Bizarre

Trailer • DVD / VoD

Wieviel Szene lässt die Gentrifizierung in trendigen Großstädten noch zu? Wohin zieht sie sich zurück? Der französische Filmemacher Étienne Faure hat als New-York-Stipendiat die Bar Bizarre entdeckt, die als Fortführung der legendären Manhattaner Beat-Kneipe aktuell in Brooklyn betrieben wird. Er inszeniert dort die jugendliche und hübsch anzuschauende Kunstfigur Maurice, die von der Straße in die bunte und anrüchige Nachtwelt purzelt und allen für kurze Zeit den Kopf verdreht. Im Panorama der diesjährigen Berlinale stellte man „Bizarre“ als „filmisch verzaubernde Trance“ vor.

Foto: Edition Salzgeber

Szenebar. Innen.

von Toby Ashraf

Ausgerechnet Brooklyn. Das Märchenhafte der Erzählung von „Bizarre“ drückt sich bereits im Schauplatz aus, den Maurice, Franzose, vielleicht auch Frankokanadier, aus dem Nichts und offensichtlich heimat- und arbeitslos, betritt. Er soll Englisch sprechen, weil es der Regisseur so will, hören wir ihn aus dem Off sagen. Ein Dokumentarfilm? Nein, eine falsche Fährte, die bis zum Ende nicht aufgelöst wird. Ein Märchen deshalb, weil es wohl nirgendwo auf der Welt in den letzten Jahren so schnell so schwierig geworden ist, bezahlbaren Wohnraum und realistische Überlebenschancen zu finden wie dort, wohin es Maurice plötzlich verschlägt. Zwischen Myrtle und Bushwick Avenue im Südosten New Yorks, wo die Luft immer mehr nach Gentrifizierung riecht, aber auch noch ein bisschen nach den Künstler_innen, die einst hierher zogen, liegt auf der kleinen Jefferson Street die Bar „Bushwick Bizarre“, die es nicht nur im Film, sondern auch im echten Leben gibt .

Betrieben wird sie, jedenfalls im Film, von Kim und Betty, einem ebenso umtriebigen wie undurchsichtigen Frauengespann, das – und hier geht das Märchen weiter – Maurice an einer U-Bahn-Haltestelle anspricht, um ihm nicht nur einen Job, sondern gleich auch noch ein Zimmer im selben Haus zu versprechen. Grund dafür ist wohl vor allem Maurices unschuldiges und unverbrauchtes Aussehen, seine jugendliche Aura aus Unsicherheit und Naivität. Maurice ist von der ersten Einstellung an sexuelle Projektionsfläche für die Home Videos der anderen, ein Dreamboy, in den sich nicht nur jede Filmfigur, sondern selbstverständlich auch die Kamera verliebt. In immer wiederkehrenden Schnittfolgen sehen wir Maurice in Rückenansicht durch die Straßen laufen, scheinbar ziellos, dabei aber immer erfolgreicher in seiner Entwicklung zum Dreh- und Angelpunkt des kleinen Kosmos, der ihn zufällig vereinnahmt hat. Betty und Kim sehen in Maurice scheinbar zunächst einen Schützling, der bei ihnen im Bett liegen, nicht aber mit ihnen schlafen soll, und wenig später betritt der androgyne Luka die Bildfläche, der sich in Maurice verliebt und eines Abends von der Bar mit in sein Zimmer kommt. Maurice selbst schleppt später seinen Boxpartner Charlie an, der sich sowohl von Luka, als auch von Kim und Betty verführen lässt. Während im oberen Teil des Hauses in der Jefferson Street also das Theater der Leidenschaften und Eifersüchte seinen Lauf nimmt, tobt im „Bushwick Bizarre“ nachts der Karneval der Körper. In einer Mischung aus Burlesque, Polit-Theater, Tanz-Performances, Rockmusik und Freak-Shows entfaltet sich für Maurice und das Publikum auf der Bühne eine vollkommen andere Welt der Zügellosigkeit. Hier kommt der Film wieder in der vorgefundenen (und dabei umso deutlicher inszenierten) Realität an und überführt dabei die erotischen, oft ekstatischen und manchmal verstörenden Darbietungen seiner Performer_innen zurück ins Märchenhafte. Wenn sich im Halbdunkel des Clubs zu später Stunde die dicken, behinderten, bemalten und kostümierten Körper den Zuschauenden offenbaren, ziehen sie damit vor allem Maurice in eine Zwischenwelt, die alle (Geschlechter-)Normen zu sprengen scheint.

Foto: Edition Salzgeber

Das „Bushwick Bizarre“ öffnete im Januar 2013 seine Pforten, nachdem das baufällige Haus ursprünglich von einem anderen Regisseur als Étienne Faure für ein Filmprojekt ins Auge gefasst wurde (Jean-Stéphane Sauvaire ist mittlerweile Besitzer der Bar und hat im Film einen Kurzauftritt). Was der Film uns zeigt, ist ein lange tot geglaubtes New Yorker Nachtleben, das an die Off-Szenen der 1960er erinnert und in seiner sexuellen Anarchie schmerzhaft vor Augen führt, welchen dramatischen Wandlungsprozessen die Stadt und ihre sexuellen Subkulturen in den letzten Jahrzehnten unterworfen waren. Wenn Maurice, dieser unwirklich wirkendende Gestrandete, am Ende des Films seine Reise fortsetzt, wissen wir zwar nicht mehr, wo die Grenzen zwischen Märchen und Wirklichkeit, Fantasie und Albtraum wirklich verlaufen sind. Wir werden aber im Wissen zurückgelassen, dass es Menschen und Filme gibt, die ihren Traum einer Enklave der Überlebenskünstler nach wie vor verteidigen, sogar in Brooklyn.




Bizarre
von Étienne Faure
FR/US 2015, 98 Minuten, FSK 16,
englische OF mit deutschen UT,
Edition Salzgeber

Hier auf DVD.

vimeo on demand

VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)


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