Liuben

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Vor zwölf Jahren hat Victor seine bulgarische Heimat hinter sich gelassen, um in Madrid zu studieren und dort als schwuler Mann frei leben zu können. Zur Beerdigung seines Großvaters kehrt er in das Dorf zurück, in dem er aufgewachsen ist und mittlerweile als „der Spanier“ gilt. Victor nähert sich seinem Vater wieder an, lernt den 18-Jährigen Roma Liuben kennen und beschließt, den Sommer über zu bleiben. Doch als er sich in Liuben verliebt und der die Liebe auch erwidert, wird Victor schnell klar, warum er seine Heimat einst verlassen hat. „Liuben“ gilt als erster offen queerer Film aus Bulgarien. Andreas Köhnemann über ein Liebesdrama, das auf differenzierte Weise unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen schildert und dem Gefühl der existenziellen Bedrohung mit sinnlichen Bildern und der Ahnung eines gemeinsamen Glücks trotzt.

Foto: Cinemien

Die Fremden

von Andreas Köhnemann

Oft enden queere Coming-of-Age- und Coming-out-Geschichten über Figuren, die in der Provinz aufwachsen, mit dem Aufbruch in die Stadt, in der eine freie persönliche Entfaltung möglich scheint. Victor, der Protagonist aus „Liuben“, hat diesen Sprung bereits geschafft, bevor die Handlung einsetzt. Er hat seinen Vater Kaloyán und sein bulgarisches Heimatdorf, ja gleich sein ganzes Geburtsland verlassen, um zum Studium nach Madrid zu gehen. Dort führt er nun ein eher lockeres Verhältnis mit einem älteren Mann.

Erst der Tod seines Großvaters bewegt Victor nach zwölf Jahren zu einer Rückkehr. In der Gemeinde wird er inzwischen „der Spanier“ genannt; er ist kein Teil dieses Ortes mehr, dem er sich ohnehin nie zugehörig fühlte. Das Bergdorf ist nicht nur von extremer Korruption, insbesondere durch die lokale Polizei, geprägt, sondern auch von Homophobie, Xenophobie und Klassismus. Dass sich Victor dennoch dazu entschließt, den Sommer hier zu verbringen, statt sofort nach der Beerdigung wieder abzureisen, mag zunächst irritieren – zumal zwischen Vater und Sohn eine spürbare Entfremdung herrscht.


Doch in einigen Andeutungen lässt sich rasch erahnen, dass Victors neues Leben in der spanischen Hauptstadt nicht zwangsläufig dem Happy-End-Traum entspricht, den die Schlussbilder zahlreicher Filme so optimistisch entwerfen. Obendrein ist da plötzlich ein Grund, trotz aller Bedenken noch für eine Weile zu bleiben. Dem titelgebenden 18-Jährigen, der wie viele andere junge Roma im örtlichen Waisenhaus lebt, begegnet Victor am Straßenrand. Liuben verkauft dort Wassermelonen. „Ich werde dein Gesicht nicht vergessen. Wir sehen uns bald wieder!“, ruft er dem lächelnden Victor übermütig hinterher. Von Anfang an liegt ein Knistern in der Luft.

Als Liuben später Victors Facebook-Profil mit Regenbogenfahne sieht, reagiert er ganz gelassen. Kein Unbehagen, keine Distanz. Der erste Anlauf zu einem Kuss wird noch betont cool weggelacht: Es könne ja gar nicht sein, dass Liuben Victor gerade küssen wollte – er habe ja eine Freundin, Iliyana. Diese ist schwanger – und Liuben schmiedet schon große Zukunftspläne für seinen ungeborenen Sohn. Als Iliyana aber aus dubiosen Gründen nach Griechenland fährt, scheint erst mal nichts mehr zwischen den beiden jungen Männern zu stehen.

