Ocean Vuong: Nachthimmel mit Austrittswunden

Buch

Lyrik gilt als Feinschmecker-Literatur, an die sich nur wenige Verlage wagen. Wenn der Autor bereits einen Bestseller geschrieben hat, verbessert das allerdings erheblich die Chancen auf eine Veröffentlichung. Nach seinem gefeierten Roman „Auf Erden sind wir kurz grandios“ ist nun auch Ocean Vuongs erster Gedichtband „Nachthimmel mit Austrittswunden“ in einer zweisprachigen Ausgabe in Deutschland erschienen. Unser Autor Matthias Frings ließ sich von Vuongs dezidiert queerer Poesie begeistern.

Weit mehr als nur „kurz grandios“

von Matthias Frings

Im Jahr 2019 zog ein junger Amerikaner mit dem Roman „Auf Erden sind wir kurz grandios“ einen großen Teil des Scheinwerferlichts des Feuilletons auf sich: Die Geschichte von Little Dog, einem zarten, klugen, armen Jungen, aufgewachsen zwischen Vorstadtghetto, Nagelstudio, häuslicher Gewalt und Medikamentenmissbrauch. Ein explizit queeres Buch obendrein, das nach Inhalt und Form weit von jeder Flughafen-Literatur entfernt war und so gut, dass es über sämtliche Grenzen hinweg – sprachliche, kulturelle, sexuelle – auf begeisterte Leser wie Kritiker stieß. Dieser Autor wurde gehört und verstanden trotz oder wegen seiner sehr speziellen Vita.

Nicht unwesentlich geholfen bei der Promotion hat sicher das stylische Autorenfoto des jungen Mannes mit dem golden baumelnden Ohrring. Das roch verdächtig nach einem von Marketingexperten smart für die Modethemen der Zeit kreierten Erfolgsautor: Migrationshintergrund, „Crazy Poor Asians“, Opioidkrise, Klassenfragen und queere Ismen. Aber Vorsicht: Dafür war der Mann nicht zu haben. In seinen eigenen Worten: „Ich will keinen Touristenführer schreiben, ich will Kunst machen.“ Und das hat er mit seinem Roman getan. Wie bei Garth Greenwells Stricherroman „Was zu dir gehört“ oder aktuell bei Lutz Seiler mit „Stern 111“ merkte man seiner Prosa sofort an, dass sich hier jemand in den Text kniet, der von Haus aus Lyriker ist: Dieses gespitzte Ohr für Fluss, Klang und Gehalt. Jedes Wort scheint einzeln bedacht worden zu sein. Manche Passagen sind wie mit der Pinzette appliziert.

Und tatsächlich hat Vuong in den USA zunächst als Lyriker Aufmerksamkeit erregt, nach ersten Gedichtveröffentlichungen in so renommierten Blättern wie New Republic, New Yorker und der Times kam im Jahr 2016 seine Gedichtsammlung „Night Sky With Exit Wounds“ heraus, die mit dem T.S.-Eliot-Preis ausgezeichnet wurde. Nun liegt sie – gewissermaßen als Nachschlag zum Roman – auch auf Deutsch als „Nachthimmel mit Austrittswunden“ in einer zweisprachigen Ausgabe vor. Man muss „Auf Erden sind wir kurz grandios“ nicht gelesen haben, aber wer das Buch kennt, hat das Vergnügen, einen Roman vor seiner Verpuppung zu begutachten. Sämtliche Motive und Figuren kommen auch hier schon vor, lyrisch verdichtet natürlich: der Vietnamkrieg, die Emigration in die USA, das Leben mit Mutter und Großmutter in ärmsten Verhältnissen, häusliche Gewalt, die Liebe zu Männern und zur Sprache.

Ocean Vuong – Foto: Tom Hines

Thematisch setzt der erste Teil der Gedichtsammlung in seiner kriegsgeplagten Heimat an, einem von Gewalt, Hunger, Missbrauch und Flucht geschüttelten Land. Die Flucht des lyrischen Ichs führt über ein Flüchtlingslager auf den Philippinen schließlich in die USA. Die so sehr gegenwärtigen Schrecken des Krieges verwundern bei einem Autor, der im Alter von zwei Jahren in die USA kam und selbst angibt, keinerlei Erinnerungen an Vietnam zu haben. Und doch sind die Gedichte Ausdruck davon, dass niemand seiner Vergangenheit entkommt, dafür, dass Geschichte in uns weiterwühlt und dass wir sie – ob gewollt oder nicht – weitergeben an die nächste Generation. Auf den Punkt bringt Vuong das in einem Gedicht über seinen Vater, „Telemachus“:

„Wie jeder gute Sohn ziehe ich meinen Vater aus
Dem Wasser, schleife ihn an den Haaren

Durch weißen Sand, seine Knöchel graben eine Spur
Die Wellen blindlings auslöschen. Weil die Stadt

Jenseits der Küste nicht mehr da ist
Wo wir sie zurückließen. (…)“

Und etwas später heißt es:

„(…) Das Gesicht
Nicht meines – doch eins, das ich tragen werde,
wenn ich all meine Geliebten zur Nacht küsse.“

Vuong entfaltet ein Inferno, in dem alles in Bewegung ist. Panzer rollen, Helikopter patrouillieren, Militärlaster knattern, nur die Menschen haben nichts als ein Fahrrad, ein Pferd, ihre Füße. Doch die Verheerungen des Vietnamkrieges halten für ihn auch eine ironische Geschichtslektion bereit, die er ungewohnt nüchtern auf den Punkt bringt:

