Limbo

Trailer

In einer postindustriellen Landschaft stellen sich Fragen nach der Zukunft unter Jugendlichen, die kurz vor dem Schulabschluss stehen, nochmal dringlicher. Und für eine Schülerin besonders, da sie einen Crush auf ihre neue Lehrerin entwickelt hat. Der atmosphärisch eigenwillige „Limbo“ ist der erste Spielfilm der dffb-Absolventin Anna Sofie Hartmann.

Foto: Peripher

Landschaft der Jugend, der Sehnsucht

von Sebastian Markt

I Nakskov ist eine Kleinstadt auf der Insel Lolland im Süden Dänemarks. Anna Sofie Hartmann ist dort aufgewachsen. Man kann davon ausgehen, dass sie sie gut kennt. Eine Werft, in der keine Schiffe mehr gebaut werden. Die langen Rotorblätter von Windturbinen, die dort jetzt hergestellt werden, und die, vertikal im Freien gelagert, immerhin noch eine bizarre Landschaft für jugendliche Projektionen hergeben. All das zeigt der Film. Zuckerrübenfelder, semifunktionale Industriearchitektur, Kleinstadtkneipen und die Leute, die in ihnen trinken, Backsteinhäuser, lange Fahrten über die ausdünnenden Stadtstraßen. Immer wieder, an entscheidenden Stellen, nimmt der Film sich Zeit, nimmt eine Abzweigung im Erzähllauf, widmet sich mit großer Ruhe und Interesse am Detail diesem Ort, der Zuckerproduktion, dem Rübenhacken, Rohsaftverdampfen, den Kontrollanlagen und -räumen, die an ein vage futuristisches Hightech-Labor erinnern. Man möchte das alles sehr genau erzählen, weil der Film es sehr genau damit nimmt.

II Sie heißt Antigone und muss ihre Rolle durchhalten bis zum Schluss. Seit der Vorhang aufging, fühlt sie, dass sie sich von uns entfernt. Wir, die sie ruhig und sorglos anschauen und an diesem Abend nicht sterben müssen … Antigone ist das stille, magere Mädchen da drüben. Sie guckt ins Leere. Sie denkt, dass sie gleich Antigone sein wird.

Die ersten Worte, die im Film fallen, sprechen Jugendliche, sie sprechen sie nicht in die Kamera, aber in Großaufnahme und so an ihr vorbei, dass man unweigerlich an ihre Anwesenheit denkt. Der abgesetzte kleine Prolog eines Chores löst sich wenig später auf in die Szenerie einer Schulklasse, die ein Stück einübt. Es wird viel diskutiert in dieser Theatergruppe, über Internetpornos und über Tizians Venus von Urbino, über Geschlechterbilder und wo sie herkommen. Langsam beginnt eine Geschichte: die von Sara, einer Schülerin kurz vorm Abschluss und an der Schwelle zu einem anderen Leben. Sie probiert Haltungen aus in der Theaterklasse, quatscht mit ihrer besten Freundin, lässt sich von ihr Locken drehen, macht sich fertig zum Ausgehen. In den Bildern ihres Alltags, die der Film mit einer Art zärtlichen Distanz schildert, stellt sich die Ahnung einer Anziehung ein, die sie an ihre Lehrerin Karen bindet. Sie ist allein mit dieser unmöglichen Sehnsucht und es gibt für sie zunächst keine Sprache.

III Man kann all diese Elemente benennen und identifizieren: Landschaften (post-)industriellen Kleinstadtlebens, Räume adoleszenter Selbstentwürfe und unrealsierten Begehrens, Bilder davon, was es bedeutet, mit einem spezifischen Körper zu leben. Die nicht geringe Kunst von „Limbo“ (von Hartmanns Landsfrau Sofie Steenberger montiert) ist es aber, dass sich all das im Film verbindet, ansteckt und überlagert, bis auch die Bilder industrieller Herstellungsvorgänge eine eindringliche emotionale Wucht bekommen, die man nicht für möglich gehalten hat.

Foto: Peripher

IV Es wird noch etwas geschehen in diesem Film, ein spürbarer Eingriff in die Erzählung, zugleich lakonisch und gewaltsam, wie jugendliches Leben eben sein kann. Darüber hier zu sprechen ist schwierig, weil das, was geschieht, gesehen und erfahren werden will und nicht erzählt. Charakteristisch ist es jedenfalls für einen Film, der sich einerseits beschreiben lässt als die Geschichte einer jungen Frau in einer provinziellen Umgebung, die sich in ihre Lehrerin verliebt. Die ästhetischen Entscheidungen, die der Film in dieser Erzählung trifft, sind dabei aber stets doppelte: Sie folgen einem Realismus, den man getrost dokumentarisch nennen kann, und bedienen sich zugleich einer gezielten Künstlichkeit, die nicht theoretisch etwas behauptet, sondern einen vielschichtigen affektiven Raum erzeugt, der erfahrbar macht, was es heißen könnte, das Leben dieser jungen Frau zu leben, an diesem Ort, zu dieser Zeit. Präziser: der es notwendig macht, diesen Erfahrungsraum im Sehen ständig neu zusammenzusetzen.

Am Ende ist „Limbo“ vor allem auch das: einer dieser seltenen Filme, von denen man sich, wenn man sie erst einmal kennt, wünscht, dass man sie hätte sehen können, als man so alt war wie die Leute, die er zeigt. Es hätte was geholfen.

 



Limbo
von Anna Sofie Hartmann
DE/DK 2014, 80 Minuten, FSK 0,
dänische OF mit deutschen UT,
Peripher Filmverleih

 

↑ nach oben