Madame
Trailer • VoD
Scheidung in den 1920ern, erfolgreiche Geschäftsfrau in den 1930ern. Caroline hat sich immer über Grenzen hinweggesetzt, die die patriarchale Gesellschaft für sie vorgesehen hatte. In den 1980ern führt ihr Enkelsohn Stéphane einen ähnlichen Kampf: Als schwuler Junge in einer großbürgerlichen Schweizer Familie sucht er der Rolle des angepassten, maskulinen Heteros zu entkommen. Und beginnt als 13-Jähriger, sich und seine Umgebung mit einer Video-Kamera aufzunehmen. Aus seinem umfangreichen biografischen Bildarchiv hat Stéphane Riethauser als erwachsener Regisseur ein berührendes Doppelporträt von sich und seiner flamboyanten Großmutter gewonnen. Sascha Westphal schreibt über den großartigen Essayfilm „Madame“, der konservative Vorstellungen von Geschlechterverhältnissen und Sexualität infrage stellt – und ab 23. April im Salzgeber Club als VoD zu sehen ist.
What Makes a Man a Man
von Sascha Westphal
Eine LP auf einem Plattenteller. Ihr Titel ist nicht zu entziffern. Als die Nadel die Platte berührt, erklingt die Stimme von Charles Aznavour. Schmerz und Trotz, Verzweiflung und Mut, mischen sich in ihr und treffen einen sofort mitten ins Herz. „Comme ils disent“ – „Was sie sagen“ – ist das Selbstporträt eines alternden Homosexuellen, der alleine mit seiner Mutter lebt, in einem Travestie-Theater auftritt und mit seiner unerfüllten Liebe zu einem jungen Mann ringt. Während der Song läuft, erzählt der Filmemacher Stéphane Riethauser aus dem Off, wie er vor mehr als 20 Jahren, Mitte der 1990er Jahre, zusammen mit seinem Vater Luc für eine Prüfung in Steuerrecht gelernt hat. Damals hatte Luc genau dieses Chanson aufgelegt und Aznavours Stimme selbst am Kontrabass begleitet.
Diese beiden Tonspuren, die sich wie Erinnerungen und Gefühle überlagern, sind mit alten Fotografien von Luc am Kontrabass und abgefilmten Seiten aus Stéphanes Tagebüchern unterlegt. Einzelne Worte und Formulierungen springen ins Auge, etwa das Bekenntnis, dass Stéphane sich zwar eingesteht, Jungen zu mögen, aber das Wort „homosexuell“ vermeidet. Eben jenes Wort mit dem Aznavour auf eine so bravouröse Weise in seinem Lied spielt: „… homme, oh! Comme ils disent.“ Während die Musik ausklingt, erzählt Stéphane schließlich, was sein Vater damals über eben dieses Chanson gesagt hat: „Der Text ist so schön. Fast könnte man die Schwuchtel in diesem Lied mögen.“
Ein Satz wie eine Ohrfeige. Und der Regisseur lässt ihn genau so stehen, ohne Kommentar. Der ist auch nicht nötig. Denn zu jener Zeit, in den Jahren, bevor er bereit war, zu sich selbst zu stehen und sich als „homme, oh“ zu sehen, hätte diese Bemerkung auch aus seinem Mund kommen können. Aber etwas von dem kurzen, stechenden Schmerz muss der damalige Jurastudent doch gespürt haben. Denn die Verletzung hallt schon durch seinen essayistischen Dokumentarfilm „Madame“, da ist dieser Satz noch lange nicht gefallen. „What Makes a Man a Man“ ist der englische Titel von Aznavours Torch Song. Und diese Frage wäre auch ein passender Titel für Riethausers Langfilmdebüt. Was macht einen Mann zu einem Mann? Und was eine Frau zu einer Frau?
Diesen Fragen, die zusammenhängen, aber nicht austauschbar sind, spürt Riethauser mit dem Doppelporträt von seiner Großmutter Caroline und sich selbst nach. Und zumindest eine Antwort ist schnell gefunden: Es ist die Gesellschaft im weitesten Sinne und die Familie im ganz Speziellen. Die Regeln, die den Platz des einzelnen Menschen bestimmen, die ihm und ihr sagen, was normal ist, was sich gehört und was nicht sein soll, sind auch die, die unser Bild von dem bestimmen, was eine Frau und was einen Mann ausmacht.
Caroline, die Tochter eines katholischen Mailänders, der im späten 19. Jahrhundert in die Schweiz ausgewandert war und dort sein Glück machte, hat schon früh erfahren, was es hieß, Mädchen im bürgerlich-konservativen Genf des beginnenden 20. Jahrhunderts zu sein. Weil sie zusammen mit einem jungen Mann Fahrrad fuhr, hat ihr Vater sie gezwungen, ihn auch zu heiraten. Als sie noch in der Hochzeitnacht vor ihm floh, hat der Vater sie nicht wieder aufgenommen, sondern zu dem ungeliebten, ja gefürchteten Mann zurückgeschickt. Was folgte waren Vergewaltigungen in der Ehe, eine erste Schwangerschaft und schließlich eine Geburt, bei der Caroline ganz auf sich allein gestellt war.
