Nevrland: Interview mit Gregor Schmidinger

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Ab heute im Kino: In seinem ersten Langfilm „Nevrland“ erzählt der österreichische Drehbuchautor und Regisseur Gregor Schmidinger voller Bildgewalt von dem 17-jährigen Jakob, der mit seinem Vater und Großvater in einer kleinen Wiener Wohnung lebt und in einem Schlachthof jobbt. Während er unter einer zunehmenden Angststörung leidet, lernt der Teenager in einem Sex-Cam-Chat den 26-jährigen Künstler Kristjan kennen. Die Grenzen zwischen Realität und Fantasie scheinen dabei für Jakob immer mehr zu verschwimmen… Unter anderem auf dem Filmfestival Max Ophüls Preis und auf der Diagonale wurden Schmidinger und sein Hauptdarsteller Simon Frühwirth bereits ausgezeichnet. Im Interview mit uns spricht Schmidinger über queere Repräsentanz im Film, über die Entstehung und den Umgang mit Angst – sowie über das (metaphorische) Finden einer Blume in einer abgebrannten Landschaft.

Foto: Edition Salzgeber

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Interview: Andreas Köhnemann

Im Zusammenhang mit Deiner Arbeit ist häufig von der schwulen Perspektive und auch von einer Post-Gay-Perspektive die Rede…

Die schwule Perspektive ist ganz einfach meine Perspektive auf das Leben. Es braucht eine Repräsentanz queerer Perspektiven in allen Medien, weil diese Perspektiven prozentual immer noch sehr unterrepräsentiert sind. Ich hätte mir in meiner Jugend auch mehr queere Figuren gewünscht. Ich finde es immer so lustig, wenn vor allem Hetero-Männer sagen, dass sie sich so schwer damit tun, weil sie sich da nicht hineinversetzen können. Da denke ich mir: Sorry, ich musste in meinem Heranwachsen bei etwa 95 Prozent von Büchern, Filmen, Bildern die Hetero-Perspektive für mich übersetzen – also werdet ihr das auch mal hinkriegen! (lacht) Besonders spannend finde ich dann die Post-Gay-Perspektive – das meint, dass nicht mehr die sexuelle Orientierung der zentrale Konflikt ist, wie wir es zum Beispiel aus dem Coming-out-Genre kennen. Wobei dieses Genre zweifelsohne auch weiterhin wichtig ist. Es gibt diese kritischen Stimmen, die sagen: „Das haben wir doch schon gesehen!“ Dann entgegne ich: Vielleicht habt ihr das schon gesehen, aber es kommen ja konstant neue Generationen nach, die immer wieder damit zu tun haben, auch wenn ein Coming-out mittlerweile leichter wird. Dennoch braucht es eben auch andere Geschichten mit queeren Figuren. Mit dem Coming-out hört es ja nicht auf.

Gab es in Deinem Heranwachsen queere Figuren, die Du als gelungen empfunden hast und die Dir besonders wichtig waren?

Wenn es denn früher mal queere Figuren gab, war es entweder der leidende Schwule, der unter seiner Sexualität litt und selbstmordgefährdet war – wobei ich zugeben muss, dass ich in meinem Kurzfilm „Homophobia“ etwas Ähnliches gemacht habe. Oder es war die lustige „Tucke“, die zur Bespaßung aller diente. Und dazwischen war es sehr dünn besiedelt. Mit Vorbildern war es echt schwierig. „Fight Club“ war immer ein Lieblingsfilm von mir – und da habe ich als Jugendlicher zumindest schon homosexuelle Untertöne wahrgenommen, die ich spannend fand, auch wenn es nicht so klar ausgesprochen wurde. Ein großer Bruch bezüglich queerer Figuren war für mich erst später, als ich schon in meinen Zwanzigern war, die Serie „Glee“, weil sie in der Abbildung der Figuren differenzierter war.

