Misericordia

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Nach zehn Jahren kehrt Jérémie in seinen südfranzösischen Heimatort zurück, um an der Beerdigung des Dorfbäckers Jean-Pierre teilzunehmen. Als Teenager war Jérémie dessen Lehrling – und vielleicht noch mehr. Von Vincent, dem Sohn des Verstorbenen, wird Jérémie mit Argwohn und unterschwelligem Begehren empfangen. Die Bäckerswitwe Martine bietet ihm einen Schlafplatz an und sucht seine körperliche Nähe. Ambivalente sexuelle Spannungen erzeugt der Rückkehrer auch bei Bauer Walter und dem neugierigen Pfarrer Grisolles. Als Vincent spurlos verschwindet, fällt der Verdacht schnell auf Jérémie. Auch in seinem neuen Film „Misericordia“ spinnt Alain Guiraudie („Der Fremde am See“), der Meister der sinnlich-abgründigen Provinzerzählung, ein subtiles Netz aus gehemmter Lust und erotischen Manipulationen – und entwirrt es wieder mit skurrilen Wendungen und absurdem Humor. Fabian Schäfer über eine mythisch-spirituell aufgeladene Thriller-Komödie, die sich nicht für Genregrenzen interessiert und voll auf das Lustprinzip fokussiert.

Foto: Salzgeber

Phallus impudicus

von Fabian Schäfer

In manchen Dörfern scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Saint-Martial im Südosten Frankreichs ist so ein Ort: Die Straßen sind eng, die Häuser aus Stein und unverputzt. Wenn sich etwas verändert, dann eher zum Schlechten: Die Bäckerei hat geschlossen – und das Brot im Nachbarort schmeckt nicht so gut.

Der Dorfbäcker Jean-Pierre ist gestorben. Sein früherer Geselle Jérémie kommt für die Beerdigung zurück in seine Heimat, denn die beiden hatten mehr als eine reine Arbeitsbeziehung, so scheint es. Es ist eine Reise in die Vergangenheit, zu alten Bekannten und alten Sehnsüchten. „Die Liebe ist ewig“, sagt der Pfarrer passenderweise bei der Beerdigung – ein Satz, der nicht nur auf den Verstorbenen zutrifft.


Doch der heimgekehrte Jérémie, dem mittlerweile die Aura eines Fremden anhaftet, wird zunehmend kritisch beäugt. Er bleibt länger als geplant, weil es ihm im Dorf so gefällt. Die Witwe Martine stört das nicht so sehr, den Sohn Vincent dafür umso mehr. Er wirft Jérémie vor, ein Auge auf seine Mutter geworfen zu haben. Dabei flirtet der eher mit dem alten Bekannten Walter – angeblich wegen des vielen Pastis, der standardmäßig bei jeder Begegnung gereicht wird.

„Misericordia“ steckt voller Vergangenheit, verzichtet aber komplett auf Rückblenden. Wer sich früher wie gut mit wem verstanden hat, wer schon immer heimlich auf jemanden stand, wo es Streit und wo Versöhnungen gab – all das bemüht sich der Film nicht zu erklären. Das ist anfangs verwirrend, hat aber auch einen großen Reiz. Stück für Stück ergibt sich so ein intensives Beziehungsgeflecht, das mehr als eine – teils absurde – Wendung bereithält.

Foto: Salzgeber

Zu dieser Dynamik gehört auch, dass Jérémie ganz offensichtlich eine verräterische Spannung im Dorf auslöst – beziehungsweise aufdeckt. Ihm wird von fast allen eine Affäre unterstellt oder zumindest Interesse an irgendjemandem zugetraut. Gleichzeitig sind alle Figuren voller Verlangen, das aber nicht befriedigt wird. Die Begierde hat eine enorme Macht, stellt ausgerechnet der Pfarrer an einer Stelle fest.

„Ich wollte einen erotischen Film ohne Sexzenen machen“, erklärt Regisseur Alain Guiraudie in einem Interview mit The Spot. Sein Plan geht auf. „Misericordia“ beweist, dass es für Erotik keinen Sex braucht, sondern dass sie vielmehr über Blicke und Berührungen transportiert wird. In einer übermäßig sexualisierten Popkultur fällt das umso mehr auf. Und dass die Figuren alle eher unauffällig sind, Walter gängigen Schönheitsidealen sogar deutlich widerspricht, trägt seinen Teil zu dieser Hyposexualisierung bei.

Foto: Salzgeber

„Misericordia“ spielt nicht nur mit dieser Form der Erotik. Der Film entzieht sich auch gängigen Genre-Kategorisierungen. Als Vincent verschwindet und der Verdacht schnell auf Jérémie fällt, entwickelt er sich Richtung Kriminalfilm, immer wieder aber gibt es absurde, lustige und tragische Momente.

Der Film spielt, anders als Guiraudies „Der Fremde am See“, nicht im Sommer, sondern im Herbst. Die kühle Jahreszeit passt zur gedämpften Stimmung. Nicht nur die Natur bereitet sich auf ruhigere Monate vor – den Menschen im Dorf geht es ähnlich. Gleichzeitig ist es die Hochsaison zum Pilze sammeln.

Foto: Salzgeber

Der Wald dient Jérémie als Rückzugsort, aber auch als geheimer Treffpunkt. Manche Pilze, die er oder andere sammeln, scheinen dabei besonders verdächtig. Einige Morcheln wachsen wegen der Nährstoffe besonders gerne auf Gräbern. Stinkmorcheln tragen deshalb auch den abergläubischen Beinamen „Leichenfinger“. Die wissenschaftliche Bezeichnung „Phallus impudicus“ verweist dagegen darauf, dass sie steifen Penissen ähnlich sehen. Tod und Lust in einem Pilz vereint – ein morbider Gegensatz, der sich auch durch „Misericordia“ zieht.




Misericordia
von Alain Guiraudie
FR 2024, 103 Minuten, FSK 16,
französische OF mit deutschen UT

Ab 6. März im Kino