Doch anders als die meisten Frauen ihrer Generation hat die sich nicht mit diesem Schicksal abgefunden. Kurz nach der Geburt ihres Kindes hat sie die Scheidung eingereicht und sich als alleinerziehende Mutter durchgeschlagen, zunächst in ihrer Nachbarschaft als Friseurin, dann als Verkäuferin von Korsagen und schon bald als Designerin eigener Korsette. Es war der Beginn einer beinah bespiellosen beruflichen Erfolgsgeschichte: Caroline war eine der ersten Genfer Geschäftsfrauen, zu ihren Kundinnen zählten Adelige aus halb Europa. Aber der Makel blieb. Die Gesellschaft tolerierte sie, aber akzeptiert wurde sie nicht. Nur das Geld, das sie verdiente, konnte ihr eine Freiheit jenseits der üblichen Normen und Rollenbilder sichern. Aber, und das erzählt sie ihrem Enkel Stéphane mit einer Art trotzigen Bedauerns, sie hatte nie das Glück, dass die Männer sie so akzeptierten, wie sie war. Sie waren einfach noch nicht so weit.
Stéphane Riethauser hat „Madame“ als eine Art filmischen Brief an Caroline konzipiert. Obwohl sie schon vor Jahren verstorben ist, ist sie doch allgegenwärtig: als Stimme auf dem Anrufbeantworter ihres Enkels ebenso wie in den Bildern, die er mit seiner Videokamera, übrigens einem Geschenk von ihr, in den 1990er Jahren gemacht hat. In diesem Film, gerichtet an eine geliebte Tote, kann Riethauser all das aussprechen und zeigen, worüber er damals, als sie noch lebte, geschwiegen hat. Das Unausgesprochene sucht sich in den Bildern seinen Weg.
Caroline hat ihren Enkel ohne Zweifel geliebt und bewundert. Aber lange Zeit hat auch sie versucht, ihn in eine Rolle zu drängen, die ihm fremd war. So zeigt der Film die beiden zunächst, wie sie sich über Stéphanes gezielt unordentliche Frisur streiten. Caroline gibt keine Ruhe, und er gibt schließlich nach. Sie darf ihm einen ordentlichen Seitenscheitel ziehen, damit er nicht mehr wie Quasimodo, nicht mehr wie ein „Idiot“ aussieht. Selbst eine Non-Konfirmistin wie Caroline erliegt in äußerlichen Dingen dem Druck des Konventionellen.
Caroline und Stéphane Riethauser verbindet, dass ihre Lebensgeschichten geprägt sind von den Normen ihrer Zeit – und von der Auflehnung gegen sie. Die alten Super-8-Filme, die Riethauser als Kind und als Jugendlicher gedreht hat, zeigen ihn als einen Jungen, der eigentlich nie in das Bild passte, das sich sein Vater von einem Sohn gemacht hat. Diese kleinen Filme, die Teil des umfangreichen Materials sind, aus dem „Madame“ schöpft, zeigen einen Exzentriker, der den Jungen eigentlich immer nur gespielt hat. Aber die Erwartungen der Eltern und der Gesellschaft waren dem heutigen Filmemacher und LGBT-Aktivisten so ins Blut übergegangen, dass er sein wahres Ich über Jahre verdrängt und versteckt hat. Nach außen hin hat er sich als eben der Macho präsentiert, den die zutiefst konservativen, bourgeoisen Kreise, in denen er aufgewachsen ist, in ihm sehen wollten. Männer werden eben nicht geboren, sondern tatsächlich gemacht. Geformt und dabei gleich deformiert.
Die Ehrlichkeit, mit der Riethauser von den Lügen seines früheren Lebens erzählt, ist schier überwältigend. Er zeichnet ein Porträt von sich als homophoben und misogynen jungen Mann, der um jeden Preis die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllen wollte. Sein Leben war von dem seines Vaters vorgezeichnet. Wie Luc, der gerne Filmemacher werden wollte und privat auch Filme mit seiner Frau und sich selbst gedreht hat, sollte auch Stéphane seine künstlerischen Ambitionen hintanstellen. Er sollte Karriere machen, die Firma des Vaters übernehmen, eine Frau finden und eine Familie gründen, eben ganz der gesellschaftlichen Norm folgen. Einer Norm, zu der es auch gehörte, dass er während des Wimbledon-Damen-Finales im Fernsehen für Chris Evert Partei ergriff und die damals noch ungeoutete Martina Navratilova wüst als Lesbe beschimpfte.
Wie beim Einsatz von Charles Aznavours „Comme ils disent“ überlagern sich in Riethausers gesamten Filmessay fortwährend Bilder und Töne. Er hat sein vielfältiges Material in einer Weise übereinandergeschichtet, dass visuelle und akustische Ebene gezielt auseinanderklaffen. Die einzelnen Teile fügen sich dabei wie Puzzlestücke zusammen, bis ein Panaroma einer patriarchalischen Gesellschaft entsteht, die jeden Menschen in Raster pressen will. Wer wie Caroline und ihr Enkel nicht hineinpasst, muss sich entweder verbiegen oder den Schritt ins Ungewisse wagen. Insofern ist Stéphane Riethauser mit seinem Coming-out dem Vorbild seiner Großmutter gefolgt. Was macht einen Mann zum Mann? Sicher nicht das homophobe Verhalten von Lucs Vater, dem der Sohn über Jahre nachgeeifert hat. Aznavours „homme, oh“ ist viel mehr Mann als all die, die das Ich des Chansons „Schwuchtel“ nennen.
Madame
von Stéphane Riethauser
CH 2019, 94 Minuten, FSK 12,
deutsche Fassung & französische OF mit deutschen UT,
Edition Salzgeber
Hier auf DVD.