Gregor Schmidinger – Foto: Edition Salzgeber

Ein wichtiges Thema in „Nevrland“ ist unverkennbar die Angst…

Ja, Angst ist das große Überthema von „Nevrland“ – und Angststörung das Spezifikum. Weil ich selbst etwa zwischen dem 20. und dem 29. Lebensjahr damit zu tun hatte. Der Film war für mich die Möglichkeit, mich mit etwas Abstand künstlerisch damit auseinanderzusetzen. Was auch zu meiner Aufarbeitung beigetragen hat. Angst hat ja immer mit Kontrollverlust zu tun, mit dem Gefühl, dem eigenen Körper oder einer Situation ausgeliefert zu sein. Wenn man einen Film über Angst macht, hat man hingegen die absolute Kontrolle: Ich entscheide, was in diesem Film passiert und wie sich etwas manifestiert. Sich dem Ganzen so anzunähern, war hilfreich für mich.
Mittlerweile ist Angststörung die am meisten diagnostizierte psychische Belastung in der westlichen Gesellschaft. Das liegt wahrscheinlich an vielen Dingen – zum Beispiel daran, dass geopolitisch alles immer unsicherer wird. Und dann bestimmt auch an der Art und Weise, wie wir heute kommunizieren, etwa mit unseren Handys und in den sozialen Medien, die ich selbst sehr stark nutze. In dem Sachbuch „Digital Minimalism“ von Cal Newport wird erklärt, dass uns seit der Smartphone-Revolution sogenannte Leerphasen fehlen. Wenn man früher zum Beispiel auf den Bus gewartet hat oder unterwegs war – also in diesen Transit-Phasen –, gab es Leerlauf-Momente, die für das Gehirn wohl extrem wichtig sind, um Erlebtes noch mal zu reflektieren und Emotionen zu verarbeiten. Diese Phasen fehlen uns zunehmend, während das Bedürfnis, Dinge zu verarbeiten, ja nicht einfach verschwindet. Deshalb häuft sich das an – und manifestiert sich irgendwann in einer Überforderung.

Foto: Edition Salzgeber

Der Film thematisiert verschiedene Wege, der Angst zu begegnen – etwa durch eine Psychotherapie.

Das ist extrem wichtig. Mir wurden damals Antidepressiva verschrieben. In manchen Fällen – wenn die Angst eine biologische Ursache hat, also mit einem hormonellen Ungleichgewicht zu tun hat – ist das wahrscheinlich der einzige Weg, das nachhaltig zu behandeln. Bei einer psychologischen Ursache muss es aber eine Auseinandersetzung damit geben, um damit umgehen zu können und es im Idealfall wieder loszuwerden. Anfangs kann so eine Medikation zur Stabilisierung gut sein, wenn man wirklich komplett überfordert ist. Aber ich wollte die Antidepressiva damals irgendwann nicht mehr nehmen, weil ich gemerkt habe, dass sie mich in meinem Wesen verändern.
Psychotherapie ist immer noch so ein schambehaftetes Thema. Da schwingt immer mit: Es stimmt etwas nicht mit dir! Auch wenn ich merke, dass sich das in meiner Generation ändert. Ich finde es sogar sinnvoll, prophylaktisch in eine Therapie zu gehen – wobei das natürlich eine Kostenfrage ist. Aber gerade in unserer heutigen Zeit, in der es kaum die Möglichkeit gibt, selbst zu reflektieren, und in der diese Leerläufe fehlen, ist so eine unbeteiligte Person, die objektiv auf deine Situation schauen kann, sehr hilfreich. Gerade bei einer Angststörung, aber auch generell. Ich glaube, das Thema „emotional education“ wird noch viel größer werden in den nächsten Jahrzehnten. Es gibt einfach noch keine Kultur dafür: Niemand sagt dir, wie du mit deinen Gefühlen umgehen und wie du sie integrieren kannst. Ich bin auch der Meinung, dass ab der Grundschule oder vielleicht schon ab dem Kindergarten Meditation unterrichtet werden sollte. Das war für mich eines der wichtigen Werkzeuge: Du lernst, mit dir in Ruhe zu sitzen.

Foto: Edition Salzgeber

Der Therapeut in „Nevrland“, den der Protagonist Jakob aufsucht, ist allerdings leider extrem empathielos…

Ja, das war natürlich eine dramaturgische Entscheidung. Es ging darum, Jakob das erste Mal ein bisschen anzustoßen und ihn einen Schritt weitergehen zu lassen, als er normalerweise gehen würde. Lustig ist, dass ich selbst in meiner Therapie diese Übung gemacht habe, die Jakob im Film mit dem Therapeuten macht. Und mein Therapeut war bei der Wien-Premiere von „Nevrland“ und hat mich danach gefragt, ob ich das denn als so übergriffig erlebt habe. Aber ich habe ihm erklärt, dass das eine filmische Notwendigkeit war, um Dinge sichtbar zu machen.

Als sehr brutal habe ich auch den Moment empfunden, in dem der Vater von Jakob die Tablettenbox des gerade verstorbenen Großvaters einfach so achtlos in den Mülleimer wirft.

