Mysterious Skin (2004)
Trailer • DVD/VoD
Zwei Jungen, zwei Wege: Der eine wird zum Verschwörungstheoretiker, der andere fängt irgendwann an, sich älteren Männern gegen Geld zum Sex anzubieten. „Mysterious Skin“ von Gregg Araki erzählt die Geschichte von Brian und Neil, deren gemeinsame Kindheit ein dunkles Geheimnis birgt. Während Brian versucht, seine verdrängte Vergangenheit durch Ufo-Fantasien zu verarbeiten, begegnet Neil ihr mit verklärter Direktheit. Ein schmerzhafter, verstörender Film über junge Menschen, die den Grausamkeiten, der Ignoranz und der Schwäche der Erwachsenen mit gegenseitiger Fürsorge begegnen. Die Geschichte eines Missbrauchs wird hier ganz aus der Perspektive der Opfer erzählt. „Mysterious Skin“ sei hart und erschütternd, schreibt Andreas Köhnemann. Aber nicht ohne Hoffnung.

Bild: Camera Obscura
Bilder für das Unaussprechliche
Vor mehr als 30 Jahren fasste die amerikanische Akademikerin und Filmkritikerin B. Ruby Rich in einem Essay eine Reihe von Filmen, die damals auf Festivals für Furore sorgten, unter dem Begriff „New Queer Cinema“ zusammen. Verwegen, energiegeladen, mal minimalistisch, mal exzessiv und vor allem „full of pleasure“ seien diese Filme: „They’re here, they’re queer, get hip to them.“ Neben Todd Haynes („Poison“, 1991), Gus Van Sant („My Own Private Idaho“, 1991) und Tom Kalin („Swoon“, 1992) zählte Rich etwa auch den 1959 in Los Angeles geborenen Gregg Araki mit seinem Roadmovie „The Living End“ (1992) zu den Vertreter:innen dieser Strömung.
Arakis dritter Langfilm nach den Micro-Budget-Produktionen „Three Bewildered People in the Night“ (1987) und „The Long Weekend (O’Despair)“ (1989) entspricht in seiner ruppig-kompromisslosen Art exakt der Beschreibung von Rich. Das flüchtende schwule Duo, das im Zentrum von „The Living End“ steht, wird von Araki bewusst als unmoralisch gezeichnet; die beiden einander liebenden Protagonisten zeigen überhaupt kein Interesse daran, von irgendwem sonst gemocht zu werden. Statt seine queeren Hauptfiguren zu vermeintlich „geeigneten“ Hollywood-Helden zu machen und sie im Sinne einer möglichst leichten Eingliederung ins Mainstream-Kino der Norm anzupassen, fordert der Drehbuchautor und Regisseur das Publikum mit seinem von Wut und Lust durchdrungenen Film kühn heraus.
Im Lauf der 1990er Jahre ließ Araki darauf die sogenannte „Teenage Apocalypse Trilogy“ folgen, bestehend aus „Totally F***ed Up“ (1993), „The Doom Generation“ (1995) und „Nowhere – Eine Reise am Abgrund“ (1997). Der queere Coming-of-Age-Kosmos, den er darin entwirft, ist von knalligen Farben und von hochartifiziellen Dekors geprägt, die dem Geschehen, noch verstärkt durch den melancholischen „Shoegazing“-Soundtrack, stets etwas Traumhaft-Unwirkliches verleihen. Hinzu kommt, insbesondere im zweiten und im finalen Teil der Trilogie, ein komisch-groteskes Spiel mit Genre-Elementen.
Araki visualisiert die amourösen und libidinösen Irrungen und Wirrungen seiner adoleszenten Anti-Held:innen unter anderem mit abgetrennten Körperteilen, die ein bizarres Eigenleben entwickeln, mit einer umherwandelnden (Gummikostüm-)Echse, die diverse Menschen per Laserpistole aus dem urbanen Umfeld verschwinden lässt, und mit der kafkaesken Verwandlung einer potenziellen Love-Interest-Figur in einen extraterrestrischen, sprechenden Riesenkäfer, der sich rasch mit den Worten „I’m outta here!“ aus dem Staub macht. Treffender und schmerzvoller lassen sich die (Verlust-)Ängste und die bitteren Enttäuschungen des Erwachsenwerdens wohl nicht ins Filmische übertragen.
