaut das Thema: Was ist Liebe? Wie gestaltet sie sich und wie ist sie gestaltbar? Was ist konform und was frei gewählt, was wäre, wenn dieser Weg statt jenes genommen worden wäre. Diese Liebe statt jener. Dieses Leben statt jenes. Doch so spannend die Frage ist, so träge ist ihre Bearbeitung, und es gibt keine Antworten, kann es gar nicht geben, also bleiben Plattitüden und eine Spirale, die sich dreht und dreht und dreht. Wird Paul an seinem Lebensende sagen können, den von Edith Wharton beschriebenen „Wein des Lebens“ gekostet zu haben, den Aciman als Metapher so tief implantiert?

„Fünf Lieben lang“ erzählt die Geschichte eines privilegierten Jungen, der wichtig sein will, immer nur wichtig, für seinen Vater erst, dann für den schönen Giovanni, für Chloe und seinen Professor, für Maude, für Manfred, für Heidi, und doch eigentlich vor allem für sich selbst. Und wenn er wichtig geworden ist, geht er und lässt die anderen zurück, sucht seine Bedeutung anderswo. Das ist schade und möglicherweise nicht intendiert, was die Geschichte umso trauriger macht.

Dieses Buch ist perfekt konstruiert, es protzt mit Intellekt und Sprachgewalt, streut hin und wieder literarische Perlen – und doch wabert es zäh, bleiben die Charaktere matt und fern. Was nah kommt, ist die Idee von Emotion. Was nah kommt, sind Gedanken, nicht Gefühle, ist das Innere von Pauls Kopf, das sich um die Welt dreht und doch nicht über ihn selbst hinauswächst.
 



Fünf Leben lang
von André Aciman
Aus dem amerikanischen Englisch von Christiane Buchner
Hardcover
, 348 Seiten, 22 Euro,
DTV

 

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