„Liuben“ ist in seinem Plotverlauf nicht völlig frei von den Tropen, die das queere Kino allmählich hinter sich zu lassen versucht – darunter die Bury-Your-Gays-Trope. Als Iliyana ohne Kind in das Dorf zurückkehrt und Liuben die Lügen, die ihm aufgetischt werden, nicht hinnehmen will, läuft alles auf eine Katastrophe hinaus. Der Film zieht somit nicht nur das gängige Motiv eines hoffnungsvollen Weggangs aus dem einengenden Heimatort in Zweifel, an dem Victor (bisher) gescheitert ist – er scheint auch keine andere Option für ein finales Glück seiner queeren Figuren (im Diesseits) zu sehen. Am Ende stehen Tod und Trauer.

Foto: Cinemien

Dennoch hat der Drehbuchautor und Regisseur Venci Kostov mit „Liuben“, dem ersten bulgarischen Film mit LGBTQ+-Thematik, keine durchweg schematische und auch keine gänzlich trostlose Erzählung geschaffen. Die Worte und Blicke, mit denen die Geschichte abgeschlossen wird, lassen erkennen, dass der Kampf von Victor und Liuben zwar nicht zum Sieg über Hass, Machtmissbrauch und Bedrohung geführt hat, dass er allerdings keineswegs sinnlos war. Träume bleiben unerfüllt; ihre Schönheit und ihr subversives Potenzial werden aber klar ersichtlich.

In den Momenten der Leichtigkeit erinnert die Inszenierung an André Téchinés zauberhaften Sommerfilm „Wilde Herzen“ (1994). Mit seinem Kraftrad fährt Victor durch die Landschaft, die in ihrer idyllischen Anmutung das konservative Treiben im Dorf fast vergessen macht. In der Natur kommt es zum ersten Kuss zwischen Victor und Liuben. Auf einem Jahrmarkt berühren die beiden einander wiederholt beiläufig und teilen sich einen Bierbecher. Während das Wrestling mit nackten Oberkörpern, das eine Gruppe von Männern auf dem Rummelplatz öffentlich treibt, als brachiales Männlichkeitsritual nicht infrage gestellt und die Homoerotik darin überhaupt nicht (an)erkannt wird, stellt der zärtliche Umgang zwischen Victor und Liuben einen sozialen Tabubruch dar. Als „Turteltauben“ werden die beiden von einigen Männern aus Liubens Kreisen verspottet.

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Auf differenzierte Weise schildert der Film unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen. In seiner neuen urbanen Heimat Madrid sei er „ein Ausländer“, meint Victor – woraufhin Liuben entgegnet, dass auch er immer ein Ausländer sein werde, der aufgrund seiner Identität mit diskriminierenden Bezeichnungen beleidigt werde. Liuben macht Victor auf dessen Privilegien aufmerksam. Dass der alte Kaloyán sich offen dafür zeigt, den wohlhabenden spanischen Freund seines Sohnes in sein Haus einzuladen, ist weniger eine Geste der Offenheit, sondern vor allem ein Ausdruck seiner tiefen Ablehnung gegenüber dem mittelosen Liuben aus der Roma-Community.

Er habe Angst, dass er aufhöre, zu existieren, sagt Liuben an einer Stelle via Voice-over. Diesem Gefühl der existenziellen Bedrohung trotzt der Film mit sinnlichen Bildern, die in diesem Fall zwar keine endgültige Befreiung bedeuten, aber als entschlossene Rebellion verstanden werden sollten. In einem Gespräch verrät Liuben Victor, er wolle gern Friseur in Deutschland werden. Wenn er Victor in einer späteren Szene in der Natur sanft die Haare schneidet und wäscht, steckt darin merklich viel Liebe. Das von Liuben bei der ersten Begegnung zugerufene Versprechen, den anderen nicht zu vergessen, wird auf ewig bestehen bleiben. Gewiss ist das nicht das strahlende Happy End, das den beiden zu wünschen wäre – aber diese Ahnung von einem gemeinsamen Glück kann ihnen niemand jemals nehmen.




Liuben
von Venci Kostov
BG 2023, 103 Minuten, FSK 16,
bulgarische OF mit deutschen UT

Ab 28. März im Kino