„My films are frequently about the search for this utopian idea of love and connection in this chaotic and disconnected world“, sagte Araki in einem Interview. Zorn und Zärtlichkeit – beides existiert in seinem Œuvre, ist fest ineinander verschlungen. Als er sich im Anschluss an die etwas unbekümmertere Screwball-Variante „City, Friends & Sex“ (1999) im Jahr 2004 erstmals einer Roman-Adaption (statt eines eigenen Original-Skripts) zuwandte und hierfür einen Stoff wählte, der vom sexuellen Missbrauch zweier Achtjähriger erzählt, war dies gewiss kein erwartbarer Schritt in seinem Werdegang als Filmemacher.

Bild: Camera Obscura
Verblüffend ist jedoch, dass in „Mysterious Skin – Unter die Haut“ (2004) in jedem Bild die künstlerische Handschrift von Araki zu erkennen ist – und zugleich der Ton sowie, noch wichtiger, die Seele des gleichnamigen, 1995 veröffentlichten Romans von Scott Heim perfekt eingefangen wird. Die Musik und die dadurch erzeugte Atmosphäre, die detailreiche, herrlich bunte Ausstattung, der präzise Einsatz von Licht, von Nah- und Großaufnahmen und von Schwarzblenden – all das ist die etablierte Araki-Manier. Gleich zu Beginn, während der Vorspann läuft, regnet es Froot Loops zu den Dream-Pop-Klängen von Slowdive, wie in der MTV-Version eines Märchens. Diese bewährten Mittel stellt der Regisseur hier in den Dienst einer Geschichte, die damit zunächst völlig unvereinbar erscheint. Das Ergebnis ist aber derart stimmig und wuchtig (ja geradezu zwingend), dass kein Zweifel an der Kombination von Heims Schreib- und Arakis Inszenierungsstil bleibt.
Geschildert wird das Heranwachsen von Brian Lackey und Neil McCormick, die im Sommer 1981, im Alter von acht Jahren, für kurze Zeit gemeinsam in einem Kinder-Baseball-Team spielen. Schauplatz ist die Kleinstadt Hutchinson in Kansas. Als Brian mit blutender Nase im Keller seines Elternhauses erwacht und sich nicht mehr an die vergangenen fünf Stunden erinnern kann, nimmt seine Mutter ihn direkt wieder aus der Mannschaft. Doch fortan weist Brian deutliche Veränderungen auf und wird von bösen Träumen geplagt. Neil avanciert derweil zum besten Spieler des Teams und baut eine enge Beziehung zum Coach auf.
Einige Jahre später ist Brian davon überzeugt, damals von einem UFO entführt worden zu sein, während Neil seine Freizeit damit verbringt, Sex für Geld mit älteren Männern zu haben. Als sich Brian plötzlich an Neil erinnert und mit ihm über die Ereignisse des Sommers 1981 reden möchte, ist Neil gerade zu seiner besten Freundin Wendy nach New York City gezogen. Brian freundet sich mit Neils Kumpel Eric an – und hofft, Neil beim nächsten Besuch in Hutchinson bei dessen Mutter treffen zu können.

Bild: Camera Obscura
Der Roman gliedert sich in drei Abschnitte (mit den Titeln „Blau“, „Grau“ und „Weiß“), die jeweils einen kurzen Zeitraum abdecken. Innerhalb dieser Abschnitte werden einzelne Teile jeweils aus der Sicht einer Figur erzählt – überwiegend von Brian und Neil, zuweilen aber auch von Wendy, Brians älterer Schwester Deborah und Eric. Den Erwachsenen wird wiederum dezidiert keine eigene Perspektive zugestanden. Im Wesentlichen übernimmt Araki diese narrative Struktur, ohne sich allzu sehr daran zu klammern. Das Entscheidende bleibt beim Transfer von den Buchseiten auf die Leinwand erhalten: Den sexualisierten Missbrauch, den Brian und Neil in ihrer Kindheit durch den pädosexuellen Trainer erleben, zeigt „Mysterious Skin“ gänzlich aus der Perspektive der Opfer.