Ja – der Vater gehört zu einer Generation, die nicht die Möglichkeit hatte, sich mit den eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen, ja Gefühle überhaupt zuzulassen. Ich wollte das gar nicht verurteilen. Diese Generation wurde einfach in einer Zeit geboren, in der es wenig Verständnis für diese Ebene gab. Und ich habe auch versucht, diese Hilflosigkeit des Vaters in dem kurzen Gespräch mit Jakob nach dem Begräbnis des Großvaters darzustellen. Aber Vater und Sohn befinden sich einfach in zwei so unterschiedlichen Welten: Fußball gegen den Rand des Universums… (lacht) Der Vater kann gar nicht verstehen, welche Bedeutung der Großvater für Jakob hatte. Mir und auch Josef Hader, der den Vater spielt, war wichtig, dass es nicht einfach „der böse Vater“ ist. Es ist eine tragische Situation, dass Vater und Sohn nicht miteinander reden können, aber gemeinsam in diesem „ökonomischen Verbund“ leben müssen.

Foto: Edition Salzgeber

Auffällig ist in „Nevrland“ noch die Abwesenheit von Frauenfiguren. Was hat es damit auf sich?

Das ist eine konsequente Reflexion des Mutterthemas. Wir haben den Großvater, den gefallenen Patriarchen, der zu seinem Sohn – Jakobs Vater – keine Beziehung aufbauen konnte. Jakobs Vater hat unter diesem Patriarchat gelitten, konnte jedoch nie aus diesem Schatten heraustreten. Und Jakob ist der Einzige, der Empathie besitzt und deshalb auch für den Großvater sorgt, beinahe etwas Mütterliches hat. Das Weibliche wird in „Nevrland“ in erster Linie über die auditive Ebene vermittelt – über eine Telefonstimme oder über das autogene Training –, um immer wieder einen Hinweis darauf zu geben, dass etwas fehlt.

Dann gibt es aber auch diese sehr schönen, romantischen Momente zwischen Jakob und Kristjan. Worauf kam es Dir bei der Schilderung der Liebesbeziehung zwischen den beiden an?

Ich finde es immer spannend, sozusagen die eine Blume in einer abgebrannten Landschaft zu finden. Vor allem viele Frauen haben mir gesagt, dass sie diesen Kussmoment zwischen Jakob und Kristjan so schön fanden – weil plötzlich so etwas Verbindendes, Fürsorgliches, Intimes, Zärtliches in dieser extrem harten Welt passiert. Das kann man vermutlich nur so wahrnehmen, wenn es im Film als Kontrast dazu diese Brutalität gibt. Und diese Beziehung ist natürlich „larger than life“ – eine Fantasie, die man sich wünscht. Romantische Komödien enden ja immer genau an dem Punkt, an dem alles super ist. Aber bei „Nevrland“ geht es weiter.

Foto: Edition Salzgeber

Die beiden lernen sich ja auf virtuellem Wege, via Chat kennen…

Das hat natürlich auch direkt etwas sehr Sexuelles: lauter nackte Oberkörper – aber oft keine Gesichter dazu. Ich kenne viele, die ein Sexdate nach dem anderen haben, sich aber eigentlich nach Nähe, Geborgenheit und Intimität sehnen.

Du bist ja auch Mitgründer des „Porn Film Festival Vienna“. Was ist Dir in der filmischen Vermittlung von Sexualität wichtig?

Das Thema Pornografie wird, gesamtgesellschaftlich betrachtet, immer noch sehr schwach behandelt. Wenn man bedenkt, welchen großen Raum es einnimmt – und wie wenig darüber gesprochen wird. Vor ein paar Jahren habe ich mich auch im „Sex God Project“ mit der Frage auseinandergesetzt, wie mich Pornografie in meiner Sexualität und Wahrnehmung beeinflusst. Und da habe ich schon sehr viel verstanden, was mir bis dahin nicht klar war. Zum einen wie regelmäßiger Pornokonsum biochemisch zu Veränderungen führt, im Dopaminsystem, was sich dann auch in der sexuellen Begegnung mit einer anderen Person ausdrückt, weil natürlich eine Person nie mithalten kann mit der quasi unendlichen Anzahl an virtuellen Partnern und Situationen, auf die man sich konditioniert. Und zum anderen wie Vorstellungen entstehen, wie Sexualität ausschaut und sein muss. Es ist wichtig, einen öffentlichen Raum zu schaffen, um darüber zu diskutieren – und auch eine Bühne zu bieten für sexuelle Orientierungen und Identitäten, die im Mainstream komplett untergehen.


sissy-Besprechung zu „Nevrland“: „Zwischen Angst und Verheißung“ von Sebastian Markt




Nevrland
von Gregor Schmidinger
AT 2019, 90 Minuten, FSK 16,
deutsche Fassung & deutsch-englische OF, teilweise mit deutschen UT,
Edition Salzgeber

Ab 17. Oktober hier im Kino.

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