„Ein amerikanischer Soldat fickte ein vietnamesisches Bauernmädchen.
Deshalb gibt es meine Mutter.
Deshalb gibt es mich. Deshalb keine Bomben = keine Familie = kein Ich.“

Nüchtern ist sein Ton sonst nur in einem Abschnitt, den er „Notizbuchfragmente“ nennt, eine Ansammlung versprengter Beobachtungen und Einfälle. („Heute Morgen O-Saft auf dem Tisch umgegossen. Plötzliches Sonnenlicht, das ich nicht wegwischen konnte.“) Ansonsten haben wir es mit einer in jeder Hinsicht erlesenen Sprache zu tun. Auf den ersten Blick nicht unzugänglich, zeigen die in freien Rhythmen geschriebenen Zeilen beim schlichten Überfliegen ihre Krallen. Man muss beim Lesen den Puls nach unten bringen, den Kopfraum weit zum Himmel öffnen, um die Schallräume dieser Verse zu erfassen. Mit sicherer Hand nimmt sich hier jemand das Wort, und doch verliert man leicht den Boden unter den Füßen und tut gut daran, sich diesem leichten Schwebezustand einfach zu ergeben, dem Autor schlicht zu folgen in seiner äußerst ernsten Gelassenheit.

Im zweiten Teil der Sammlung werden wir Zeugen eines Entwicklungs- und Bildungsprozesses, beginnend mit Lektion Nummer eins: die neue Sprache.

abc abc abc

Doch ich kann den vierten Buchstaben sehen:
Eine schwarze Haarsträhne – gelöst
aus dem Alphabet
& geschrieben
auf ihre Wange“

Die Mutter, Analphabetin bis heute und nicht in der Lage, die Bücher ihres Sohnes zu lesen, schaffte damals nur die ersten drei Buchstaben, doch der kleine Ocean dachte schon weiter, buchstabierte sich in seine Zukunft.

Bemerkenswert, mit welcher Mischung aus Chuzpe, Selbstermächtigung und Travestie der Autor sich in den amerikanischen (Alb)Traum einschreibt. Mit seinem Geliebten zusammen imaginiert er sich als Jackie und Jack an jenem fatalen Tag im offenen Wagen in Dallas. („Sie stehen Spalier an der Straße und schreien unsere Namen.“) Doch dann finden sich Blutflecke auf dem Fuchsiakleid.

Es wird nicht bei einem einzigen Kleid bleiben, in dem das lyrische Ich leidet und tanzt und ganz gewiss nicht bei nur einem Geliebten. Schon im Roman irritierte und begeisterte – je nachdem – der unbedingte Wille, alles an seinem schwulen Begehren zur Sprache zu bringen, auch und gerade Beschreibungen expliziter Sexualität. Ganz klassisch auf dem Baseballfeld hinter der Spielerbank – auch hier Americana wie aus dem Bilderbuch – geht es zur Sache:

„Pissegestank steigt aus nassem Gras auf
Schließlich ist Juni & du bist jung
bis September sieht er anders aus
als sein Bild aber das macht nichts
weil du deiner Mutter einen Kuss
auf die Wange gabst bevor du bis hierher
kamst weil der dunkle Hosenschlitz reicht
um durch den Reißverschluss einen dünnen Schrei zu hauchen“

Es gibt eine „Ode an die Masturbation“, und wo wurde je poetischer das Schnalzen des Elastikbundes einer Unterhose kurz vor dem Sex verewigt? Das wiederum gehört in das große Mythenbuch der homosexuellen Nation. Hier äußert sich ein genuin queeres Verlangen. Sexualität ist nicht aufgeschwemmt zur Erotik, sondern hat wie im echten Leben mit Macht und Unterwerfung zu tun. Gewalt und Begehren sind Vuong lediglich zwei Ausdrucksformen von Intimität. Aus Karrieregründen abschwatzen ließ er sich die ausführliche Beschreibung lustvoller wie schmerzlicher Körperlichkeit nicht, danke, und wurde ergo zum Posterboy der queerkulturellen Crème de la crème, als Immigrant, Asiat, Unterklasse, schwuler Mann. Und man muss hinzufügen: Poet.

Es war eine ausgezeichnete Entscheidung des Hanser Verlags, die Gedichte in einer zweisprachigen Fassung herauszubringen. Das ermöglicht jederzeit eine Art Gegenprobe, auch und gerade hilfreich für diejenigen, deren Englisch passabel, aber nicht lyrikfest ist. Für eine Übersetzerin mag es schwierigere Fälle als Ocean Vuong geben – alles, was in Reim und Metrum gebunden ist beispielsweise –, leicht ist es dennoch nicht. An Lyrik kann man bei einer Übertragung allemal nur mehr oder weniger scheitern. Ich finde, dass Anne-Kristin Mittag, die auch schon den Roman übersetzt hat, ihre Aufgabe engagiert meistert. Vielleicht greift sie etwas oft ins höhere Register, wenn ein Wort, ein Ton, eine Bedeutung näher an alltäglicher Sprache zur Verfügung gestanden hätte – eine Kritik, die auch schon bei der deutschen Fassung des Romans zu hören war. Vuong neigt allerdings auch zu kostbaren Sentenzen und mythischen Sprechweisen. Man darf sich vielleicht wünschen, dass er durch seinen Ruhm nicht gar zu „heilig“ wird. Zu wünschen ist auch, dass die Gedichtsammlung viele Leser findet und zu danken bleibt dem Verlag für das Wagnis, überhaupt einen Lyrikband ins Programm zu nehmen.




Nachthimmel mit Austrittswunden
von Ocean Vuong
Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag
Zweisprachige Ausgabe (dt./engl.)
Kartoniert, 176 Seiten, 19 €,
Hanser Verlag

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