Im Strang um Neil wird demonstriert, welche perfiden Methoden der (bewusst namenlose) Täter anwendet, um die Gunst des Grundschülers zu erlangen: In seiner Wohnung gibt es die besten Snacks und die coolsten Videospiele; bei allem wird ein großer, unschuldiger Spaß vorgetäuscht. Dies führt dazu, dass Neil den Coach auch Jahre nach dem sexuellen Missbrauch noch idealisiert und verteidigt, statt die Grooming-Taktiken als das, was sie waren, klar identifizieren und verurteilen zu können. Brians Erzählstrang lässt hingegen erkennen, wie die traumatische Erfahrung über Jahre hinweg durch einen Selbstschutzmechanismus verdrängt wird – und doch nie komplett vergessen werden kann. Stattdessen mündet sie in diesem Fall in dem abwegigen Erklärungsversuch einer Entführung durch Außerirdische.

Bild: Camera Obscura
„Ich versuchte, das Bild des Jungen in mir auszulöschen, denn ich wusste, dass alles, was damals geschehen war – was auch immer ich getan hatte, was auch immer Unaussprechliches ich mir hatte ansehen sollen –, meine Kräfte übersteigern würde“, heißt es im Roman an einer Stelle, als Brian mit seinen verschütteten Erinnerungen konfrontiert wird. Eine Filmsprache für das Unaussprechliche findet Araki etwa in der subjektiven Kamera, die uns wissen lässt, was gerade Verstörendes vor sich geht, ohne auf eine explizite Darstellung der Handlungen angewiesen zu sein. Zu keinem Zeitpunkt driftet „Mysterious Skin“ ins Ausbeuterische ab. Die Sensibilität im Umgang mit adoleszenten Gefühlswelten, die Araki bei allem Hang zur Ausschweifung in all seinen Filmen spüren lässt, kommt auch hier voll zur Geltung.
Die Besetzung der jugendlichen Rollen mit Gesichtern, die damals in erster Linie aus heiteren Teen-Movies, populären Primetime-Serien, Soaps oder Sitcoms bekannt waren, sowie ein paar frischen, noch weitgehend unentdeckten Talenten ist ebenso typisch Araki. Joseph Gordon-Levitt („10 Dinge, die ich an Dir hasse“), Brady Corbet, Michelle Trachtenberg („Buffy – Im Bann der Dämonen“) und Jeff Licon verkörpern in diesem Film junge Menschen, die den Grausamkeiten, der Ignoranz und der Schwäche der Erwachsenen mit gegenseitiger Fürsorge begegnen. In der Freundschaft zwischen Neil und Wendy, in der Annäherung zwischen Brian und Eric und in der im Finale stattfindenden (Wieder-)Begegnung zwischen Brian und Neil erfüllt sich die „utopian idea of love and connection“, die Araki als Kern seiner Filme benennt. „Mysterious Skin“ ist hart und erschütternd – aber nicht ohne Hoffnung.
Gordon-Levitt stieg als Schauspieler wenig später in die A-Liga Hollywoods auf; Corbet ist inzwischen dank Filmen wie „Vox Lux“ (2018) und „Der Brutalist“ (2024) selbst ein bemerkenswerter Regisseur. Araki schuf 2014 mit „Wie ein weißer Vogel im Schneesturm“ eine weitere Roman-Adaption (nach der gleichnamigen Vorlage von Laura Kasischke), in der es ihm abermals gelingt, seine ausgeklügelten Arrangements, sein extravagantes Set-Design und seinen charakteristischen Sound organisch mit einer literarischen Stimme zu vereinen.
„Mysterious Skin“ übte seit der Uraufführung in Venedig auf viele Filmemacher:innen starken Einfluss aus. Der Frankokanadier Xavier Dolan zitiert etwa die beschriebene Einstiegseinstellung in seiner Tragikomödie „Herzensbrecher“ (2010); auch bei ihm erweist sich der märchenhaft anmutende Regen bunter Getreideringe letztlich als Trugbild. Araki bewies 2004 mit seinem Film, dass er die Verwegenheit und die Energie, die Rich ihm und einigen Kolleg:innen einst bescheinigte, in seiner künstlerischen Entwicklung nicht verloren hatte. Nach Ausflügen in serielle Gefilde soll mit „I Want Your Sex“ bald ein neuer Film folgen. Get hip to it!
Mysterious Skin
von Gregg Araki
US 2004, 105 Minuten, FSK 18,
deutsche SF & englische OF mit deutschen & englischen UT
Als DVD und VoD