Latin Boys Go to Hell
DVD
Rund 20 Jahre nach seiner Uraufführung erscheint der queere Klassiker „Latin Boys Go to Hell“ (1997) von Ela Troyano in einer restaurierten Fassung auf DVD. Das stilistisch wilde Melodram über die Leiden junger Latinos im tiefsten Brooklyn heute zu sehen, funktioniert einwandfrei und macht sogar Sinn, findet unser Autor Dennis Vetter. Denn die Regisseurin glaubt nicht an die Abgeschlossenheit von Geschichte und Identität, sondern an kulturelle Bewegungen. Eine Wiederbegegnung.
Zwei Leben
von Dennis Vetter
Ela Troyano ist keine klassische Regisseurin, doch das Kino begleitet sie seit Beginn ihrer Karriere. Als sie und ihre Schwester Alina, zwei aus Kuba stammende queere Künstlerinnen, in den Achtziger Jahren nach New York kommen, ist der amerikanische Undergroundfilm gerade in seinen letzten Zügen. Bald, Anfang der Neunziger, werden sich Regisseure wie Gregg Araki, Derek Jarman oder Todd Haynes Gedanken über eine neue schwule Filmsprache machen. Troyano kennt die Diskussionen der Zeit, denn sie lebt mittendrin. Kurz nachdem sich Jennie Livingston in „Paris is Burning“ (1990) mit der afro- und lateinamerikanischen Drag-Szene auseinandergesetzt hat, begleitet Ela ihre Schwester, die unter dem Künstlerinnenamen Carmelita Tropicana auftritt, mit der Kamera bei Performances und politischen Aktionen. Es entsteht ihr Kurzfilm „Carmelita Tropicana: Your Kunst Is Your Waffen“ (1994), ein Essay über Kunst und Intersektionalität, zwischen Sprachen, Identitäten und Ausdrucksformen, der im Panorama der Berlinale mit dem Teddy Award ausgezeichnet wird. Der Film bringt sie in Kontakt mit dem queeren Berliner Filmproduzenten und Festivalmacher Jürgen Brüning. Brüning unterstützt sie und produziert kurz darauf „Latin Boys Go to Hell“, Troyanos ersten Langfilm.
Weder der Tonfall des Undergroundfilms noch die agitativen Töne des New Queer Cinema interessieren sie dabei. Stattdessen versucht Troyano sich an einem Stilmischmasch, das seine Inspiration aus Klassikern des Horrorkinos und aus Telenovelas zieht. Und so macht ihr Film durch zahlreiche Extravaganzen vor allem Spaß, obwohl er eigentlich kompliziert und handwerklich nur halb geglückt ist. Ihr Plot hat mit Zufall wenig am Hut: Mitten in Brooklyn geraten mehrere Paare miteinander ins Gehege, jeder kennt hier jeden. Der sensible Justin (Irwin Ossa) verliebt sich in seinen punkigen Cousin Angel (John Bryant Davila), während Macho-Carlos (Mike Ruiz) sich für eine Nacht mit Justin gleich von seinem Freund Braulio (Alexis Artiles) trennen will. Und dann sind da auch noch die Damen: Angel ist eigentlich hetero und liebt Andrea (Jenifer Lee Simard), während Monica (Annie Iobst) ihre allgemeinen Aufdringlichkeiten damit begründet, dass sie alle nackt fotografieren will.
Die Ausstellung der weißen Fotografin zeigt Latino-Jungs und trägt den Titel des Films. Da steckt durchaus ein Zeigefinger drin. Der Film kreist um Monicas ausgiebiges Interesse an Latino-Körpern, Troyano thematisiert als kubanische Frau eigene und fremde Blickweisen auf ihre Figuren. Sie gibt Frauen dabei Raum und eröffnet den Film mit einem „Sexy Girl“, doch sie betrachtet die Männer – und gleichermaßen die Latino-Klischees, die mit ihrem Auftreten verbunden sind. Wiederkehrende Kostüme und Frisuren wechseln sich ab mit Monicas Fotosessions, die mit Symbolen nicht geizen und von Kameramann James Carman (heute bekannt durch seine langjährige Zusammenarbeit mit Bruce LaBruce) dankbar eingefangen werden. Ein Mann mit gleich drei Maiskolben. Ein Mann mit einem Totenschädel vor dem Schritt, der Blowjobs nicht abgeneigt scheint. Ein Mann umringt von Rosenblättern, verdächtig nah an Sam Mendes’ Venusbild aus „American Beauty“ (1999).
Und dazwischen: Bilder aus der Fernsehserie, die sie alle verbindet, aus einer Scheinwelt des filmischen, die die Leidenschaft als Lebensphilosophie über alles stellt: „Dos Vidas“, zwei Leben. In der Serie treibt ein Typ ein doppeltes Spiel mit Zwillingsschwestern und wird die eine zur wahnsinnigen Mörderin machen. Ihr verletztes Herz kann seine Arroganz nicht ertragen, also endet die Geschichte in blutigen Halloween-Gefilden. Als zweite Konstante schleichen sich allerlei Kruzifixe ein, diverse Superhelden- und Popstar-Poster sowie eine Marienfigur, der einmal sogar ein Tränchen herausrutscht. Die Schauspieler*innen begegnen der kitschigen Serie und der Melange gesellschaftlicher Ikonenbilder mit einer ziemlich vergnüglichen Authentizität, die nicht immer als Schauspiel durchgeht und gerade deshalb am Ende rührend wird.
Ein wenig erinnert der Film in seinen Spitzen dann doch an Gregg Arakis Teenie-Filme, in denen auch mal Aliens ihr Unwesen treiben. Ein außerirdischer Besuch bleibt hier aus, wäre in Troyanos Film aber kaum überraschend. Alles scheint hier möglich. Sogar, dass Andrea gleichzeitig die engste Freundin eines schwulen Manns ist und dann angewidert von Schwuchteln spricht, die es auch noch genießen, was sie miteinander tun. Und so schreddert der Film vor allem durch seine maue, unveröffentlichte Buchvorlage bei allem Einfallsreichtum immer wieder ein wenig an seinen Möglichkeiten vorbei. Troyano entwickelt aus ihren Einflüssen zwar einen tollen Stil, vergreift sich jedoch bei den Dialogen immer wieder ein wenig im Ton. Entsprechend spaltete der Film zu seiner Zeit die Presse. „Too much heaven can land you in hell“, fasst die New York Times Spannung und Reiz des Films zusammen.
Als queere Migrantin versteht Troyano den Umgang mit Diskriminierungen, die ihr Kino vielfältig verhandelt, und agiert aus klaren Überzeugungen heraus. Wenn sie heute auf ihre Filme zurückblickt, stellt sie fest, wie sie sich durch den Zeitunterschied weiter politisch aufladen. Dazu passt auch ein anderes Beispiel aus ihrer filmemacherischen Praxis: Im New York der Achtziger begegnet sie der kubanischen Kultsängerin „La Lupe“ und nimmt sich fast 20 Jahre Zeit, um einen Dokumentarfilm über sie zu drehen, „La Lupe: Queen of Latin Soul“ (2003). Kurz nach der Jahrtausendwende trägt der Film zu einer neuen Betrachtung der Musikerin aus feministischer Perspektive bei. Für Troyano, so könnte man zusammenfassen, liegen in der Vergangenheit die Fragen an die Zukunft: „We’re at a complex moment in time“, sagte sie selbst, „not only moving forward, but also looking back to rewrite history.“
Wer hier Blut leckt, sollte die Augen offen halten: Ela Troyano tritt mit „Latin Boys Go to Hell“-Setdesigner Uzi Parnes noch immer in Filmperformances auf und arbeitet sich an den kulturellen Strömungen der Zeit in New York ab. Im Jahr 2010 etwas führten sie im Forum Expanded der Berlinale „The Silence of Marcel Duchamp Is Overrated“ auf. Das letzte Wort ist also noch nicht gesprochen.
Latin Boys Go to Hell
von Ela Troyano
DE/SP 1997, 71 Minuten, FSK: 16,
englisch-spanische OF mit deutschen UT,
GM Films